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Lebendiges musikalisches Erbe

Chiquitania heißt eine Region im östlichen Tiefland Boliviens. Es gibt dort keine spektakulären Naturschönheiten, dafür aber einen architektonischen und musikalischen Schatz, der lange Zeit im Verborgenen lag: das Erbe der Jesuiten.

Von Victoria Eglau |
    Santa Ana, ein Dreihundert-Seelen-Dorf in der ostbolivianischen Region Chiquitania. Bedächtig steigt Luís Rochas die Außentreppe an einer Seite der hölzernen Barockkirche hinauf. Rochas ist der Sakristan und Kirchenmusiker von Santa Ana, alle nennen ihn nur Don Luís. Durch eine schmale Tür tritt der Sechzigjährige mit dem dichten, grauen Haarschopf in den kleinen Chorraum. Stolz zeigt er auf eine verwitterte Holzkiste neben der Orgel.

    "Darin lagen die Musik-Partituren. Unsere Ältesten waren dafür zuständig, sie aufzubewahren."

    Luís Rochas spricht von 1.500 Notenblättern aus der Jesuiten-Zeit, die der Ältestenrat des indianischen Dorfes, der Cabildo, zwei Jahrhunderte lang wie einen Schatz hütete. Santa Ana ist eine der Missionen, die die Jesuiten im siebzehnten Jahrhundert in der Chiquitania gründeten. Knapp achtzig Jahre, bis zu seiner Ausweisung 1767, bekehrte der Orden die indianische Bevölkerung in den spanischen Kolonien zum katholischen Glauben - mit Hilfe der Barockmusik. Der polnische Musikwissenschaftler und Geistliche Piotr Nawrot erforscht in der Chiquitania das Erbe der Jesuiten:

    "Die Missionare waren überzeugt, dass sie den Ureinwohnern das Evangelium verkünden mussten. Aber die indianische Bevölkerung hatte ihren eigenen Glauben und ihre Musik. Zunächst hatten die Jesuiten mit ihren Bemühungen daher wenig Erfolg. Aber dann merkten sie, dass, wenn sie sangen und musizierten, die Indios Vertrauen fassten. Also verkleideten sie die Religion mit dem Mäntelchen der Musik. Den musikalisch begabten Indios gefiel das, und sie begannen, diese Musik selber zu singen und zu spielen."

    Die Jesuiten brachten Werke europäischer Barock-Komponisten in die Missionen und komponierten auch eigene Musik. Ebenso hätten indigene Komponisten geistliche und barocke Musik verfasst, vermutet Piotr Nawrot. Als der Schweizer Architekt Hans Roth in den 1970er und 80er Jahren die Kirchen der Chiquitania restaurierte - darunter die von Santa Ana und San Rafael - fand er mehr als fünftausend vergilbte und insektenzer-fressene Notenblätter: die Musik der Missionen.

    Die kleine Kirche von Santa Ana steht an einem grasbewachsenen Platz mit blühenden Bäumen. Sie hat, wie alle Gotteshäuser der Gegend, ein tief heruntergezogenes Dach, das von hölzernen Säulen getragen wird. Die Fassade ist in Erdtönen bemalt. Drinnen, in dem mit Schnitzereien üppig verzierten Kirchenraum, probt das örtliche Orchester eine Sonate aus dem Musikarchiv der Chiquitania, das die inzwischen restaurierten Partituren beherbergt.

    <im_65139>ACHTUNG: Nur einmalig für Sonntagsspaziergang zu verwenden</im_65139>Dem Orchester von Santa Ana gehören dreißig Kinder und Jugendliche zwischen sechs und neunzehn Jahren an. In den letzten drei Jahrzehnten sind in der Chiquitania vielerorts Musikschulen entstanden, in denen das Erbe aus den Missionen wieder mit Leben erfüllt wird - so auch in Santa Ana. Vanessa Suarez, die örtliche Kultur-Koordinatorin, eine junge Frau mit strahlendem Lächeln:

    "Im Dorf leben neunzig Familien, und aus fast jeder Familie geht ein Kind in die Musikschule, in manchen Fällen sogar drei Kinder. Der Musikunterricht ist das einzige Freizeitangebot außerhalb der Schule. Die Jugendlichen üben viele Stunden lang, oft schon von sechs bis acht Uhr morgens. Die Musik spielt eine sehr große Rolle im Dorf. Ich glaube, dahinter steckt wirkliche Leidenschaft und Berufung. "

    "Es macht uns stolz, die Musik zu spielen, die hier in unserer Heimat Chiquitania komponiert wurde. Wir lesen und berühren die Partituren mit Respekt, und mit sehr viel Gefühl."

