Es gab Zeiten, da fand man die Topmodels noch auf der Straße.
"Sie war in Paris gewesen, wo sie europäische Kleider gekauft hatte. Als sie eines Tages durch New York schlenderte, trat sie aus Versehen auf die Fahrbahn. Da kam ein Auto kam, und sie wäre mit Sicherheit überfahren worden, aber irgendjemand aus der Menge riss sie zurück und rettete ihr Leben", sagt Antony Penrose, der Sohn von Lee Miller.
"Dann stellte sich heraus, dass es sich dabei um niemand anderen als Condé Nast handelte, den Chef des enormen Zeitschriftenimperiums, zu dem zu jener Zeit Vanity Fair, Vogue und etliche andere Blätter gehörten."
Wenige Wochen später strahlten ihre hinreißend blauen Augen zum ersten Mal auf der Titelseite der amerikanischen Vogue. Das war 1926 und Lee Miller gerade mal 19 Jahre alt. Sie war unglaublich schön, völlig unkonventionell, ein Partygirl, das allerdings schon in ein paar Abgründe geschaut hatte. Umgehend avancierte sie zum Topmodell, zum Star im wilden New York der 20er-Jahre.
Doch Lee Miller pflegte Gipfel nicht zu erstürmen, um sie zu bewohnen. Nach zwei Jahren vor der Kamera, nach einer Zeit intensiver Zusammenarbeit mit den berühmtesten Modefotografen, entwickelte sie das Bedürfnis, selbst zu fotografieren. Vor allem aber zog es sie zurück nach Paris, wo sie als 17-Jährige ein paar aufregende Monate verbracht hatte. In Paris lernte sie dann den amerikanischen Fotografen und surrealistischen Künstler Man Ray kennen.
"Lees Begegnung mit Man Ray war sehr turbulent. Man war völlig verschossen in sie. Das Problem war nur, sie wollte von niemand eingeengt werden. Sie war entschlossen, ihre Freiheit und ihre Individualität zu erhalten. Und Man Ray wollte sie heiraten, sie besitzen und an sich binden."
Für die Liebe nach Ägypten
Sie lebte und arbeitete fast drei Jahre mit Man Ray, durch ihn lernte Lee die bedeutendsten Künstler ihrer Zeit kennen, zum Beispiel Pablo Picasso, der sie siebenmal porträtieren wird. In Paris eröffnete sie auch ein eigenes Fotostudio, dann zog es sie wieder nach New York, wo sie es zu einigem Ansehen als Fotografin brachte. Dort lernte sie den Ägypter Aziz Eloui Bey kennen und lieben. Jetzt begann wieder ein anderes ihrer Leben. Mit Aziz Eloui Bey zog sie nach Kairo.
"Ein ganzes Jahr lang hat sie versucht, eine gute Ehefrau zu sein, sie hat sich wirklich Mühe gegeben. Sie hat sogar Golf gelernt. 1937 ist sie dann nach Paris geflogen. Sie war auf einer Party und der Erste, den sie traf, war Roland Penrose."
1939, kurz vor Kriegsbeginn, verließ sie Ägypten und ihren Ehemann und zog zu Penrose nach London. Ihr Freund, der Fotograph David Scherman, erinnert sich:
"Ich ging zu einer Menge verrückter Partys. Es war eine irre Zeit während des Krieges. Lee und Roland hatten einen Salon, wo alle hinkamen: Politiker, Parteichefs, Journalisten, Maler, Wissenschaftler. Da traf sich regelmäßig so eine Art Who is Who von London."
Während der deutschen Luftangriffe auf England gelingen Lee Miller bizarre Aufnahmen der Zerstörung.
"Die Fotos sind noch relativ artistisch, kann man sagen, die sind zum Teil kunstvoll inszeniert", sagt die Kunsthistorikerin Kerstin Stremmel. "Da ging es darum, so eine Ruinenästhetik zu inszenieren und eben auch den Durchhaltewillen der Briten kenntlich zu machen. Die Bilder sehen ganz anders aus als die, die sie dann später in Deutschland gemacht hat."
