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Lebensromane - Zehn Kapitel über das Phantasieren

"... und dieses Kind bin ich." So endet der berühmte Anfang von Gottfried Kellers Künstlerroman "Der Grüne Heinrich". "Der Mann, den Ruth Missmann 1933 heiratete, hieß Franz Rutschky." So schlicht und doch kunstvoll enden die "zehn Kapitel über das Phantasieren", die Michael Rutschky unter dem knappen und präzisen Titel "Lebensromane" vorgelegt hat. Sein Buch endet, bevor sein Autor geboren wird. Und so bleibt Raum für wenn nicht zahllose, so eben doch zehn Phantasien darüber, wie ein Lebensroman aussehen würde, wenn Menschen die Autoren ihres Lebensromans sein könnten. Und es bleibt Raum für den ernüchternden Vergleich zwischen Lebensentwurf und dem, was man nicht sehr originell die Härte des konkreten Daseins nennen könnte.

Jochen Hörisch | 11.01.1999
    Daß wir uns nichts vorschreiben lassen wollen und sollen - das ist der genuin moderne Imperativ. In der Zeit, in der Michael Rutschkys intellektuelle Sozialisation statthatte, nämlich in den bewegten 60er Jahren, hätte man gesagt: wir sollen uns von allen fremdbestimmten Zwängen emanzipieren. Die radikalste Fassung dieses modernen Emanzipationsimperativs stammt wohl aus der Feder des Frühromantikers Novalis: "Das Leben soll kein uns gegebener, sondern ein von uns selbst gemachter Roman sein." Autobiograph im radikalen Sinne des Worts sein - das ist auch nach der Hochzeit des Existentialismus der heiße Kern moderner Biographievorstellungen. Das Programm klingt gut, klappt aber nicht - wie Rutschky in stets erneuten Anläufen demonstriert.

    Schon das erste Kapitel - "Der Künstlerroman" - macht deutlich, daß Rutschky sehr bewußt das Diskussionsschema um 1800 wiederholt: dort die Romantiker mit ihren Postulaten vom Leben als Kunstwerk und dort die mehr oder weniger enthusiastisch Ernüchterten (wie Goethe und Hegel), die wissen, daß sich der Held von Künstlerromanen an der gegen- bis widerständigen Härte der realen Verhältnisse die Hörner abwetzt und früher oder später bescheiden den Schwanz einzieht. "Die Angst vor einer furchtbaren Ernüchterung" treibt aus nachvollziehbaren Gründen alle Helden seiner Geschichten vom phantastischen Leben um. Zum Beispiel auch den Sohn des erfolgreichen Selbständigen, der den Betrieb des Vaters nicht ¸bernimmt, sondern zum Stolz der Mutter Soziologieprofessor wird - aber nur an einer Fachhochschule, und dies, obwohl er Adornospezialist ist.

    Die Angst vor der Ernüchterung treibt aber auch - so die Fabel in der Komplementärgeschichte "Wir Aufsteiger / Der Gesellschaftsroman" - den erfolgreichen Hersteller von Plastikwaren um, der ahnt, daß zwischen Lebenssinn und Plastikwaren ein Abgrund klafft und der deshalb seine Tochter beeindrucken und ihr zum runden Geburtstag ein Fest in feinster Gesellschaft schenken will. Also wendet er sich an einen Zeitungs-Inserenten, der über beste Kontakte zum Adel und zur Medienprominenz verfügt.

    Ob politischer Roman oder Ritterroman, ob Schauerroman oder Zukunftsroman - Rutschkys Desillusionsschema ist stets dasselbe. Und dennoch stellen sich beim Lesen kaum Ermüdungserscheinungen ein. Das hat drei Gründe: zum einen ist Rutschkys Stil (man kann getrost von einem spezifischen Rutschky-Sound sprechen) so satt, prall und zugleich nüchtern, daß er über zehn parallel angelegte Geschichten trägt. Zum zweiten ist die tiefenstrukturale Grundeinsicht des Buches so schlicht wie tief: daß wir, die wir Autoren unserer Lebensgeschichten sein wollen, zugleich in Geschichten anderer und in die große Geschichte verstrickt sind. Und drittens: Rutschky versteht es, Lebensgeschichte(n) leichthändig mit Theorie zu füttern. Die Figuren, deren Lebensläufe und -irrwege er schildert, scheitern nie tragisch, häufig komisch, meistens melancholisch. Stets aber auf hohem Theorieniveau. Und das ist ja auch schon ein tröstlicher Gedanke. Man taugt dann immerhin dazu, zu illustrieren, daß Georg Lukács Konzept von der transzendentalen Obdachlosigkeit, der der Form des Romans Ausdruck gibt, auch für den eigenen Lebensroman gilt.

    Rutschky bemüht flink und elegant Freud und Marx, Ernst Jünger und Luhmann, Norbert Bolz und Bourdieu und viele andere mehr, um seine Ernüchterungsgeschichten mit theoretischem Unterfutter zu versehen. Um aber nicht nur zu loben: Genau an der Schnittstelle von Theoremen und Geschichten stellt Rutschky seine kleine Neurose aus. Angesichts des handfesten Tics, alle zitierten Theoretiker mit ihren akademischen Titeln vorzustellen - Professor Freud, Professor Luhmann, Dr. Tillmann Moser - muß und soll sich der Leser wohl fragen, ob der Autor, der so wohlgemut Theorie mit Lebensgeschichten et vice versa speist, überhaupt promoviert hat?

    Ob Dr. oder nicht: Michael Rutschky verwebt eher antisystematisch als systematisch - aber er verwebt. Er verwebt phantasierte und reale Lebensromane und Lebenstexturen mit den Texturen von Theorien, die durchweg Ernüchterungstheorien sind. Verweben, texere, verdichten: in dieser Strategie liegt die Stärke seiner Texte: Mit großer Hartnäckigkeit stellen sie die Gretchenfrage (und Gretchens Frage an Faust ist ja alle Anstrengung des Denkens wert): wer spricht, wer schreibt, wenn wir sprechen und schreiben? Wer ist der Bio-Graph unseres Lebens? Früher hätte man in solchen Fragekontexten wohl Rilke zitiert: "Auf welches Instrument sind wir gespannt? / Und welcher Geiger hat uns in der Hand?"

    Rutschky mag nun alle möglichen Gewährsleute haben - Rilke dürfte nicht dazu zählen. Dennoch: Die Schlußzeile von Rilkes Gedicht verweigert die Antwort und gibt sie doch: "O s¸ßes Lied". Also: Nichts läge ferner, als Rutschkys Lebensromane mit Rilkes Formel zu beglaubigen. Dennoch: Die Ernüchterungen, die er romanesk in Szene setzt, haben ein delirantes, ab und an gar ein enthusiastisches Moment. Es wohnt jedem gepflegten Zynismus inne: Noch das gescheiterte und gerade das gescheiterte (also jedes) Dasein hat sein Pathos. Und wenn es, wie im vorliegenden Fall, das Pathos dessen ist, der weiß, daß es noch Geschichten zu erzählen gibt jenseits der Geschichte und der großen Erzählungen.