Montagnachmittag gegen halb fünf; es ist feucht und kühl. Die Fußgängerzone in Middlesbrough, zum Wochenende sehr belebt, wirkt ausgestorben; die meisten Läden hier schließen bereits in einer Stunde. Der Straßensänger, ein ungefähr Fünfzigjähriger mit Akustikgitarre, versucht ein letztes Mal, mit melancholischen Songs den Umherhastenden ein paar Penny zu entlocken.
Doch heute will sich auf den Straßen Middlesbroughs niemand lange aufhalten, denn über dem Zentrum liegt ein stechender, leicht süßlicher Geruch, der von den von den Chemie-Werken unweit der Stadt herüber weht. Das passiert glücklicherweise nur selten, meistens steht der Wind andersherum – zu sehen sind die Fabriken allerdings von vielen Stellen der Stadt. Kate Brindley leitet das MIMA, das Middlesbrough Institut of Modern Art; sie kennt die Reaktionen Auswärtiger auf diesen Anblick.
"Besucher, die nach Middlesbrough kommen, sind von der präsenten Industrie oft schockiert, zum Beispiel von den großen Chemie-Werken, die immer noch in Betrieb sind. Gott sei Dank, kann man nur sagen, denn sie sind ein wichtiger Arbeitgeber für die Region. Leute aus anderen Gegenden des Landes kommen und sagen, oh my Godness, ist das schrecklich, ihr lebt direkt neben der Industrie! Aber die Leute hier haben einen anderen Blick darauf, denn wenn diese Fabriken nicht wären, gäbe es das alles hier nicht. Die Industrie ist wie eine Lebensader, ein Teil der Stadt und ihrer Geschichte."
Middlesbrough hat ganz verschiedene Seiten und sie liegen alle nah beieinander. Seit dem Niedergang der Schwerindustrie gibt es in der Stadt viel Arbeitslosigkeit. Ältere Männer, die in der Fußgängerzone schon vormittags ihr erstes Ale trinken. Familien, denen das Geld für die Bildung ihrer Kinder fehlt. Beim Gang durch die Straßen passiert man schäbige Anwaltskanzleien, Dönerbuden und verrammelte Fassaden. Doch Middlesbroughs’ ambitionierte Stadtverwaltung setzt auf den Ausbau digitaler Technologien, Bildung und Kunst. Nur ein paar Schritte weiter befindet sich die große, moderne Teesside-Universität mit vielen, auch internationalen Studenten, die eine quirlige Atmosphäre verbreiten. Daneben sticht der große, repräsentative Glasbau des MIMA, des Middlesbrough Institute of Modern Art ins Auge sowie einige auffällige Kunstwerke, wie die ‘Bottle of Notes’, eine überlebensgroße, schräg aufragende Flasche aus verschlungenen Metallstreben. Sie ist eine Reminiszenz an den britischen Seefahrer und Entdecker James Cook. Der wurde an der Küste Yorkshires geboren und war genauso risiko- und entdeckerfreudig wie die späteren Pioniere der Stahlmanufakturen.
"Im ausgehenden 19. Jahrhundert begann hier die Industrialisierung. Damals veränderte sich die Landschaft sehr stark. Bevor man Eisen entdeckte, gab es hier gar nichts - totale Provinz, ein paar Dörfer. Dann fand man Eisen, begann, daraus Stahl zu machen und realisierte, dass man damit viel Geld verdienen kann. Zu ihrer Zeit machten die Arbeiter aus Middlesbrough den besten Stahl der Welt und exportierten ihn überallhin. Die Hafenbrücke in Sidney und viele andere Dinge wurden daraus gefertigt. In dieser relativ kurzen Periode der Stadtgeschichte war Middlesbrough ein ungemein erfolgreicher Ort. Natürlich brauchte man dafür Arbeiter, also holte man Leute hier her. Im Grunde ist die gesamte Bevölkerung im ausgehenden 19. Jahrhundert eingewandert. Und so wurde Middlesbrough zu einem echten Melting Pot der Kulturen: Iren, Schotten, die Leute kamen von überall her."
