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Lebensroman in Briefen

Golo Mann konnte kaum etwas dagegen tun, immer zunächst als Sohn des berühmten und schwierigen Vaters Thomas Mann gesehen zu werden. Doch mit historischen Werken machte er sich einen eigenen Namen. Wie die ganze Familie verließ er Deutschland in der Nazizeit, sein Verhältnis zu seinem Heimatland blieb ambivalent. Aus seiner umfangreichen Korrespondenz sind nun 172 Briefe an Freunde und Gegner, an Politiker, Künstler und Publizisten veröffentlicht worden. Angela Gutzeit hat den Band "Golo Mann: Briefe 1932-1992" durchstöbert.

27.11.2006
    Golo Mann war Zeit seines Lebens ein unermüdlicher und begnadeter Briefeschreiber. Er kultivierte diese Form der Verständigung, die ihm stets intellektueller Gedankenaustausch war, nie Alltagsgeplänkel. Briefeschreiben, das war für den literarischen Historiker oder man könnte auch sagen Geschichtsschriftsteller Golo Mann nicht nur Kontaktpflege unter anderem in den nicht sehr glücklichen Zeiten des amerikanischen Exils, sondern ein wichtiger Teil des Klärungsprozesses bei der Betrachtung deutscher Geschichte und des deutschen Nachkriegsgeschehens und insofern Teil seines Gesamtwerkes. Seine Briefe sind von den 60er Jahren an aber auch als äußerst engagierte Wortmeldungen eines geradezu politikversessenen Zeitgenossen zu lesen.

    Tausende von Briefen hat er geschrieben. Daraus einen Briefband erträglicher Länge zu konzipieren, das erfordert schon eine geschickte Auswahl. Die Herausgeber Tilman Lahme und Kathrin Lüssi haben hier überzeugende Arbeit geleistet. Entstanden ist so etwas wie ein bewegender Lebensroman in Briefen, der einen tiefen Einblick zulässt in die Persönlichkeit dieses hochbegabten und oft tiefdepressiven Menschen. Ein Mensch, der sich in seinen Selbstbetrachtungen nicht schonte, aber auch gnadenlos austeilen konnte. Der befreundete Weggefährte und Publizist Joachim Fest, einer der Adressaten in diesem Buch, sah die Ursache für die tiefe Widersprüchlichkeit im Wesen Golo Manns im Privaten wie im Politischen begründet. Golo Mann, so schrieb Fest einmal, habe nicht ohne Grund zwei Menschen in seinem Leben nur mit ihren Anfangsbuchstaben genannt: A.H. und T.M. - Adolf Hitler und Thomas Mann. Auch wenn er im Alter milder über seine Vater geurteilt habe, so Fest weiter, habe Golo Mann in seinen zornigen Phasen fraglos beide als Verderber seines Lebens angesehen. Beide hätten seine Entfaltung über zu lange Zeit verhindert. Und so äußert Golo Mann sich brieflich gegenüber seinem Doktorvater Karl Jaspers - auch so ein Über-Ich für ihn - geradezu erleichtert über den Tod Thomas Manns im Jahre 1955:

    "Sie haben gewiss recht, wenn Sie sagen, dass das Ereignis einen tiefen Einschnitt in meinem Leben bedeutete; ebenso, wenn Sie sagen, dass ich ihm ähnlich bin. Zu ähnlich. Seinen Goethe lässt er einmal seine Schwester sein 'Weibliches Neben-Ich' nennen; ich war etwas wie sein Unter-Ich und eine Basis für ein vertrauliches, entspanntes Verhältnis konnte das, bei seiner gewaltigen und meiner um so vieles geringeren Persönlichkeit, nicht abgeben. Nun er nicht mehr ist, liegt das natürlich anders."

    Ohne Frage war nach dem Tod des Vaters, dem er sich ähnlich fühlte in der schriftstellerischen Passion wie der homosexuellen Neigung, der Weg endlich frei für die eigene intellektuelle Entfaltung. War dem Exilwerk, einer Biografie über den Publizisten und Napoleon-Gegner Friedrich Gentz, jahrelang nichts mehr Nennenswertes gefolgt, so veröffentlichte Golo Mann nun so bedeutende Werke wie die "Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts", ein Wallenstein-Buch, eine Biografie über Wilhelm II und als Herausgeber die zehnbändige "Propyläen Weltgeschichte" im Siedler Verlag.

    Die Hauptrolle bei Golo Manns Korrespondenz spielten jahrzehntelange Freunde wie unter anderen der Schweizer Journalist Manual Gasser, der Historiker und Kulturphilosoph Erich von Kahler, der Schweizer Feuilletonredakteur der NZZ , Hans Barth, der Schriftsteller Joseph Breitbach, der französische Gymnasiallehrer Adolphe Dahringer und der Verleger Ernst Klett. In den Briefen an die Weggefährten kommt immer wieder zum Ausdruck, was trotz seiner zunehmenden Bedeutung als Autor und politischer Ratgeber im bundesdeutschen Geschehen nie ganz getilgt werden konnte: Golo Manns Gefühl zwischen den Stühlen zu sitzen, wie er einmal in einem Brief an Joseph Breitbach im Jahre 1949 formuliert hatte. Das betraf seine private Situation, aber auch seine berufliche, hin- und herpendelnd zwischen Hochschultätigkeit und eigener Buchproduktion, hin- und hergerissen zwischen literarischer Berufung und der Beschäftigung mit historischen Themen. Gerade Letzteres verstand Golo Mann mit seiner Fähigkeit zur einfühlenden Erzählung von geschichtlichen Ereignissen aber ins ungemein Produktive zu wenden. Golo Mann vertrat den Standpunkt, dass ein gewisser Anteil an Poesie für den Historiker unabdingbar sei, um dem Einmaligen von historischen Persönlichkeiten und Konstellationen auf die Spur zu kommen. Die zunehmende Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung, die er selbst auch gar nicht als Wissenschaft anerkannte, ließ ihn eine Außenseiterrolle einnehmen.

