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Lebensmittelverschwendung
Berliner Supermarkt verkauft gerettete Ware

Allein in Deutschland landen jedes Jahr rund elf Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Bis 2030 soll dieser Wert um die Hälfte sinken, so will es die Bundesregierung. Raphael Fellmer will mit seinem Supermarkt "SirPlus" für gerettete Ware dazu beitragen. Bald soll daraus ein Franchise-Modell werden.

Von Tina Hüttl | 03.04.2019
Der Unternehmer Raphael Fellmer in seinem Berliner "Rettermarkt" SirPlus
Raphael Fellmer lebte jahrelang geldlos und fischte sein Essen aus Containern. Nun will er als Startup-Unternehmer das Lebensmittelretten in die Breite tragen. (Foto: Tina Hüttl)
Auf den ersten Blick scheint alles wie im normalen Supermarkt, einem sehr aufgeräumten: Vorne am Eingang Obst und Gemüse und die Kassen, dahinter lange Gänge mit Regalen, in denen sich Waren stapeln. Doch guckt man genauer hin, fällt einem auf, dass sich darunter viele untypische Sachen finden:
"Es gibt ja mittlerweile über 600 Produkte bei uns, die wir gerettet haben. Und da gibt es sogar Salz, abgelaufenes Salz aus Australien, total verrückt. Aber wir haben sogar abgelaufenes Wasser. Quellwasser in der Glasflasche... Wir haben hier witzige kleine Marken, aber auch berühmte Marken, die man kennt."
Reste von Großhändlern und Produzenten
Raphael Fellmer, der nicht nur beim Sprechen ein beachtliches Tempo hat, läuft durch die Gänge, er zeigt auf Hipster-Limonaden und Schokoladen-Nikoläuse...
"Ostersachen werden wir bald bekommen, hier sind jetzt noch die Weihnachtssachen da."
An den Kühlregalen, wo eine junge Frau gerade Bioschlagsahne, Blätterteigrollen und veganen Wurstsalat einsortiert, greift er ein paar Waren heraus, um auf das Mindesthaltbarkeitsdatum zu zeigen:
"Alles Mögliche letztendlich, was halt irgendwo entlang der Wertschöpfungskette bei Großhändlern wie Metro aber auch bei Produzenten übrig bleibt, weil es kurz vor MHD, also Mindesthaltbarkeitsdatum, ist oder bereits abgelaufen ist oder vielleicht einfach Überproduktion war, aus dem Sortiment geflogen ist. Es gibt ja leider tausende Gründe, warum Lebensmittel weggeschmissen werden."
80 Prozent günstiger als in normalen Supermärkten
Wie alle seine Mitarbeiter trägt Fellmer einen weißen Pulli mit rotem Herz auf linker Brust, darunter das Logo SirPlus. So heißt Deutschlands erster Supermarkt für Lebensmittel, die sonst auf dem Müll landen. Die aussortierten Waren liefern Großhändler und Produzenten für einen symbolischen Preis und werden dann bis zu 80 Prozent günstiger verkauft.
Ein Student: "Ich kauf fast alle meine Sachen hier - Joghurt, Käse Gemüse - und deswegen bin ich fast zweimal die Woche da. Als Student spart man gerne Geld, es tut mir weh Sachen wegzuschmeißen. Natürlich fürs Klima ist es auch gut."
Kunden, Händler, die Umwelt, alle gewinnen etwas, Win-Win-Win Situation, nennt Fellmer das, der jetzt in sein kleines Büro geht. Akquise muss er nicht mehr betreiben, es gibt genügend Händler, die froh sind, ihre Waren so loszuwerden und mit dem Supermarkt zusammenzuarbeiten.
Verbrauchs- vs. Mindesthaltbarkeitsdatum
"Angefangen habe ich 2009 als ich zum ersten Mal in die Mülltonnen gestiegen bin, um nach Lebensmitteln Ausschau zu halten. Leider haben sich die Zahlen nicht wirklich verbessert, sondern verschlimmert: Wir schmeißen immer noch die Hälfte aller Lebensmittel weg, die wir in Europa produzieren und importieren."
Fellmer trinkt gerettetes Wasser. Er ist 36, Vater zweier Kinder. Fünf Jahre hat er ohne Geld gelebt, bevor er anfing Lebensmittel im großen Stil und legal zu retten. Er ist ein geübter Vortragsredner und überzeugend: 18 Millionen Tonnen jährlich - eine Lkw-Ladung Nahrung pro Minute - werden allein in Deutschland vernichtet, sagt er. Dabei wären rund zehn Millionen davon laut einer Studie des WWF vermeidbar. Wichtig sei, dass die Leute den Unterschied zwischen Verbrauchsdatum und Mindesthaltbarkeitsdatum verstehen.
"Dabei kann man die Lebensmittel mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum, wo es abgelaufen ist, oft Wochen, Monate oder sogar Jahre bestens konsumieren. Und das Verbrauchsdatum - das sind so kritische Sachen wie rohe Eierspeisen, Hackfleisch - das ist wirklich eine harte Deadline und das ist ein Zu-verbrauchen-bis-Datum und nicht Mindestens-haltbar-bis-Datum."
"Rettermarkt" bald auch als Franchise-System
Um seine Idee für den "Rettermarkt" umzusetzen, startete Fellmer im April 2017 mit einer Crowdfunding-Kampagne und einem Investor, der 100 000 Euro gab. Inzwischen beschäftigt SirPlus mehr als 70 Mitarbeiter an vier Berliner Standorten, in denen täglich mehr als 1200 Kunden einkaufen. Bis dato gelang es, 1500 Tonnen Lebensmittel zu retten - in den Märkten und über den Online-Shop. 20 000 Pakete wurden bisher verschickt, darunter auch die "Retterbox" mit wechselnden Waren aus dem Sortiment, die bereits über 500 Kunden als regelmäßiges Abo beziehen. Und bald soll es bundesweit noch mehr Rettersupermärkte geben. Ende des Jahres startet Fellmer sein Franchise-Projekt:
"Wir haben über hundert Leute, die uns schon geschrieben haben und die Interesse haben als Franchise-Partner irgendwo in Deutschland auch so einen Rettermarkt aufzumachen. Und wir liefern das Know-how, das Branding, die Ware, die Lebensmittelhygiene."
Die Lebensmittelretten-Bewegung aus der Nische holen - das ist sein Plan. Eine Million Tonnen Lebensmittel will Fellmer in den nächsten fünf Jahren retten. Denn nach vegan, bio und fair gehandelt soll "gerettet" der nächste Trend werden.