Der sich noch im Aufbau befindliche Stadtteil Middlehaven liegt an den Ufern des Tees, zwischen dem riesigen Riverside Fußballstadion, der alles überragenden, 100 Jahre alten Transporterbrücke aus dem 19. Jahrhundert und der A66, einer viel befahrenen Schnellstraße. Hier befindet sich das berühmteste Kunstwerk der Stadt. ‘Temenos’, griechisch für ‘Heiligtum’ schwebt seit 2010 an den Ufern des Tees. Mit seinen beiden riesigen, hängenden Ringen, die über 110 Meter Distanz durch ein Stahlnetz verbunden sind, soll es eine Fischreuse darstellen, erinnert naive Kontinentaleuropäer aber eher an ein gigantisches Schmetterlingsnetz. Entworfen hat das luftig wirkende Gebilde der britisch-indische Künstler Anish Kapoor. Durch Material und Größe soll das Kunstwerk mit der Ausdehnung und Vergangenheit der postindustriellen Landschaft des Tees Valleys korrespondieren. Für Annie O´Donell, bildende Künstlerin und Galeristin in Middlesbrough, passt ‘Temenos’ hervorragend zu dieser Gegend.
"Temenos wurde in der Regionalzeitung als das ‘größte Kunstwerk der Welt’ vorgestellt. So lautete die Schlagzeile. Ich muss zugeben, dass die Menschen aus Teesside so etwas anspricht, schlichtweg deswegen, weil wir hier in diesen großen Dimensionen leben. Das Überdimensionierte ist aus unserer Sicht nicht unbedingt etwas Negatives. Wenn man es von Außen betrachtet, kann man es auch als groß und geschmacklos oder infantil und naiv empfinden. Und vielleicht ist es das auch. Aber ich spiele gerne mit dem Gedanken, dass es das stimmigste Bild ist, das Middlesbrough von sich selbst hat. Eben weil das hier ein Ort ist, an dem das Monumentale Relevanz besitzt."
Davon kann man sich überzeugen, sobald man Middlesbrough Richtung Küste verlässt. Bis Saltburn by the Sea – einst Fischer- und Schmugglerdorf mit nur wenigen Häusern, heute kleines, feines, viktorianisches Städtchen – braucht der Bummelzug eine halbe Stunde. Es geht vorbei an riesigen Industrieanlagen, deren rauchende Schlote und züngelnde Flammen gefährlichen Metallmonstern gleichen, durch weite, ausgedehnte, flache Landschaften, Trailerparks und Schlafstädte. Nähert man sich Saltburn, eröffnen sich atemberaubende Blicke auf’s Meer. Alister .... fährt jeden Tag mit dem Zug zwischen seiner Arbeit in Middlesbrough und Saltburn hin und her.
"Saltburn ist ein seltsamer, anziehender Ort; wenn man einmal angekommen ist, möchte man bleiben. Saltburn ist einzigartig! Da ist der lange Strand; schaut man von dort aus nach Norden, sieht man die Steilküste und die North Yorkshire Moores, ein beeindruckendes Heideland, aber auch Waldgebiet. Das alles reicht direkt bis an den Strand und die Steilküste heran. Schaut man Richtung Süden, erkennt man die Stahlwerke als riesige industrielle Kulissen."
"Das erste, was mir einfällt, wenn ich an Saltburn denke, sind die Farben: das Grau-Gelb des Sandes am Strand, das Blau des Meeres, das Gelb der Backsteine, das grüne Gras. Alles wirkt sehr zurückgenommen. Natürlich gibt es Tage im Sommer, wo alle Farben leuchten, aber im Allgemeinen ist alles eher verhalten. Ja, ich glaube, ‘verhalten’ ist das richtige Wort, um Saltburn zu beschreiben.... und es korrespondiert mit der allgemeinen Stimmung des Ortes. Es ist sehr gelassen und entspannt hier; das bedeutet aber auch, dass das Leben manchmal sehr langsam ist und nicht sehr aufregend."
