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Leben, Tod und Menschenwürde

Es scheint, als hätten die Geisteswissenschaften allmählich das Stimmungstief der letzten Jahrzehnte überwunden. Die Anziehungskraft dieser Fächer, die früher ihre Existenzberechtigung begründen mussten, wächst und wächst. Welches sind die Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften im 21. Jahrhundert? Die Volkswagenstiftung lud zu einer Veranstaltung ein, auf der die Perspektiven aufgezeigt werden sollten.

Von Barbara Leitner | 15.01.2009
    "Wir sind erstmal ausgegangen von der Beobachtung, dass Entwicklungszusammenarbeit schlecht funktioniert - und das die Rolle von Sprache in Entwicklungsprozessen völlig unterbelichtet ist."

    Rose Marie Beck vom Institut für Afrikanische Sprachwissenschaften der Universität Frankfurt am Main. Unter der Überschrift "Sprache, Geschlecht und Nachhaltigkeit" beschäftigte sie sich mit einem Schlüsselthema aus dem Bereich Kultur. Darin ging es um Lebensformen, Überlieferungen und Darstellung.

    "Zum Beispiel kann man sich vorstellen, wenn man irgendwo hingeht in Afrika oder Indonesien und Vitamine einführen will, da muss man sich fragen, wird es gegessen, wird es getrunken, wird es gekaut, wird es geschlürft, mit dem Löffel, aus der Schüssel. Wenn man diese ganzen Hintergründe nicht berücksichtigt oder wenn die Leute es da nicht integrieren können, geht das Wissen verloren."

    Neues Wissen integrieren Menschen in Afrika und Asien nur über ihre indigenen Sprachen, entdeckten die Wissenschaftler bei ihrer Feldforschung. Zum Abschluss eines Entwicklungshilfeprojektes beispielsweise - so will es die westliche Kultur - ist ein Finanzbericht gefordert. In der Kultur eines untersuchten Stammes in Namibia aber werden Tatsachen erst durch das öffentlich ausgesprochene Wort gültig und abgesichert.

    Das heißt, in der Entwicklungshilfe genügt es nicht, die Menschen zu schulen, einen Finanzbericht zu schreiben. Die westliche Norm muss sich mit der Sprache und Kultur des Volkes verbinden. Dadurch wird nicht das Voranschreiten gebremst, wie es Entwicklungshelfern scheinen mag. Es ist die Voraussetzung für Nachhaltigkeit. Denn in dem Spiel zwischen kultureller Norm und Sanktion vollziehen sich auch Veränderungsprozesse. Das belegt die Soziolinguistin Rose Marie Beck am Verhältnis zwischen Männern und Frauen beim Brunnenbau bei dem namibischen Hirtenvolk der Herero.

    "Eigentlich bei den Hereo ist es so, dass eine verheiratete Frau nicht spricht. Sie hat keine Rederechte in der Öffentlichkeit. Jetzt ist sie aber Vorsitzende eines Wasserkomitees. Was macht sie jetzt. Sie muss zwischen ihrer Funktion, wo sie öffentlich reden muss, und ihrer Funktion als verheiratete Frau, wo sie öffentlich nicht reden darf, die muss sie miteinander verbinden. Und das wird ausgehandelt und kommentiert."

    Nach gut fünf Jahren Forschertätigkeit von Linguisten, Ethnologen, Entwicklungssoziologen und Agraringenieuren identifizierten die Wissenschaftler ein riesiges Feld für weitere Untersuchungen von Kommunikationsprozesse bei landwirtschaftlichen Entwicklungsprojekten. Ein Themengebiet, das nun viel tiefgründiger erforscht werden könnte und an Universitäten oder Forschungseinrichtungen etabliert werden müsste.

    Gerade darin liegt der besondere Wert der von der Volkswagen Stiftung aufgelegten Förderinitiative "Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften". Sie ermöglicht den Wissenschaftlern, Zukunftsthemen zunächst aufzuspüren, zu beschnuppern und auszuloten - und sich dabei den Vertretern von Wissenschaftler anderer Disziplinen zu nähern. So auch bei den neuen Projekten. Unter dem Schlagwort "Grundbegriffe und Pathosformeln der Geisteswissenschaften" wird sich ein Team um den Philosophen Michael Pauen von der "Berlin School of Mind and Brain" an der
    Humboldt-Universität mit dem Begriff Autonomie beschäftigen - durchaus eine Frage von gesellschaftlicher Relevanz.