    Aber als Verfasser von Erzählwerken - nicht umsonst trägt seine monumentale Wallenstein-Biografie den Titel "Wallenstein - Sein Leben erzählt von Golo Mann" - mit ihrer bildhaften Sprache, den Landschaftsschilderungen und den literarischen Skizzierungen von beispielsweise Intrigen an europäischen Herrschaftshäusern - genoss Golo Mann die Bewunderung vieler Zeitgenossen. Aber er sah sich auch immer wieder veranlasst, seinen Ansatz als Vertreter der narrativen Geschichtsschreibung zu verteidigen, zum Beispiel gegenüber dem Historiker Hans-Ulrich Wehler. Wehler schätzte Mann als eine Art Neuerer, der bestrebt war, die national orientierte Geschichtsschreibung zugunsten einer europäischen zu überwinden, beklagte aber offensichtlich Manns Theoriefeindlichkeit. In Bezug auf ein Werk des französischen Historikers Albert Sorel schreibt Golo Mann im Februar 1975 an Wehler.

    "Glauben Sie mir, den differenzierten theoretischen Apparat, den Sie verlangen, hatte der Mann nicht. Aber er konnte sehen, aufgrund seiner ungeheuren archivalischen und literarischen Forschungen. [...9 er sieht das Konkrete, er sieht alles in einem. Theorie könnte man aus seinem Werk allerdings deduzieren; aber er hatte keine. Er fand; er entdeckte."

    Wusste Golo Mann als Historiker seine Position zu verteidigen, so verstrickte er sich als politisch engagierter Zeitgenosse immer wieder in schwer nachvollziehbare Widersprüche. So unterstützte er die Ostpolitik Willy Brandts, wandte sich aber von der SPD wieder ab, weil er meinte, die Linke in der Partei nähme Überhand. Dann unterstützte er Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidaten oder nahm für Hans Filbinger Partei, als der wegen seiner Richtertätigkeit Ende des Zweiten Weltkrieges sein Amt als baden-württembergischer Ministerpräsident aufgegeben musste. Mann sichtete ein ums andere Mal politische Hetz-Kampagnen von links und meinte, sich engagieren zu müssen. Im Briefband ist aber auch ein geharnischter Protest-Brief an Edmund Stoiber zu finden, als der 1979 die "Sozialisten" und "Marxisten" in der SPD mit den Nationalsozialisten vergleicht. In einem weiteren Brief kündigt er dem Dramatiker Rolf Hochhuth den freundschaftlichen Kontakt auf unter anderem wegen Hochhuts Nähe zu dem Historiker und Holocaust-Leugner David Irving.

    Golo Mann war, so kann man ohne Übertreibung wohl sagen, geradezu besessen von tief empfundener Moralität und starkem Gerechtigkeitssinn. Er versuchte eine unabhängige Position zu verteidigen, die linke Ideologien ablehnte, aber auch gegen Revanchismus, Antisemitismus und Nationalismus kämpfte. Mit seinen wechselnden Parteinahmen irritierte er jedoch nicht wenige Zeitgenossen. Gekränkt reagierte er 1981 darauf unter anderem mit einem Brief an den linken Politikwissenschaftler Ossip K. Flechtheim:

    "Ich war immer, immer im Kern ein Konservativer, auch wenn ich die Nazis hasste! Auch wenn ich Brandts 'Ostpolitik' im Prinzip billigte und etwas dergleichen schon seit 1949 gefordert habe. Aber meine Motive waren nicht die von Brandt; sie waren realistisch."

    Golo Mann hatte es bis zu seinem Tode vorgezogen in der Schweiz zu bleiben, in seinem Elternhaus in Kilchberg am Zürichsee. Aber nichts lag ihm näher als die politische und gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland. In einem Brief an Ernst Jünger schrieb er, wie sehr es ihn verletze, dass er von keiner deutschen Universität jemals einen Ehrendoktortitel erhalten habe. Dieses ungeklärte Verhältnis zu Deutschland, ein Verhältnis voller Missverständnisse von beiden Seiten, war wohl die Ursache dafür, dass Golo Mann seinen Platz in diesem Land nie so recht gefunden hatte. Zum Verständnis dieses bedeutenden historischen Schriftstellers sind seine Briefe von unschätzbarem Wert.

    Golo Mann: Briefe 1932-1992
    Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Band 87
    Wallstein Verlag, Göttingen 2006
    535 Seiten, 34 Euro