Gelassen und entspannt geht es in Saltburn zu, seit der Ort in seiner heutigen Form existiert. Seine Geschichte geht weit zurück ins 19. Jahrhundert, zu den Anfängen der Industrialisierung, die der Region Arbeit, Wohlstand und viele Zuzügler brachte. Zu dieser Zeit entwickelte sich aus dem kleinen Fischerdorf am Meer ein attraktiver viktorianischer Ferienort – nicht zufällig und nach und nach, sondern durch gezielte Planung. Unternehmer Henry Pease und Kollegen entwarfen Saltburn um die Mitte des 19. Jahrhunderts so, wie es heute immer noch aussieht: Reihen von gelben, geduckten Backsteinbauten rund um den Bahnhof, mehrstöckige, hoch aufragende Häuserreihen mit runden, verglasten Erkern entlang der Küste, repräsentative Gebäude wie das im italienischen Stil gehaltene Zetland-Hotel, in dem sich heute Luxuswohnungen befinden. Noch immer kann man auf dem wunderschönen, filigranen Vergnügungspier über das Wasser wandeln oder sich mit dem sogenannten ‘Cliff Lift’, einem kleinen, roten Aufzug aus Holz, vom hoch gelegenen Ort an den etwa 50 Meter tiefer liegenden Strand bringen lassen.
"Saltburn hat eine florierende Künstler-Community. Unser Vertreter im Parlament hat einmal gesagt: In Saltburn leben mehr Künstler pro Kopf als in jedem anderen Ort in Großbritannien. Es ist ein guter Ort für Künstler. Vielleicht liegt das an der See oder eben an der Besonderheit der ganzen Gegend: hier treffen sich Meer, Heideland und Industrie. Hier gibt es kraftvolle, starke Bilder, auch sehr romantische Ansichten und die wirken auf Künstler sehr inspirierend."
Und tatsächlich! In Saltburn angekommen, stolpert man geradezu unausweichlich vom Bahnhof in die erste Galerie. Hier trinkt man am besten einen Tee zur Stärkung – denn bevor man den nur 200 Metern entfernten Strand über eine der historischen Straßen mit ihren malerischen Wohnhäusern und kleinen Vorgärten erreicht, kann man noch mindestens zwei weitere Kunstorte besuchen. In allen Galerien stellen überwiegend lokale Künstler aus. James Beighton arbeitet am Middlesbrough Institut of Modern Art als Kurator, lebt aber in Saltburn.
"Schon lange gibt es eine starke Anziehungskraft von Küstenstädte auf Künstler – denken Sie an das berühmte Künstlerdorf St. Ives in Cornwall, den Geburtsort des britischen Modernismus. Saltburn sieht sich selbst als das St. Ives des Nordens. Es ist ein wunderschöner, sehr verlockender Ort. Und klar, wenn erst einmal einige Leute einen solchen Ort für ihre Kunst entdeckt haben, ziehen andere nach, weil sie viele Gemeinsamkeiten entdecken. Saltburn ist ein bisschen verschroben und sehr schön – genauso, wie man sich einen britischen Küstenort im besten Sinne vorstellt. Es hat das Ganze Jahr über eine gewisse Lebendigkeit."
Der größte Ausstellungsort ist die private ArtsBank Galerie. Dreißig Schritte vom Bahnhof entfernt, zeigt sie auf vier Stockwerken Arbeiten von Künstlern der Umgebung. Auf den Öl- und Aquarellbildern, den Zeichnungen und Drucken erkennt man immer wieder Ansichten aus Saltburn: die charakteristisch geschwungene Steilküste, die tief ins Meer ausgreifende Seebrücke mit ihren feingliedrigen Streben, die weite Sicht vom hoch gelegenen Ortsrand auf das Meer, den Strand und den roten ‘Cliff Lift’. Aber auch die rauchenden Schlote der Fabriken.
Die vielen, oft anspruchsvollen, schönen Werke zeugen von großer Verbundenheit zum Ort Saltburn und dem Tees Valley mit seiner industriellen Vergangenheit.