Der schöne Bildband von Becky E. Conekine über Lee Miller als Modell, Fotografin und Muse schildert Leben und Werk bis zum Zweiten Weltkrieg. Conkine beschreibt anschaulich und im klug gezoomten Detail die teilweise märchenhaften, dann aber auch wieder dramatischen Umstände ihres Lebens. Sie zeigt eine Frau, die in sagenhafter Grandezza stets zu neuen Ufern aufbricht. Die Auswahl der Fotos mit Lee Miller als Modell oder von ihr als Fotografin könnte auch einen Verächter verführen, in der Modefotografie eine Kunst zu entdecken. Doch dann begann eine andere Zeit.
Ein neues Leben im Krieg
"Als Amerika in den Krieg trat, wollten alle amerikanischen Korrespondenten in London die Uniform. Und ich hatte ihr gesagt, warum lässt du dich nicht akkreditieren und dir eine Uniform geben," berichtet David Scherman, der in jenen Tagen auch ihr Liebhaber war.
"Lee nahm das sehr ernst und beschloss, Kriegsfotografin zu werden. Vogue war ziemlich skeptisch. Sie wollten allenfalls so eine Art Sozialreporterin, sie wollten aber keine Frau als Kriegsfotografin. Dann kam der D-Day, der Tag der Landung, und wir kamen in die Normandie und erwarteten, dass Lee sich im Hintergrund halten würde, aber sie blieb keineswegs hinter der Front."
Kriegsfotos in der "Vogue"
"Und das Irreste ist ja, dass die Fotos alle in Vogue erschienen sind. Das ist eigentlich eine ganz abstruse Angelegenheit, weil man Vogue ja eigentlich überhaupt nicht mit solchen Fotos in Verbindung bringt", sagt Klaus Bittermann, Verleger der Edition Tiamat, in der das ganz und gar staunenswerte Buch der Kriegsreporterin Lee Miller erschienen ist: "Krieg. Mit den Alliierten in Europa 1944-1945". Und hier entdecken wir Lee Miller in einem ganz neuen Genre: der Reportage, dem geschriebenen Text. Und diese Texte haben es in sich.
"Es waren ja viele Kriegsjournalisten damals unterwegs und haben berichtet über solche Sachen. Aber es gibt nur wenige, die mit einer eigenen literarischen Stimme darüber so sprechen, dass sie es uns auch tatsächlich nahebringen. Das ist bei Lee Miller, glaube ich, schon ziemlich einzigartig. Da gibt es nicht viele."
Zitat: "Zur Belagerung von Saint Malo fuhr ich per Anhalter. Meine Matratze hatte ich selbst mitgebracht, um Unterkunft und Verpflegung bettelte ich. Eine ausgezeichnete Sicht auf eine Festung, die an die Zeiten der Kreuzzüge denken ließ, hatte ich gewissermaßen von der Haupttribüne. Eigentlich hatte ich gedacht, dass seit den prunkvollen Gemälden aus napoleonischen Tagen der Blick auf eine Schlacht vom Feldherrnhügel herab aus der Mode gekommen war."
Klaus Bittermann: "Sie arbeitet auch mit zum Teil ironischen Stilmitteln, sarkastischen Stilmitteln. Wenn sie zum Beispiel die Kapitulation der Deutschen in St. Malo beschreibt, wie sie da unbedingt noch eine Parade abnehmen müssen, wollen, vor ihrem General, für solche Leute hat sie nur Hohn und Spott übrig. Wenn die Deutschen noch auf so eine gewisse Etikette achten, wo eigentlich schon alles in Schutt und Asche liegt."
"Ein gutes Jahr lang sah sie mit gelegentlichen Ausnahmen aus wie ein ungemachtes und ungewaschenes Bett. Sie trug olivfarbenen Drillich und schmutzige GI-Stiefel. Und sie schlang, ohne Pille oder Pulver, jede Art Futter herunter, dass der jeweilige Kantinensergeant noch als solches für geeignet hielt. Es bekam ihr gut", schreibt David Scherman im Vorwort zu diesem Buch. Und die Kunsthistorikerin Kerstin Stremmel vermutet:
"Es war natürlich auch eine Methode für sie als begehrtes Objekt von Fotografen, was sie als Geliebte von Man Ray, als Modell für die Vogue, als fotografiertes Objekt lange Zeit war, es war wahrscheinlich auch ein Befreiungsschlag, sich in übrigens auch selbst erfundenen Armyklamotten als Combatwoman zu inszenieren - was jetzt nicht ihr politisches Engagement und die Qualität ihres Werkes infrage stellen soll."