    Sagt Eduardo Martinez, einer der Violinlehrer in Santa Ana, ein kleiner Mann mit tiefschwarzem, kurz geschnittenem Haar. Der 24-jährige Bolivianer hat die Musik zu seinem Beruf gemacht - eine Chance auch für andere junge Bewohner der ländlichen und schwach entwickelten Chiquitania, wo Ausbildungsmöglichkeiten und Jobs fehlen. Die waldige Region mit ihren Straßen aus rotem Staub lebt vor allem von der Vieh- und Forstwirtschaft, seit einigen Jahren entwickelt sich zögerlich der Tourismus. Jesús Rivera, Fremdenführer im Dorf San Ignacio:

    "Unsere Musik, unsere Tänze, unsere wunderschönen, einzigartigen Holzkirchen und Altäre sind bis heute erhalten. Warum hat die UNESCO die einstigen Jesuiten-Missionen der Chiquitania zum Weltkulturerbe ernannt? Weil es lebendige Dörfer und Kirchengemeinden sind, weil wir Chiquitanos eine lebendige Ethnie sind, mit einer eigenen Sprache, Traditionen und Gebräuchen. "

    Die bolivianische Region Chiquitania wird auch Chiquitos genannt, das bedeutet so viel wie: die Kleinen. Der kuriose Name beruht auf dem Irrtum eines spanischen Eroberers, den es Mitte des sechzehnten Jahrhunderts in die Gegend verschlug - erklärt Jesús Rivera:

    "Der Conquistador Domingo Martinez de Irala suchte hier vergeblich nach der verlorenen Inka-Stadt Paititi. Stattdessen fand er Hütten aus Palmenblättern, in denen die Indios vor Hitze und Regen, Mücken und Nachtfaltern Zuflucht suchten. Diese Hütten hatten sehr niedrige Türen, durch die man auf allen Vieren kroch. Aber der Eroberer schloss daraus, dass die hiesigen Indios besonders klein waren, und nannte die Gegend Chiquitos. Und wir Bewohner heißen bis heute Chiquitanos. "

    Die Chiquitania ist längst nicht so bekannt wie der Titicaca-See oder die Uyuni-Salzwüste - Boliviens Haupt-Touristenattraktionen. Aber immer mehr Kulturinteressierte besuchen die Region. Alle zwei Jahre findet in den Missionskirchen ein Barockmusikfestival mit lokalen und ausländischen Orchestern statt.

    Zurück im Chorraum der Kirche von Santa Ana. Der Kirchenmusiker Luís Rochas hat seine Violine aus dem Kasten genommen. Erst vor zwanzig Jahren, als er schon vierzig war, brachte sich Don Luís das Geigenspiel bei - ohne Noten zu lesen und ohne Lehrer.

    "Ich wollte schon immer spielen, aber hatte kein Instrument. Manchmal bat ich die Ältesten um ihre Geige, aber sie liehen sie mir immer nur für kurze Zeit. Ich träumte davon, Violine zu lernen, bis ich schließlich ein Instrument ergatterte. Ich habe mich abgemüht. Langsam wurde ich besser, irgendwann hatte ich es raus. Alles nur nach dem Gehör. "

    Inzwischen ist Don Luís selbst Mitglied des indianischen Ältestenrates von Santa Ana, und erfüllt die von den Jesuiten geerbte Aufgabe, Gott zu Ehren zu musizieren.

    "Dieses Loblied wird in unserer Sprache Chiquitano gesungen. Es ist von Generation zu Generation überliefert worden. Das Lied wird zu Ostern angestimmt, in allen Missionskirchen der Chiquitania Aber jedes Dorf hat seinen eigenen Klang. "

    Die Musik der Missionen überlebte in der Chiquitania trotz widriger Bedingungen. Als der Jesuiten-Orden 1767 Lateinamerika verlassen musste, begann für die Missionsbewohner eine Zeit der Schutzlosigkeit und Versklavung durch die spanischen Kolonialherren. Viele Indios flohen in die Wälder. In Santa Ana aber brachten sie die Aufgabe zuende, die die Jesuiten begonnen hatten. Fremdenführer Jesús Rivera:

    "In Santa Ana gab es keinen Geistlichen mehr. Aber die indianischen Bewohner der Mission blieben und bauten ihre Kirche. Sie bauten sie allein! Die Früchte der Evangelisierungs-Arbeit der Jesuiten zeigten sich in Santa Ana."