"In Saltburn gab es schon immer ein großes Interesse an Kunst - auch von Seiten der Amateure. Das ist bis heute so; ich glaube, hier existiert ein sehr demokratischer Zugang zu Kreativität. Was alle kleinen Städte dieser Gegend vereint und auch Saltburn charakterisiert ist der Stolz ihrer Bewohner und ihr Wunsch, ihre Orte aktiv mitzugestalten. Dieser Stolz ist ganz typisch für die Menschen im Nordosten Englands, vor allem für Yorkshire. In Saltburn kann man diese Kreativität der Menschen direkt auf den Strassen mitbekommen."
Und das manchmal schon an ganz kleinen Details. Eines Morgens zum Beispiel ist das Gitter der Seebrücke, immerhin 680 Fuß, also etwa 200 Meter lang, fast ganz und gar mit kleinen Stofffiguren umhäkelt. Bunt flattern sie im Wind – und zaubern jedem Einwohner und Besucher ein Lächeln ins Gesicht. Der kleine Scherz von vermeintlichen Guerilla-Omis ist der Auftakt zu einer umfangreichen Initiative, die derzeit in einem alten Schulgebäude ein neues Kunstzentrum eröffnet. In dem werden fortan Ausstellungen und Performances stattfinden – natürlich von Künstlern aus dem Norden Yorkshires.
"Das neue Zentrum bietet Besuchern die Möglichkeit, die ganze Bandbreite an künstlerischem Schaffen zu erleben – von traditionellem Erbe bis zu High-End-Art. Das alles können sie an einem sehr vertrauten Ort sehen, denn die alte Grundschule in Saltburn haben fast alle Leute, die hier wohnen, einmal besucht. Auf diese Weise soll das Gefühl entstehen, dass sich Altes und Neues, Vertrautes und Unbekanntes an diesem Ort miteinander verbinden. Dieses Projekt ist typisch für Saltburn. Denn die Anregung dazu kommt nicht von Außen, sondern von den Menschen der Stadt selbst! Sie sind nicht abhängig von professionellen Kulturmanagern, die anreisen und später wieder verschwinden, sondern die Menschen hier gestalten ihr kulturelles Leben selbst. Und das ist vielleicht die besondere Qualität dieses Ortes."
Doch heute will sich auf den Straßen Middlesbroughs niemand lange aufhalten, denn über dem Zentrum liegt ein stechender, leicht süßlicher Geruch, der von den von den Chemie-Werken unweit der Stadt herüber weht. Das passiert glücklicherweise nur selten, meistens steht der Wind andersherum – zu sehen sind die Fabriken allerdings von vielen Stellen der Stadt. Kate Brindley leitet das MIMA, das Middlesbrough Institut of Modern Art; sie kennt die Reaktionen Auswärtiger auf diesen Anblick.
"Besucher, die nach Middlesbrough kommen, sind von der präsenten Industrie oft schockiert, zum Beispiel von den großen Chemie-Werken, die immer noch in Betrieb sind. Gott sei Dank, kann man nur sagen, denn sie sind ein wichtiger Arbeitgeber für die Region. Leute aus anderen Gegenden des Landes kommen und sagen, oh my Godness, ist das schrecklich, ihr lebt direkt neben der Industrie! Aber die Leute hier haben einen anderen Blick darauf, denn wenn diese Fabriken nicht wären, gäbe es das alles hier nicht. Die Industrie ist wie eine Lebensader, ein Teil der Stadt und ihrer Geschichte."
