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Lebensformen ferner Zeiten erwecken

Ein Ritter und ein Heiliger - sie sind die mittelalterlichen Vorbilder, die beim Bewältigen von Krisen helfen sollen. In seinen zwei posthum veröffentlichten Romanen aus den 1920er-Jahren "Seraphica" und "Montefal" sucht der österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer nach Antworten auf Lebensfragen.

Von Christoph Bartmann | 28.09.2009
    Der heilige Franz von Assisi, der reiche und verwöhnte Bürgersohn, der gegen Ende des 12. Jahrhunderts das väterliche Erbe ausschlug und fortan als Wandermönch und buchstäblich "seltsamer Heiliger" durch die italienischen Lande zog – dieser Franz von Assisi hat in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts eine ganz neue und merkwürdige Anhängerschaft gefunden. Nicht unter den Frommen, sondern unter Ästheten, vor allem unter jungen, wohlhabenden Männern, die ähnlich wie ihr Vorbild des bürgerlichen Lebens, des Reichtums und der Sünde überdrüssig waren und stattdessen ein heiligmäßiges Dasein führen wollten. Manche sind deshalb zum Katholizismus konvertiert, andere sogar ins Kloster gegangen. Andere haben sich außerdem literarisch mit Franziskus von Assisi und der Idee einer radikalen Lebenseform auseinander gesetzt. Zu ihnen gehört der österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer, den ein überschaubarer, aber hartnäckiger Kreis von Verehrern bis heute für den größten deutschsprachigen Romanciers des 20. Jahrhunderts hält. Doderers große Romane, etwa "Die Strudlhofstiege", erschienen in den fünfziger Jahren; die Erzählungen, die nun aus Doderers Nachlaß in der Österreichischen Nationalbibliothek herausgegeben wurden, entstanden schon in den zwanziger Jahren und sind Zeugnisse einer schweren Lebenskrise – aus der mittelalterliche Vorbilder, ein Heiliger (in der Erzählung "Seraphica") und ein Ritter (in "Montefal") einen Ausweg weisen sollen.

    Doderer, dessen Vater, ähnlich wie der Vater Ludwig Wittgensteins in der späten Habsburger Monarchie als Industrieller reich geworden war, hatte sich wie Wittgenstein vom väterlichen Lebensideal losgesagt. Nach seiner Rückkehr aus sibirischer Kriegsgefangenschaft studierte er ab 1920 in Wien Geschichte, um auf diese Weise das "Handwerk des Schriftstellers" zu erlernen. Schriftsteller, das ist nach Doderers Verständnis jemand, der die Sprachen und Lebensformen ferner Zeiten neu erwecken kann und muss; und hier an vorderster Stelle die des Mittelalters, eine Epoche, die Doderer zu einer Zeit ohne die "metaphysische Abgerissenheit" späterer Jahrhunderte verklärte. "Abgerissen" fand Doderer vor allem sich selbst, und zwar vor allem in sexueller Hinsicht. Von "Komplikationen sexueller Natur" sprechen die Herausgeber und nennen "onanistische Episoden, voyeuristische Eskapaden und sadistische Tendenzen", Symptome, die zu dieser Zeit noch schlicht unter "Perversion" verbucht wurden. Hier sollte nun das Vorbild des Heiligen Franz zur Läuterung beitragen: zur Legitimation des Ausstiegs aus dem bürgerlichen Erfolgsprogramm ebenso wie zur Härtung des Charakters gegen sexuelle Ausschweifung und "Unzucht".

    Was die Geschichte des Franz von Assisi angeht, konnte sich Doderer auf zeitgenössische Nacherzählungen des Legendenstoffs stützen. Nichts ist erfunden, alles ist nacherzählt, und zwar auf eine Weise, in der die ästhetische Gestaltung des Materials schon den ersten (oder vielleicht sogar letzten) Schritt zur moralischen Läuterung darstellt. Entstanden ist so ein Text von außerordentlicher sprachlicher und formaler Schönheit, dessen einziger Gegenstand die "Verwandlung" des gewöhnlichen Lebens in ein heiligmäßiges ist. Andere, wie Herman Hesse, haben sich in ähnlicher Absicht im Morgenland umgetan, Doderer hat seinen Lebenslehrer, Mentaltrainer oder, warum nicht Guru, im italienischen Mittelalter gefunden: es ist der heilige Franz, ein Titan der Entsagung und Selbstverachtung, der auf allen Wegen Gottes Willen zu spüren meint: "Sie ruhten unter einer Eiche während des Aufstieges. Die bunten Vögel kamen herab aus den Zweigen, sie setzten sich auf Schultern, Hände und Knie des Franciscus. Er sagte: 'Ich glaube, liebste Brüder, es gefällt unserem Herrn Jesus Christus, dass wir hier auf diesem einsamen Berg uns niederlassen, wo unsere Brüder, die Vögel, solche Freude über unsere Ankunft zeigen.'" Nicht "irdischer Besitz" ist das Ziel, nein, "Armut" ist das Askeseprogramm, ein überaus modernes Programm, wie man inzwischen weiß.

    Auch "Montefal", der zweite, kürzere Text des Bandes, "Eine avanture" im Untertitel genannt, ist äußerst symptomatisch im Blick auf Doderers frühe Seelenlage. Auch später werden Ritter in seinem Werk eine große Rolle spielen, hier wird das Sujet vorweg genommen in der eigentümlichen Aventüre des spanischen Ritters Ruy de Fanez, der im Wald von Montefal den berüchtigten Drachen erschlägt – oder doch wenigstens glaubt, ihn erschlagen zu haben. Das gäbe ihm das Recht, um Herzogin Lidoine zu werben. Aber dann erscheint ein anderer, weit weniger heldenhafter Ritter am Hofe der Lidoine, gibt sich als der wahre Drachentöter aus und wirbt mit Macht um die Herzogin, während der wahre Held vor der galanten Aufgabe versagt und sich grübelnd und verstört in die Wälder zurück zieht, wo er bald darauf im Kampf umkommt. Man kann, ohne der Erzählung biographisch zu nahe zu treten, in ihr die Erfahrung des Kriegsheimkehrers wieder entdecken. Doderer, ein Jahr jünger als Ernst Jünger und wie er geprägt von der Kriegserfahrung, scheut nicht den Kampf mit dem Drachen, wohl aber den bürgerlichen "Hafen der Ehe" – eine Scheu, die ihn in neue Abenteuer und Verwirrungen (und möglicherweise in den Untergang) treiben wird. Heiner Müller hat einmal von einer Generation deutscher Männer gesprochen, die vor der ersten sexuellen Erfahrung mit Frauen schon die ersten Erfahrungen im Töten von Männern gemacht hatten. Einer aus dieser Generation ist Heimito von Doderer. Die beiden wunderbaren Erzählungen "Seraphica" und "Montefal" zeigen, wie tief diese Erfahrungen in und auf Doderer gewirkt haben. Sie zeigen außerdem, wie man diese Erzählungen, wenn man erst einmal das "Handwerk des Schriftstellers" beherrscht, in große, objektive und zeitenthobene Kunst verwandeln kann.

    Heimito von Doderer: Seraphica. Montefal
    Zwei Erzählungen aus dem Nachlaß.
    Herausgegeben von Martin Brinkmann und Gerald Sommer.
    Verlag C. H. Beck, München 2009. 110 S., 16, 90 Euro