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Lebensader Tunnel

Fast vor jedem Ladengeschäft auf den Bürgersteigen von Gazas Haupteinkaufsstraße, der Mushtir-Straße, laufen wieder die Generatoren. Tägliche Stromausfälle von acht bis zehn Stunden sind seit einigen Wochen wieder die Regel geworden.

Von Clemens Verenkotte, ARD-Hörfunkstudio Tel Aviv | 13.02.2010
    Said Mhuada betreibt hier sein kleines Schreibwarengeschäft. Die Ladenregale sind säuberlich mit allen denkbaren Varianten von Schulheften, Ringblöcken, Farb- und Bleistiften und Malblöcken aufgefüllt. Auf die Frage, woher die Waren stammen, gibt Said freimütig zurück:

    "Also, Reste aus früheren Jahren sind hier immer noch zu finden. Aber alles, was wir hier haben und besitzen, sind Waren aus den Tunneln."

    Mit der Qualität der Tunnelwaren ist Said - wie nahezu alle Geschäftsleute in Gaza – unzufrieden. Er zeigt Plastikumschläge für DIN-A6 Schulhefte vor: Da stimme das Format nicht, mit denen ließen sich die Hefte gar nicht einschlagen. Aber zum Glück habe er noch alte Umschläge aufgehoben, die aus Israel stammten und von denen er Restbestände habe.

    Für die schlechte Ware aus den Tunneln muss Said im Durchschnitt doppelt soviel bezahlen wie früher für seine Lieferungen aus Israel. Ob die Preise jetzt stiegen, nachdem die Ägypter mit dem Bau der großen Stahlmauer in Rafah begonnen haben, um unterirdisch die Schmugglertunnel abzuschneiden? Der Besitzer des Schreibwarenladens schüttelt den Kopf:

    "Nein, nein, das hat die Preise nicht beeinflusst."

    Schätzungsweise 1500 Tunnel gibt es zwischen Ägypten und dem Gazastreifen, über die Tag und Nacht Waren aller Art in das abgeriegelte palästinensische Gebiet kommen.

    Tafiq el Thuzi gehört eine kleine Möbelwerkstatt. Mit acht Mitarbeitern produziert er überwiegend Schränke und Betten. Das Rohmaterial Holz bestellt er in Ägypten. Er weiß nicht, ob und wie seine Lieferung bei ihm in Gazastadt ankommt. Der Preis für den Transport beträgt 3000 Dollar für eine Tonne Holz. Das ist der zehnfache Preis dessen, was er vor der Blockade habe zahlen müssen:

    "Wissen Sie, wir Palästinenser können, was die Produktion und die Arbeit unter schwierigsten Bedingungen anbetrifft, Wunder vollbringen. Aber für eine Werkstatt wie meine, die Holz braucht? Wir können es uns nicht leisten, alles, was wir für die Möbelproduktion brauchen, unterirdisch zu beziehen. Das ist für uns ein sehr schwieriger Zustand. Das geht für eine kurze Zeit, aber wir brauchen Qualität und große Mengen."

    Zwölf Container mit einer Holzlieferung, die Tafiq vor über vier Jahren bestellt hat, stehen seitdem im israelischen Hafen von Aschdod. Die Wirtschaftsblockade, die Israel gegen die Hamas-Herrschaft im Gazastreifen verhängt hat, kostet den Möbelfabrikanten unverändert viel Geld: Als Lagergebühr erhebe der Hafen von Aschdod für jeden seiner 12 Container rund 250 Euro pro Monat.

    In der Zahnarztpraxis von Dr. Jamal Naim herrscht reger Betrieb: Rund ein Dutzend Patienten sitzt im geräumigen Wartezimmer. In den beiden Behandlungszimmern geht der Zahnmediziner seiner Arbeit nach. Dr. Naim hat in den 90er-Jahren an der Universität Erlangen Zahnmedizin studiert. Vor vier Jahren konnte er seinen Facharzt für Kieferorthopädie in Berlin beenden. Seitdem lebt und arbeitet der achtfache Familienvater in Gazastadt. Auch für ihn und seine Praxis sind die Tunnel unverzichtbar:

    "Alles, was wir hier haben - beziehungsweise 90 Prozent davon - ist aus Ägypten gekauft, durch die Tunnel geschmuggelt. Ich verlange von einem ägyptischen Händler, mir das und das zu schicken. Dann kommt es über die Tunnel zu mir. Das sind auch wieder zusätzliche Kosten für die Tunnelschmuggler."