Kunstlose Fotos
Lee Miller gehörte auch zu den Reportern, die die Befreiung von Paris miterlebten. Sie schildert die unglaubliche Euphorie der Befreiung, sie schildert den Hass, mit dem die Kollaborateure durch die Straßen getrieben wurden, und wie Frauen, die sich mit Nazis eingelassen hatten, der Kopf kahl geschoren wurde.
Kerstin Stremmel: "Ich denke, dass sie sehr bewusst kunstlos sind. Das ist das Interessante. Lee Miller hat selber auch gesagt, ich mache Dokumentation und keine Kunst. Und das ist auch offensichtlich. Sie war in ihrer Arbeit in Paris und dann in Amerika 1932 als Gesellschaftsfotografin eine vollkommen andere Bildsprache gewöhnt. Sie war natürlich auch als äußerst glamouröses Fotomodell bekannt. Und insofern war es überraschend, dass sie dann, als sie Kriegsberichterstatterin wurde, auf einmal ihre Bildsprache vollkommen geändert hat.
Lee Miller besuchte auch ihre alten Freunde, die die Besatzung überstanden hatten: Picasso, Cocteau, und sie schreibt eine hinreißende Reportage über die alte Colette, die sie in ihrer Wohnung im Palais Royal einen Nachmittag lang besucht.
Das Wiedersehen mit Paris währt nicht lange. Lee Miller folgt den amerikanischen Truppen bei ihren letzten, doch furchtbaren Kämpfen gegen die Deutschen. Sie setzt sich an die Spitze der Bewegung und ist dabei, als amerikanische und russische Truppen in Torgau zusammenstoßen. Mit David Scherman fährt sie Richtung München. In Dachau machen sie die ersten Aufnahmen der Befreiung des Konzentrationslagers.
Zitat: "Deutschland ist ein schönes Land - mit Dörfern wie Juwelen und zerbombten Stadtruinen -, und wird von Schizophrenen bewohnt. Es gibt blühende Landschaften und schöne Aussichten; auf jedem Hügel thront ein Schloss (...), die Kinder haben Stelzen, Murmeln, Kreisel und Reifen und spielen mit Puppen. Mütter nähen, putzen und backen, Bauern pflügen und eggen; alles wie bei richtigen Menschen. Aber das sind sie nicht. Sie sind der Feind. Dies ist Deutschland, und es ist Frühling."
Bittermann: "Lee Miller hatte einen sehr kühlen Blick, sehr distanzierten Blick, fast schon einen Blick wie auf ein Insekt. Und das macht die Härte der Fotos aus, die sie gemacht hat, vor allem die Lagerfotos. Wenn man die heute noch mal anschaut, die zerschlagenen Gesichter der SS-Leute oder von Nazis, wie der Familie des Oberbürgermeisters von Leipzig, die sich selbst umgebracht hat."
In München besichtigen Miller und Scherman auch die Privatwohnungen von Hitler. Da entsteht eines der berühmtesten Bilder mit Lee Miller. Das Ex-Supermodell posiert in Hitlers Badewanne.
Scherman: "Lee nahm ein ausgedehntes, lange überfälliges Bad in Hitlers Wanne, während ein wutschnaubender Leutnant mit Seife und Handtuch in der Hand an die verschlossene Badezimmertür klopfte."
In Eva Brauns Bett
In München durchstöbert sie das Haus von Eva Braun und beschreibt minutiös die Einrichtung und den Stil: "Ich machte ein Nickerchen auf Evas Bett und probierte die Telefone aus, die mit "Berlin", "Berchtesgaden", "Wachenfeld" gekennzeichnet waren. Es war bequem, aber auch makaber: ein Fensterladen war aus massivem Stahl, der andere mit klappbaren Auslegern verbarrikadiert, ich döste auf dem Kissen eines Mädchens und eines Mannes, die jetzt tot waren, und ich war froh, dass sie tot waren, wenn es denn stimmte."