Middlesbrough hat ganz verschiedene Seiten und sie liegen alle nah beieinander. Seit dem Niedergang der Schwerindustrie gibt es in der Stadt viel Arbeitslosigkeit. Ältere Männer, die in der Fußgängerzone schon vormittags ihr erstes Ale trinken. Familien, denen das Geld für die Bildung ihrer Kinder fehlt. Beim Gang durch die Straßen passiert man schäbige Anwaltskanzleien, Dönerbuden und verrammelte Fassaden. Doch Middlesbroughs’ ambitionierte Stadtverwaltung setzt auf den Ausbau digitaler Technologien, Bildung und Kunst. Nur ein paar Schritte weiter befindet sich die große, moderne Teesside-Universität mit vielen, auch internationalen Studenten, die eine quirlige Atmosphäre verbreiten. Daneben sticht der große, repräsentative Glasbau des MIMA, des Middlesbrough Institute of Modern Art ins Auge sowie einige auffällige Kunstwerke, wie die ‘Bottle of Notes’, eine überlebensgroße, schräg aufragende Flasche aus verschlungenen Metallstreben. Sie ist eine Reminiszenz an den britischen Seefahrer und Entdecker James Cook. Der wurde an der Küste Yorkshires geboren und war genauso risiko- und entdeckerfreudig wie die späteren Pioniere der Stahlmanufakturen.
"Im ausgehenden 19. Jahrhundert begann hier die Industrialisierung. Damals veränderte sich die Landschaft sehr stark. Bevor man Eisen entdeckte, gab es hier gar nichts - totale Provinz, ein paar Dörfer. Dann fand man Eisen, begann, daraus Stahl zu machen und realisierte, dass man damit viel Geld verdienen kann. Zu ihrer Zeit machten die Arbeiter aus Middlesbrough den besten Stahl der Welt und exportierten ihn überallhin. Die Hafenbrücke in Sidney und viele andere Dinge wurden daraus gefertigt. In dieser relativ kurzen Periode der Stadtgeschichte war Middlesbrough ein ungemein erfolgreicher Ort. Natürlich brauchte man dafür Arbeiter, also holte man Leute hier her. Im Grunde ist die gesamte Bevölkerung im ausgehenden 19. Jahrhundert eingewandert. Und so wurde Middlesbrough zu einem echten Melting Pot der Kulturen: Iren, Schotten, die Leute kamen von überall her."
Der sich noch im Aufbau befindliche Stadtteil Middlehaven liegt an den Ufern des Tees, zwischen dem riesigen Riverside Fußballstadion, der alles überragenden, 100 Jahre alten Transporterbrücke aus dem 19. Jahrhundert und der A66, einer viel befahrenen Schnellstraße. Hier befindet sich das berühmteste Kunstwerk der Stadt. ‘Temenos’, griechisch für ‘Heiligtum’ schwebt seit 2010 an den Ufern des Tees. Mit seinen beiden riesigen, hängenden Ringen, die über 110 Meter Distanz durch ein Stahlnetz verbunden sind, soll es eine Fischreuse darstellen, erinnert naive Kontinentaleuropäer aber eher an ein gigantisches Schmetterlingsnetz. Entworfen hat das luftig wirkende Gebilde der britisch-indische Künstler Anish Kapoor. Durch Material und Größe soll das Kunstwerk mit der Ausdehnung und Vergangenheit der postindustriellen Landschaft des Tees Valleys korrespondieren. Für Annie O´Donell, bildende Künstlerin und Galeristin in Middlesbrough, passt ‘Temenos’ hervorragend zu dieser Gegend.
"Temenos wurde in der Regionalzeitung als das ‘größte Kunstwerk der Welt’ vorgestellt. So lautete die Schlagzeile. Ich muss zugeben, dass die Menschen aus Teesside so etwas anspricht, schlichtweg deswegen, weil wir hier in diesen großen Dimensionen leben. Das Überdimensionierte ist aus unserer Sicht nicht unbedingt etwas Negatives. Wenn man es von Außen betrachtet, kann man es auch als groß und geschmacklos oder infantil und naiv empfinden. Und vielleicht ist es das auch. Aber ich spiele gerne mit dem Gedanken, dass es das stimmigste Bild ist, das Middlesbrough von sich selbst hat. Eben weil das hier ein Ort ist, an dem das Monumentale Relevanz besitzt."
