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Leben, um zu umarmen

Rund 30 Millionen Menschen soll sie schon umarmt haben: Die 59 Jahre alte Inderin Mata Amritanandamayi, genannt "Amma", ist die bekannteste spirituelle Lehrerin der gefühlsbetonten Bhakti-Bewegung im Hinduismus. Zu ihren Anhängern zählen auch Muslime, Christen oder Sikhs.

Von Margarete Blümel | 11.01.2013
    Schon seit mehr als einer Stunde sind die Sitzplätze in der Sporthalle der "Sydney Boys High School" allesamt besetzt. Auch Stehplätze sind kaum noch zu bekommen. Und doch strömen nach wie vor weitere Besucher in das Innere der Halle, die für die Dauer von drei Tagen der Begegnung mit Indiens bekanntester Heiligen, mit Amma, vorbehalten ist.

    Auf dem Podest am Ende der Halle haben sich die Mitglieder eines fünfköpfigen Musikensembles versammelt. Bereits seit Anbruch der Dämmerung tragen sie in einem fort Bhajans, religiöse Lieder, dar.

    Gleich unterhalb der Tribüne sitzt eine ältere, kräftig gebaute Frau im weißen Sari auf einer Art Thron. Amma, die "Mutter", wird zu beiden Seiten von einigen auserwählten Anhängern flankiert. Vor ihr kniet eine vielleicht 60-jährige Dame im eleganten Hosenanzug. Die beiden Frauen schauen einander kurz in die Augen. Ammas Helfer nennen der "Mutter" den Namen und die Nationalität ihres Gegenübers. Amma schließt ihre Besucherin in die Arme und flüstert ihr etwas ins Ohr.

    "Seit fast 40 Jahren segnet Amma ihre Anhänger auf diese Weise. Man schätzt, dass sie mittlerweile 30 bis 31 Millionen Menschen umarmt hat."

    Sagt Swami Ramakrishna. Der hinduistische Gelehrte begleitet Amma seit knapp 34 Jahren um die Welt.

    "Auch bei unseren Veranstaltungen in Indien handelt es sich im Massen-Events. Manchmal haben wir 200.000 bis 300.000 Leute vor Ort. Und Amma umarmt all diese Menschen, sagt ihnen einen Satz oder einen Namen ins Ohr und hört erst auf, wenn alle an der Reihe gewesen sind. Einmal war ich zugegen, als sie 28 Stunden lang ohne jedwede Pause ihre Umarmungen verteilt hat. Als wir darüber sprachen, sagte sie nur: Ich wünsche mir nichts als den Menschen bis zu meinem letzten Atemzug Umarmungen zu schenken und Trost spenden zu können."

    Diesen Umarmungen, denen die Menschen hier in Sydney mit Freude entgegensehen, geht meist eine stundenlange Wartezeit voraus. Jeder hat eine Art Coupon mit einer Nummer bei sich und rückt auf den im Mittelgang bereitgestellten Stühlen immer weiter nach vorn. Auf den letzten Metern bewegen sich die Besucher auf den Knien zu Amma vor.

    Unter den vielen tausend Anhängern, die in der "Sydney Boys High School" zusammengekommen sind, finden sich Menschen aller Altersklassen, Schichten und Religionsgemeinschaften. Junge Musliminnen mit Kopftuch sind ebenso vertreten wie Inderinnen im Sari, Sikhs mit oder ohne Turban, Alt-Hippies mit grauem Zopf und bunten Käppchen, Damen im chicen Kostüm, über und über tätowierte Jeansträger und Männer im Anzug.

    "Ich bin Amma zum ersten Mal vor 15 Jahren begegnet. Ich mag in diesem Zusammenhang Begriffe wie Hingabe und Ergebenheit nicht so sehr, weil sie implizieren, dass man dem anderen blindlings folgt. Aber was ich sagen kann, ist: In ihrer Gegenwart bin ich glücklich. Alles ist so, wie es sein sollte."

    "Es lässt sich nicht beschreiben. In meinen Augen ist Amma vollkommen. Sie ist erleuchtet und von unendlichem Mitleid. Was soll ich sagen? Ich bin wunschlos glücklich."

    Die oft als größte lebende Heilige bezeichnete 59-Jährige ist während der Begegnungen mit ihren Besuchern stets von einem großen Stab von Anhängern umgeben. Ammas Helfer verrichten ihre Aufgaben umsonst. Der Bühnenaufbau, die Verköstigung aller Beteiligten, die Organisation, die Darbietung der religiösen Lieder - all das wird als Seva, als freiwilliger Dienst betrachtet, der dabei hilft, schlechtes Karma zu verringern und das spirituelle Wachstum des Einzelnen zu befördern.

