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Leben ohne Heimat

Wenn die mediale Aufmerksamkeit abflaut, stehen die Betroffenen von Kriegen, Krisen und Katastrophen schnell allein und ohne Unterstützung von Hilfsorganisationen da. Das müssen auch die Flüchtlinge im Südkaukasus erleben, die bereits seit mehr als 15 Jahren in Notunterkünften hausen und auf die Rückkehr in ihre Heimat warten.

Von Sarah Houtermans und Marcus Hansson | 02.02.2008
    Es ist kalt und feucht im Flur des ehemaligen Kinderkrankenhauses. Dort, wo eigentlich Lampen sein sollten, hängen wirre Stromkabel von der Decke. Die Farbe blättert von den Wänden ab, vorsichtig muss man über kaputte Treppenstufen steigen.

    Erst wenn man an eine der vielen Türen klopft und das Zimmer dahinter betritt, glaubt man, dass hier Menschen wohnen. Hier, bei Familie Minajeva, ist alles sauber und ordentlich. Zwei Betten füllen den Raum aus. Es ist kalt, denn in der Balkontür fehlt die Glasscheibe. Der Wind wirbelt die Gardinen wild herum.

    Das größte Problem ist jedoch, dass wir nicht genug zu essen haben, sagt die 67-jährige Gogola Minajeva. Das letzte Mal, dass sie Fleisch, Eier und Butter gegessen hätten, sei an Sylvester gewesen. Normalerweise gäbe es nur Brot und Tee.

    Gogolas Tochter, Cholbaja Minajeva, sieht müde aus, wie sie da auf dem Bett sitzt und von früher erzählt, vom Leben in Abchasien. Die Familie hatte dort ein bisschen Land mit zwei Häusern. Sie hatten Kühe und Hühner. Sie bauten Haselnüsse, Zitronen und Mais an, erzählt sie.

    Aber das war vor 15 Jahren, vor dem Krieg. Der winzige Landesteil Abchasien trennte sich von Georgien. Die Georgier, die dort auch lebten, sind vertrieben worden. Damals war Cholbaja 29 Jahre alt. Jetzt ist sie 44. Aber so, wie sie da auf dem Bett sitzt und Holz in den kleinen Ofen schiebt, könnte sie auch zehn Jahre älter sein. Sie sagt, sie fühle sich, als ob das Leben für sie vorbei sei.

    Heute leben rund 150.000 Flüchtlinge aus Abchasien in Georgien. Direkt nach dem Krieg, den Georgien verloren hat, wurden Notunterkünfte eingerichtet: wie hier in Krankenhäusern, in Schulen, verlassenen Hotels, Fabriken. Und genauso wohnen die Menschen noch heute. Die Regierung bezeichnet sie nicht als Flüchtlinge, denn offiziell ist Abchasien immer noch ein Teil Georgiens.

    In Tbilissi, der Hauptstadt Georgiens, treffen wir den Österreicher Stefan Maurer, der für eine dänische Hilfsorganisation arbeitet.

    "Wir müssen zwei Gruppen unterscheiden. Diejenigen, die in ’Collective Centers’ wohnen, wo die Situation sehr, sehr dramatisch ist. Es regnet durch das Dach, es gibt kein Klo, es gibt keine Arbeit, es ist kalt, besonders im Winter. Es gibt keine Heizung, kein Strom, kein Wasser, you name it you have it. Das sind sehr schwierige Bedingungen. Für die Familien, die sich eigene Wohnungen leisten können, sieht es besser aus. Sie haben einen gewissen Grad an Integration erreicht, sie gehen einfachen Berufen nach, sind Taxifahrer geworden oder ähnliches."

    Die Regierungen bemühen sich nicht um eine Integration der Flüchtlinge, sagt Stefan Maurer, sie befürchten, dadurch indirekt den Verlust der Territorien anzuerkennen.

    "Die Zahl, wie viele vertrieben worden sind, ist unklar. Man spricht von 130.000, aber es gibt auch Statements von über 200.000. Niemand zählt sie und niemand darf sie zählen und niemand will sie zählen, weil es sehr politisch ist. Welche Zahl du produzierst, wird sofort von jeder Seite bestritten werden."

    Und die Kapazitäten der Hilfsorganisationen reichen bei weitem nicht aus. Sich um die Flüchtlinge zu kümmern, ist zunächst einmal Aufgabe der Staaten selbst, meint Stefan Maurer.

    "Deswegen würde ich sagen, es ist erst einmal eine Verantwortung Georgiens. Die Verantwortung, sich um die eigenen Leute zu kümmern, wird zum Teil auch wahrgenommen. Es kommt aber auch dazu, dass es ein vergessener Konflikt ist. Es ist 13 Jahre her. Wer redet schon groß über die IDP in Georgien. Das ist kein Thema in den Nachrichten."

    Anfang der neunziger Jahre ist der Südkaukasus in Chaos geraten. In den früheren Sowjetrepubliken Georgien, Armenien und Aserbaidschan erklärten kleine Gebiete ihre Unabhängigkeit. Laut dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, dem UNHCR, gibt es in der Region fast eine Millionen Flüchtlinge. Sie warten noch immer darauf, in ihre Heimat zurückzukehren. Aber das können sie nicht, weil die Konflikte, vor denen sie geflohen sind, immer noch ungelöst sind.

    Wir reisen weiter ans andere Ende des Kaukasus, nach Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan, gelegen am tiefblauen Kaspischen Meer. Hier wohnt Hayyam.

    "Karabach ist in unserem Herzen. Meine Eltern sind dort begraben, für uns bedeutet Karabach alles. Wenn der Krieg wieder ausbricht, will ich mein Land von den Armeniern zurückerobern,"

    sagt der 31-jährige Hayyam, der als Jugendlicher vor dem Krieg in Bergkarabach geflohen ist. Wie Abchasien wollte auch Bergkarabach ein selbständiger Staat werden. Die Aserbaidschaner mussten gehen. Viele von ihnen leben heute wie Hayyam in Baku.

    Hayyam arbeitet als Wachmann in einer Schule und baut gerade ein Haus für sich und seine Frau. Er hat Glück gehabt. Viele andere nicht.

    ""Die Flüchtlinge leben hier wie Tiere. Ich kann euch zeigen, wie es ihnen geht, wir können gleich jetzt dahin gehen","

    sagt Hayyam. Gegenüber von der Schule, wo Hayyam arbeitet, befindet sich eine stillgelegte Fabrik. Wir klettern durch ein Loch im Zaun. Unter einem riesigen Betonspeicher haben sich Flüchtlingsfamilien kleine Hütten gebaut. Wir klopfen an eine Tür.

    Wir treffen ähnlich wie in Georgien auf ärmliche Zimmer, eingerichtet mit zusammengesuchten Möbelstücken und kleinen Öfen, die die Kälte nicht vertreiben können.

    ""Wir kriegen vom Staat zehn Dollar im Monat, das reicht nicht einmal fürs Essen","

    sagt Julustan, eine alte Frau, die auf dem Boden des einzigen Zimmers hockt und Brot backt. Besonders viel Unterstützung von den Hilfsorganisationen erhalten sie auch nicht. Die sind weitergezogen. Andere humanitäre Katastrophen ziehen mehr Aufmerksamkeit auf sich, wie Darfur oder Afghanistan. Und die ständigen "Assessments" und "Evaluations" der Organisationen, die Fragebögen, in denen die Flüchtlinge immer wieder über ihre Situation berichten müssen, führen zu keiner Veränderung.

    ""15 Jahre lang haben die uns gesagt, dass wir zurückkehren können, aber nichts ist passiert","

    sagt Hayyam.