Davon kann man sich überzeugen, sobald man Middlesbrough Richtung Küste verlässt. Bis Saltburn by the Sea – einst Fischer- und Schmugglerdorf mit nur wenigen Häusern, heute kleines, feines, viktorianisches Städtchen – braucht der Bummelzug eine halbe Stunde. Es geht vorbei an riesigen Industrieanlagen, deren rauchende Schlote und züngelnde Flammen gefährlichen Metallmonstern gleichen, durch weite, ausgedehnte, flache Landschaften, Trailerparks und Schlafstädte. Nähert man sich Saltburn, eröffnen sich atemberaubende Blicke auf’s Meer. Alister .... fährt jeden Tag mit dem Zug zwischen seiner Arbeit in Middlesbrough und Saltburn hin und her.
"Saltburn ist ein seltsamer, anziehender Ort; wenn man einmal angekommen ist, möchte man bleiben. Saltburn ist einzigartig! Da ist der lange Strand; schaut man von dort aus nach Norden, sieht man die Steilküste und die North Yorkshire Moores, ein beeindruckendes Heideland, aber auch Waldgebiet. Das alles reicht direkt bis an den Strand und die Steilküste heran. Schaut man Richtung Süden, erkennt man die Stahlwerke als riesige industrielle Kulissen."
"Das erste, was mir einfällt, wenn ich an Saltburn denke, sind die Farben: das Grau-Gelb des Sandes am Strand, das Blau des Meeres, das Gelb der Backsteine, das grüne Gras. Alles wirkt sehr zurückgenommen. Natürlich gibt es Tage im Sommer, wo alle Farben leuchten, aber im Allgemeinen ist alles eher verhalten. Ja, ich glaube, ‘verhalten’ ist das richtige Wort, um Saltburn zu beschreiben.... und es korrespondiert mit der allgemeinen Stimmung des Ortes. Es ist sehr gelassen und entspannt hier; das bedeutet aber auch, dass das Leben manchmal sehr langsam ist und nicht sehr aufregend."
Gelassen und entspannt geht es in Saltburn zu, seit der Ort in seiner heutigen Form existiert. Seine Geschichte geht weit zurück ins 19. Jahrhundert, zu den Anfängen der Industrialisierung, die der Region Arbeit, Wohlstand und viele Zuzügler brachte. Zu dieser Zeit entwickelte sich aus dem kleinen Fischerdorf am Meer ein attraktiver viktorianischer Ferienort – nicht zufällig und nach und nach, sondern durch gezielte Planung. Unternehmer Henry Pease und Kollegen entwarfen Saltburn um die Mitte des 19. Jahrhunderts so, wie es heute immer noch aussieht: Reihen von gelben, geduckten Backsteinbauten rund um den Bahnhof, mehrstöckige, hoch aufragende Häuserreihen mit runden, verglasten Erkern entlang der Küste, repräsentative Gebäude wie das im italienischen Stil gehaltene Zetland-Hotel, in dem sich heute Luxuswohnungen befinden. Noch immer kann man auf dem wunderschönen, filigranen Vergnügungspier über das Wasser wandeln oder sich mit dem sogenannten ‘Cliff Lift’, einem kleinen, roten Aufzug aus Holz, vom hoch gelegenen Ort an den etwa 50 Meter tiefer liegenden Strand bringen lassen.
"Saltburn hat eine florierende Künstler-Community. Unser Vertreter im Parlament hat einmal gesagt: In Saltburn leben mehr Künstler pro Kopf als in jedem anderen Ort in Großbritannien. Es ist ein guter Ort für Künstler. Vielleicht liegt das an der See oder eben an der Besonderheit der ganzen Gegend: hier treffen sich Meer, Heideland und Industrie. Hier gibt es kraftvolle, starke Bilder, auch sehr romantische Ansichten und die wirken auf Künstler sehr inspirierend."
Und tatsächlich! In Saltburn angekommen, stolpert man geradezu unausweichlich vom Bahnhof in die erste Galerie. Hier trinkt man am besten einen Tee zur Stärkung – denn bevor man den nur 200 Metern entfernten Strand über eine der historischen Straßen mit ihren malerischen Wohnhäusern und kleinen Vorgärten erreicht, kann man noch mindestens zwei weitere Kunstorte besuchen. In allen Galerien stellen überwiegend lokale Künstler aus. James Beighton arbeitet am Middlesbrough Institut of Modern Art als Kurator, lebt aber in Saltburn.