    Swami Ramakrishna etwa hilft unter anderem beim Entwurf der Zeitpläne mit, die sicherstellen sollen, dass wirkliche alle, die gekommen sind, eine Umarmung erhalten. Außerdem müssen Ammas Vorträge in das Ganze eingearbeitet werden. Sie werden jeweils für den Abend angesetzt und bestehen aus plastisch geschilderten Geschichten und Gleichnissen, die es den Anwesenden erleichtern sollen, ihren Alltag zu bewältigen. Liebe und Mitgefühl spielen in den Ausführungen Ammas eine große Rolle - Kerngedanken, denen auch ihr großes Engagement im karitativen Bereich entspricht.

    "Embracing The World - Die Welt umarmen" heißt das von der "Mutter" ins Leben gerufene Sozialprogramm. Es umfasst Einrichtungen, die Frauen beim Erwerb eines eigenen Einkommens unterstützen, Gesundheitsprojekte, Slumrenovierungen, Schulen und Waisenhäuser.

    "Gott gibt uns alles, was wir benötigen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Wenn man Gott aber doch einen Dienst erweisen möchte, dann nur diesen: Liebe deinen Nächsten, hilf ihm, zeige ihm dein Mitgefühl. Das ist Ammas Maxime, die sie bis heute in die Tat umsetzt."

    Die aus einfachen Verhältnissen stammende Südinderin verspürte bereits in jungen Jahren immer wieder das Bedürfnis, anderen helfen zu wollen. In diesem Zusammenhang begann die damals 14-Jährige auch damit, Trostsuchende zu umarmen. Die Eltern versuchten das Mädchen, das entgegen allen Gepflogenheiten Frauen und Männer jeden Alters und jedweder Kaste in den Arm zu nehmen, zu verheiraten. Doch ihre Tochter widersetzte sich.

    "Amma kam aus einem entlegenen Dorf und aus sehr traditionellen Lebensumständen. In einem solchen Umfeld genießen Frauen kaum Freiheiten. Nicht nur ihre Eltern, auch die anderen Dorfbewohner, hatten keinerlei Verständnis für das Verhalten des jungen Mädchens. Wie konnte sie Menschen aller Kasten, sogar Unberührbare und dann Männer einfach in den Arm nehmen? Die Leute waren entsetzt. Aber sie vermochten sie nicht aufzuhalten. Anhänger scharten sich um sie, bis Amma 1981 schließlich eine spirituell und karitativ orientierte Organisation gründete. Heute, mehr als 30 Jahre später, kommen sogar Christen zu ihr, um ihren Segen zu empfangen. Die Welt hat sich geändert."

    Die von Amma praktizierte Spiritualität birgt bekannte Elemente aus dem Bereich der hinduistischen Religiosität. Der Pfad, den die "Mutter" und ihre Anhänger beschreiten, orientiert sich unter anderem am Karma-Yoga. Dieser "Weg der Tat" erklärt alle Unternehmungen zu selbstlosen Handlungen, die als Opfer an Gott verstanden werden. Die im hinduistischen Epos Bhagavadgita plastisch dargestellte Absage ans Ich erwartet vom Handelnden, dass er sein Tun nicht an Erfolg oder Misserfolg festmacht. Er soll arbeiten um der Arbeit willen, dienen um des Dienens willen.

    Außer diesem "Weg der Tat" ist Bhakti im Wirken Ammas von Bedeutung. Die liebevolle Hingabe an Gott oder an einen Guru kann vielerlei Gestalt annehmen. Sie kann das Singen religiöser Lieder beinhalten oder auch die Teilnahme an einer Puja, einer hinduistischen Zeremonie. Bhakti kann sich aber auch in der Teilnahme an einer Pilgerfahrt äußern oder im Intonieren göttlicher Namen. Was Bhakti bei alldem besonders macht, ist die starke emotionale Beziehung zwischen Mensch und Gott oder auch zwischen Mensch und Heiligem.

    Ein anderer und ebenfalls im Hinduismus wurzelnder Aspekt ist Ammas Verkörperung der Hindu-Göttin Devi. Beim abendlichen Zusammentreffen mit ihren Anhängern trägt die Heilige die Krone dieser Hindu-Gottheit, die als Schöpferin des Kosmos und als universelle Mutter gilt.
    Und doch, sagt Swami Ramakrishna, trotz dieser eindeutigen Bezüge zum Hinduismus betone Amma stets, dass ihre Botschaft religionsübergreifend sei.

    "Sie sagt: Wenn du Christ bist, entwickle dich zum rechten Christen. Bist du Muslim, so verfolge entsprechend den Islam. Amma macht sich keine Gedanken um Religion im herkömmlichen Sinn. Sie spricht nur über die Liebe, die in jedem ist - über die Liebe und über das Mitgefühl. Das ist ihre Religion."