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Lebenszeit im Labor

Die Londoner Regisseurin Katie Mitchell inszinierte am Schauspiel Köln "Die Wellen". Das Stück basiert auf dem Roman von Virginia Woolf und feierte Premiere.

Von Karin Fischer | 19.02.2011
    Katie Mitchells Inszenierungen sehen oft aus wie Laborsituationen. Auf der Bühne nur ein einziger breiter Tisch, davor sind kleine Kameras platziert, dahinter eine Leinwand. Rechts und links Regale mit Utensilien. Tatsächlich werden hier auch Menschen untersucht: Aus wie vielen Einzeleindrücken lässt sich eine Bühnenfigur zusammensetzen? Ein Beispiel: Der normale, geschauspielerte Dichter auf der Bühne notiert etwas in ein Heft und liest es dabei vor. Bei Mitchell liest ein Schauspieler das Notierte, die Kamera beobachtet aber das Gesicht eines zweiten und projiziert es auf die Leinwand, während eine Schauspielerin, drittens, die entsprechenden Geräusch auf einer Schiefertafel klopft. Eine Zugfahrt wird so zum auch akustischen Verwirrspiel.

    Im schlechteren Fall sieht das aus wie eine Sezierstunde; im besseren aber ermöglicht Mitchell mit ihrem Zauberbaukasten ganz neue, fast synästhetische Erfahrungen. In der bewussten Undeutlichkeit einer fast immer ganz dunklen Bühne werden Bild, Sprache und Geräusche getrennt erzeugt und setzen sich eigentlich erst im Kopf des Zuschauers zusammen.
    Beim "Wunschkonzert" nach Franz Xaver Kroetz, der ersten Mitchell-Inszenierung für Köln, sah das aus wie das perfekt inszenierte "Making Of" eines Films. Auch "Die Wellen" ist von fast maßloser Präzision erfüllt, zumindest der Anfang aber geht schief, weil in Hektik unter. Die Musik ist oft dominant, der Text-Bild-Zusammenhang erschließt sich dadurch nur schwer, es droht der sensitive Overkill. Erst im Lauf des Abends wird klar, wie klug diese Ästhetik gerade zu Woolfs Text gewählt ist. Denn "The Waves" war schon damals, 1931, eine Aufsehen erregende, radikal subjektive Innenschau, die ganz das Empfinden in den Vordergrund stellt. Woolf lässt drei Männer und drei Frauen, die Kindheit und Jugend miteinander verbracht haben und sich auch später regelmäßig sehen, praktisch ausschließlich monologisieren und räsonieren; dazwischen geschaltet: das Bild eines Strands an der Küste, die Wellen im Tageslauf, die das Älterwerden markieren. Hauptthema ist die eigene Identität. Wie die Wellen sich am Strand brechen, bricht sich die Wirklichkeit immer nur in den Gedanken der sechs Protagonisten.

    Woolfs impressionistische Seeleninspektion ist auch autobiografisch geprägt, sich selbst hat sie in der Figur der zweifelnden Rhoda verewigt, und Mitchell zeigt genau das: die radikal zersplitterte Subjektivität, die Woolfs Text ausmacht. Denn man bekommt ja nie die ganze Person, immer nur Ausschnitte. Genial, wie die Regisseurin uns sogar sehen lässt, was man gar nicht sehen kann, beispielsweise Rhodas Albträume. Eine U-Bahn-Fahrt wird vorgetäuscht, mit Geräuschen und indem jemand durch wischende Bewegungen vor der Kamera einen optischen "Wackler" erzeugt. Es ist alles da, in kleinen Kästchen handgemacht: die Pfütze auf dem Pflaster, ein Garten, ein Zugabteil, die nackten Füße im Sand. Eine Taxifahrt wird hergestellt, indem die Kamera Jinnys Gesicht hinter einer nassen Glasscheibe erfasst, ein ganzes Restaurant entsteht akustisch. Einfach genial.

    Dennoch ist eine solche Inszenierung immer eine Gratwanderung zwischen Konzept und Spiel; ob Technik oder sinnliches Erleben dominieren, hängt wohl auch davon ab, wie sehr sich der Zuschauer von ihr faszinieren lässt oder sie ausblenden kann. Dabei hat auch der Text umwerfende Momente:

    "Tropfen auf Tropfen", sagte Bernard, "fällt das Schweigen. Es bildet sich am Dach des Geistes und fällt in darunter liegende Teiche. Auf immer allein, allein, allein – hör, wie das Schweigen fällt und seine Ringe bis zu den entferntesten Rändern breitet. Sattgegessen und voll, angefüllt mit der Zufriedenheit des mittleren Alters, lasse ich, den die Einsamkeit zerstört, das Schweigen fallen, Tropfen um Tropfen."

    Das Ende des Buches, das das Aufgehen des Individuums im großen Ganzen und ein starkes Aufbegehren gegen den Tod enthält, ist gestrichen. Das Lebendigsein behauptet sich in Köln gerade so gegen andere Züge, gegen Trauer und Depression. Zum Schluss aber hört man auch hier die Wellen. Ein irrlichternder Abend findet sein tröstliches Ende.