    Dr. Naim ruft bei seinem ägyptischen Händler an und bestellt alle Produkte, die er für seine hochmodern eingerichtete Zahnarztpraxis benötigt - jedenfalls fast alle. So habe er schon vor zwei Monaten unsichtbare Brackets - transparente Zahnspangen - aus Deutschland geordert. Nur diesen würde er vertrauen, sagt der Zahnarzt. Die Händler hätten sie allerdings bislang nicht beschaffen können. Auch er habe schon öfter schlechte Erfahrungen mit der Tunnelwirtschaft gemacht:

    "Ich habe deutsche Brackets gekauft. Die Brackets kamen, aber es war drauf geschrieben: 'China made für Deutschland'. Und so habe ich die Kosten für deutsche Brackets bezahlt, aber leider chinesische Brackets bekommen."

    Für 150.000 Dollar habe er als Dekan der zahnmedizinischen Fakultät an der privaten "Palestine International University" im westlichen Ausland ein komplettes neues Zahnlabor bestellt, mit der neuesten technischen Ausstattung, sagt Dr. Naim. Auch dieses akademische Ausbildungslabor komme durch die Tunnel und müsse jeden Tag eintreffen.

    Im Elektroladen von Zaki Alhaddad ist selbst bei geschlossener Eingangstür das beständige Brummen der Generatoren zu hören. Dann kann der Geschäftsinhaber das Aggregat abstellen – der Strom ist wieder da. Zaki verkauft überwiegend Glühlampen, Schalter, Kabel, Steckerverbindungen. Waren, die er seit langen Jahren bei seinem Lieferanten in China bestellt. Früher, vor der Blockade, schickte der chinesische Lieferant die Waren per Container nach Aschdod. Dort wurden sie umgeladen und nach Gazastadt transportiert. Heute gingen die Lieferungen von China nach Port Said in Ägypten und von dort durch die Tunnel zu ihm ins Geschäft:

    "Ein kleiner Teil meiner Arbeit geht so: Ich bestelle meine Ware bei meinem Stammlieferanten in China. Das sind Sortimente, die ich kenne und dann schließe ich ein Geschäft ab. Das kommt nach Äygpten und wird normal abgefertigt. Und dann beauftrage ich hier jemanden, das reinzubringen. Den größeren Teil meiner Waren beziehe ich vom ägyptischen Markt durch Geschäftsleute, die ich mit Nachbestellungen von Sachen beauftrage, die ich brauche."

    Auf seiner Ladentheke breitet Zaki, der in Magdeburg Elektrotechnik studiert hat, einige Schalter aus, die er durch die Tunnel erhalten hat: Von 400 bestellten Schaltern seien 209 bei ihm angekommen. Wo die restliche von ihm vorab bezahlte Ware sei, wisse er nicht. Eine Erfahrung, die nahezu alle palästinensischen Geschäftsleute machen:

    "Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass wir Geschäfte ohne jede juristische Absicherung machen. Das Ganze findet außerhalb der Gesetze statt. Das ist für einen Geschäftsmann eine riskante Angelegenheit, seine Ware auf diese Art und Weise zu beziehen, ohne juristisch abgesichert zu sein, ohne Garantien, oder bestimmte Normen."

    Für die Tunnelbetreiber hat der Besitzer der Elektrofirma nur negative Bezeichnungen:

    "Tunnelgeschäftsleute sind, was die Preisspekulationen angeht, nicht so vertrauenserweckend. Da können Sie sich vorstellen, wenn Sie von denen die Preislisten bekommen, die öfters unglaubwürdig und ständig wechselhaft von heute auf morgen sind."

    Wie er denn reagiere, wenn er wieder einmal eine Warenlieferung auspackt, die unvollständig und teilweise beschädigt ist? An niemanden könne er sich wenden, bei keiner Behörde sich beschweren, vor kein Gericht ziehen, sagt Zaki in seinem ein wenig eingerosteten Deutsch:
    "Ich kann mich nicht beschweren, bei niemandem. Nur bei Gott."