"Schon lange gibt es eine starke Anziehungskraft von Küstenstädte auf Künstler – denken Sie an das berühmte Künstlerdorf St. Ives in Cornwall, den Geburtsort des britischen Modernismus. Saltburn sieht sich selbst als das St. Ives des Nordens. Es ist ein wunderschöner, sehr verlockender Ort. Und klar, wenn erst einmal einige Leute einen solchen Ort für ihre Kunst entdeckt haben, ziehen andere nach, weil sie viele Gemeinsamkeiten entdecken. Saltburn ist ein bisschen verschroben und sehr schön – genauso, wie man sich einen britischen Küstenort im besten Sinne vorstellt. Es hat das Ganze Jahr über eine gewisse Lebendigkeit."
Der größte Ausstellungsort ist die private ArtsBank Galerie. Dreißig Schritte vom Bahnhof entfernt, zeigt sie auf vier Stockwerken Arbeiten von Künstlern der Umgebung. Auf den Öl- und Aquarellbildern, den Zeichnungen und Drucken erkennt man immer wieder Ansichten aus Saltburn: die charakteristisch geschwungene Steilküste, die tief ins Meer ausgreifende Seebrücke mit ihren feingliedrigen Streben, die weite Sicht vom hoch gelegenen Ortsrand auf das Meer, den Strand und den roten ‘Cliff Lift’. Aber auch die rauchenden Schlote der Fabriken.
Die vielen, oft anspruchsvollen, schönen Werke zeugen von großer Verbundenheit zum Ort Saltburn und dem Tees Valley mit seiner industriellen Vergangenheit.
"In Saltburn gab es schon immer ein großes Interesse an Kunst - auch von Seiten der Amateure. Das ist bis heute so; ich glaube, hier existiert ein sehr demokratischer Zugang zu Kreativität. Was alle kleinen Städte dieser Gegend vereint und auch Saltburn charakterisiert ist der Stolz ihrer Bewohner und ihr Wunsch, ihre Orte aktiv mitzugestalten. Dieser Stolz ist ganz typisch für die Menschen im Nordosten Englands, vor allem für Yorkshire. In Saltburn kann man diese Kreativität der Menschen direkt auf den Strassen mitbekommen."
Und das manchmal schon an ganz kleinen Details. Eines Morgens zum Beispiel ist das Gitter der Seebrücke, immerhin 680 Fuß, also etwa 200 Meter lang, fast ganz und gar mit kleinen Stofffiguren umhäkelt. Bunt flattern sie im Wind – und zaubern jedem Einwohner und Besucher ein Lächeln ins Gesicht. Der kleine Scherz von vermeintlichen Guerilla-Omis ist der Auftakt zu einer umfangreichen Initiative, die derzeit in einem alten Schulgebäude ein neues Kunstzentrum eröffnet. In dem werden fortan Ausstellungen und Performances stattfinden – natürlich von Künstlern aus dem Norden Yorkshires.
"Das neue Zentrum bietet Besuchern die Möglichkeit, die ganze Bandbreite an künstlerischem Schaffen zu erleben – von traditionellem Erbe bis zu High-End-Art. Das alles können sie an einem sehr vertrauten Ort sehen, denn die alte Grundschule in Saltburn haben fast alle Leute, die hier wohnen, einmal besucht. Auf diese Weise soll das Gefühl entstehen, dass sich Altes und Neues, Vertrautes und Unbekanntes an diesem Ort miteinander verbinden. Dieses Projekt ist typisch für Saltburn. Denn die Anregung dazu kommt nicht von Außen, sondern von den Menschen der Stadt selbst! Sie sind nicht abhängig von professionellen Kulturmanagern, die anreisen und später wieder verschwinden, sondern die Menschen hier gestalten ihr kulturelles Leben selbst. Und das ist vielleicht die besondere Qualität dieses Ortes."