    "Auf der einen Seite spielt Autonomie und vielleicht sogar der Zwang zur Autonomie in unserer Gesellschaft eine immer größere Rolle. Denken sie an die Reform der Sozialsysteme. Auf der anderen Seite haben wir wissenschaftliche Erkenntnisse, die infrage stellen, ob es die Fähigkeit zum autonomen Handeln, die es ja voraussetzt, ob es die überhaupt gibt. Was wir zu erforschen versuchen, ist, welche Grenzen, welche Möglichkeiten von individuell autonomen Verhalten haben wir und unter welchen Bedingungen entwickelt sich das. Aber auch: Unter welchen Bedingungen wird es eingeschränkt."

    In ihrem Projekt beziehen die Wissenschafter den Begriff Autonomie nicht nur auf eine einzelne Handlung. Vielmehr sehen sie ihn als eine Fähigkeit der Persönlichkeit als ganzes. Autonom ist für sie ein Mensch, der auch gegen Widerstände an eigenen Überzeugungen und Wünschen festhält.

    "Und dann haben wir überlegt, wie kann eine sinnvolle Kooperation zwischen Psychologen, Philosophen, Neurowissenschaftlern aussehen. Entscheidender Punkt da war halt, wir versuchen erstmal, mit sozialpsychologischen Untersuchungsverfahren etwas ganz allgemeines über diese Fähigkeit herauszubekommen, und dann, wenn wir Leute haben, die die im besonderem starken oder in besonderem schwachen Maße ausgebildet haben - dann neurobiologisch zu untersuchen, wo die Unterschiede bestehen."

    Längst ist bekannt, dass theoretisches Wissen nicht ausreicht, um beispielsweise nicht mehr zu rauchen. Bekannt ist auch, dass Menschen unter Gruppendruck ihre Meinung ändern. Doch welche Persönlichkeitsmerkmal dabei eine Rolle spielen, welche emotionalen Mechanismen ablaufen, wenn eine unumstrittene Überzeugung aufgeben wird, und unter welchen Bedingungen das passiert, werden die Wissenschaftler interdisziplinär beleuchten.

    "Wenn man diese notwendigen Bedingungen hat, wenn man diese ganz basalen Mechanismen hat, kann man vermutlich auch begründete Schlüsse daraus ziehen, wie Personen im Stande sind, dass jetzt weiter auszubauen. Also, wenn man einigermaßen weiß, unter welchen Bedingungen Personen wirklich dabeibleiben, nach ihren eigenen Überzeugungen zu handeln, selbst wenn es äußeren Druck gibt, dann kennt man vermutlich auch einige Bedingungen dafür, warum Personen an gut begründeten Prinzipien festhalten die eben ihre Verantwortung für einen größeren Teil der Gesellschaft betreffen."

    Neben Autonomie werden auch die Begriffe Anerkennung, Wille, Wissen und Können an der Schnittstelle von Geistes- und Naturwissenschaften betrachtet. Darüber hinaus führen weitere Projekte den direkten Dialog mit den Naturwissenschaften. Wie beeinflussen die Gefühle das Denken eines Menschen, fragt ein Team. Ein anderes erkundet, wie Gesten eingesetzt werden, und ob es zwischen Menschen und Tieren eine vergleichbare Grammatik der Gesten gibt.

    Ein drittes Team untersucht an der Universität Heidelberg das Gehirn als Beziehungsorgan. Pädiater, Psychiater, Entwicklungspsychologen und Philosophen wollen gemeinsam herausfinden, wie im ersten Lebensjahr eines Kindes die kognitive Entwicklung an die emotionalen Beziehungen gebunden ist. Der Mediziner und Philosoph Thomas Fuchs.

    "Wir können das insbesondere zeigen, dass bestimmte Störungen in der sozialen Interaktion, wie sie insbesondere bei postpartalen Depressionen auftreten, Erkrankungen, bei den Mütter nicht in der gleichen Weise in der Lage sind, sensitiv und feinfühlig auf ihre Kinder einzugehen, dass solche Erkrankungen nicht nur die emotionale Entwicklung des Kindes stören und verzögern und auch die kognitive Entwicklung im weiteren Verlauf. Und das sind die Zusammenhänge, die uns in dem Projekt besonders interessieren."