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Lebensthemen

Ach, all diese schönen Sätze! Stoßseufzerisch durchfährt es den Rezensenten, mit einem Quentchen Neid. Denn jener, der diese Sätze schrieb, schrieb sie zumeist in seiner Eigenschaft als Rezensent, als Zaungast des literarischen Gewoges, Philosoph nämlich war seine eigentliche Profession. Und so konnte er, von keinem Spott beirrt, elegisch werden, wo andere zynisch kritteln. Das hört sich dann, Notizen zu Thomas Mann, so an: "Wer möchte denn Goethe sein? So gnadenreich es ist, ihn gewesen zu wissen, so peinigend wäre es, er noch einmal sein zu müssen."

Florian Felix Weyh |
    Hans Blumenberg, 1996 im münsterländischen Altenberge gestorben, war kein Mann der groben Attacke; aber solch ein Eröffnungssatz zu einem Mann-Gedenkblatt intoniert seine Skepsis verletzender, als es mancher Frontalangriff vermag. Denn alle Mann-Leser wissen, daß der begnadete Weltdichter-Darsteller sehr wohl der Goethe seiner Zeit sein wollte, auch wenn ihm ein Zweitgoethe namens Hauptmann in die Wade biß. Von der Pein, nur Imitat zu sein, keine Spur. Das unterscheidet den Dichter vom Philosophen; letzterer lebt im universalen Schmerz, Triebfeder seiner unaufhörlichen Fragen an die Welt, ersterer ist spätestens dann von allem Fragen abgestillt, wenn genügend Liebe (vulgo: Anerkennung) auf ihn niedergeht. Weil es sich der Dichter damit wesentlich leichter macht als der Philosoph, wird er zum bevorzugten Objekt des Denkarbeiters. Und so kommt es, daß der kleine, gelbe Reclamband mit nachgelassenen Glossen, Essays, Rezensionen und Gedenkblättern zwar "Lebensthemen" heißt, sich diese Themen aber an Personen festmachen lassen: den Nur-Literaten Hebbel, Schnitzler, Valéry, Mann und Benn, den philosophisch-literarischen Hybriden Montaigne, Nietzsche, Schopenhauer und den "reinen Denkern" Husserl, Wittgenstein und Ernst Mach. Der Reinste aller Denker, der im Denken den Anschluß zur Welt verlor, war der Unreinste aller Formulierer. Für ihn hat Hans Blumenberg ein vernichtendes Sprachurteil parat: "Auch die Ausbildung einer eigenen ‘Kunstprosa’ für den phänomenologischen Innengebrauch ist mit Heideggers ‘Sein und Zeit’ mißlungen, denn diese hochaggregative Sprache konnte zwar imitiert, aber nicht verstanden werden."

    Blumenberg hingegen versteht jeder. Er gehörte zu einer in diesem Jahrhundert aussterbenden Spezies der zwar akademisch bestallten, dennoch ihr außeruniversitäres Publikum nicht verachtenden Meisterdenker. Der Laie, der Amateur, der klassische Idiot – Blumenberg fühlte sich ihm vielfach verbunden, seine Fragestellungen waren naiv, sein Staunen konnte grenzenlos kindlich sein. Irrfahrten im Labyrinth philosophischer Systeme waren für Blumenberg kein Thema, sein flanierendes, bildungs- und bildergesättigtes Denken lädt auch nach seinem Tod zum Weiterschreiten ein. Billiger, praktischer und genußvoller als mit diesem Reclambändchen ist wohl kein Einstieg ins Werk eines zeitgenössischen Denkers zu haben, der bei aller Verständlichkeit immer vornehme Subtilität bewahrte. Wunderbar etwa, wie die Kapitulation des Philosophen vor den Klippen der Sexualität ganz beiläufig in eine Nebenbemerkung zu Paul Valéry einfließt: "Der späte, der verspätete Faust weiß längst, was Ernst Mach gewußt hatte: daß das Ich eine Empfindungswolke ist, sich in jede intensive Erfahrung preisgeben kann, sobald sich die Anstrengung der Selbsterhaltung löst."

    Eine Empfindungswolke – so lyrisch kann die Frage nach der menschlichen Identität beantwortet werden. Und noch ein Satz, aus dem Blumenbergschen Sprach/Erkenntnis-Universum: "Der Eine ist der Grenzfall zu Keinem."

    Dieses Diktum einer lebenslangen narzistischen Kränkung findet sich im Essay über die Wirksamkeit von Geschriebenem: Reicht es, so die quälende Frage, den einen, wirklichen Leser zu finden? Damit tröstete sich schon Arthur Schopenhauer über die vierzigjährige Mißerfolgsgeschichte seines Hauptwerks hinweg, doch Blumenbergs gnadenloser Mengenlehre-Einwand hält dem Narziß den Spiegel vor: Ein Leser ist fast niemand. Verstreute Einzelne sind immer noch Grenzfälle zum Nichts. Auch wer die Quote haßt, muß zugeben: Erfolg beginnt erst bei der Menge. Für beide, Leser wie Autor, hält Blumenberg indes einen tröstlichen Satz bereit: "Auch ein Buch kann zuschlagen, wen am Wegwerfen heilige Scheu hindert. Der Autor erfährt es nicht, denn zum Glück sind nicht alle Leser Rezensenten."

    Zum Glück spricht hier ein Rezensent. Der sagt: Dieses Buch wird er noch öfter aufschlagen. Seinem Beispiel Folge zu leisten, zahlt sich aus.