Im März 1945 verbringt sie einige Tage in Köln und berichtet über die zerstörte Stadt: "Die ersten Tage in Köln bestanden aus einer Reihe widerlicher und erschreckender Begegnungen. Schätzungsweise 100.000 Menschen leben in den Kellergewölben der Stadt, die nur noch ein Skelett ist. Man sah immer nur wenige Deutsche auf einmal, und die waren in ihrer Unterwürfigkeit, Scheinheiligkeit und Liebenswürdigkeit schlicht ekelerregend. Das unterirdische Netzwerk bewohnter Keller spie immer mehr Würmer aus."
Bittermann: "Was sie aufgeregt hat vor allem, das ist, glaube ich, die Empathieunfähigkeit der Deutschen gewesen."
Im Greven Verlag ist zu den Aufnahmen vom zerstörten Köln ein eigener bemerkenswerter Bildband erschienen: "Köln im März 1945". Kluge Texte von Walter Filz und Kerstin Stremmel kommentieren die Fotos.
Kerstin Stremmel: "Sie ist dann mit den Alliierten über Aachen nach Köln gekommen und hat wie eine Besessene fotografiert - aber ohne Überhöhung, ohne Inszenierung. Es geht wirklich um die Fülle der Bilder und um die Abfolge, die vor allem interessant ist. Wenn man so sieht, wie sie beispielsweise in Klingelpütz in Köln Fotos gemacht hat von den befreiten Gefangenen und dann ist sie von dort direkt an den Ring gegangen und hat eben relativ zufrieden wirkende Mädchen, die am Kaiser-Wilhelm-Ring in der Sonne sitzen und rauchen, fotografiert. Es ging tatsächlich um die Frage, sieht man den Menschen an, was sie getan haben? Ich glaube, das hat sie umgetrieben in Deutschland. Künstlerisch ambitionierte Fotos zu machen war in ihren Augen überhaupt nicht angemessen."
Es sind sonderbare Bilder: Im Hintergrund apokalyptische Zerstörung, im Vordergrund macht sich eine unheimliche Normalität breit. Ein offenbar gut situiertes deutsches Paar plaudert mit einem GI vor dem Excelsior Hotel, in dem eine amerikanische Behörde untergebracht ist. Im Stadtteil Nippes studiert ein älterer Mann mit Fahrrad und glänzend polierten Stiefeln öffentliche Bekanntmachungen auf einer Hauswand. Vor der Agnes-Kirche lauscht eine Ansammlung von Menschen Bekanntmachungen aus einem Lautsprecherwagen.
"Was ich nie vorher auf Bildern dieser Zeit gesehen habe, war die Fülle der ganz gut angezogenen Leute mit Fahrrädern", sagt Kerstin Stremmel.
Fast schon lakonisch: ein toter junger Flakhelfer, dem beide Hände weggerissen wurden, an den Stümpfen stecken noch Skalpell und Schere, mit denen vermutlich ein Sanitäter versucht hatte, die Blutungen zu stoppen. Vergeblich.
"Sie hat extrem direkte Bilder gemacht. In dem Köln-Konvolut gibt es nur ein Bild, das in diesen Kontext passt. Das ist ein junger Flakhelfer, der auf dem Boden liegt und keine Hände mehr hat, und da hat sie die Kamera wirklich unglaublich direkt draufgehalten."
Fotos landeten auf dem Dachboden
Aber genauso direkt und kunstlos hat sie auch die Leichenberge in Buchenwald und Dachau fotografiert. Walter Filz schreibt in seinem Nachwort:
"Rückwärtig visionär von einem etwas abgehobeneren Standpunkt - das ist noch immer die Kölner Sicht auf die Kriegszerstörung der Stadt. Für einen kurzen historischen Moment hat eine Frau mit einer Kamera den Nebel unterlaufen und deutliche Bilder auf Bodenhöhe gemacht, bevor sich die diffusen Schwaden Kölner Selbstverklärung über die Trümmer legen konnten. Lee Miller sah im Kaputten nur das Kaputte. Für Kölner konnte das keine Perspektive sein. Doch die Bilder waren auch nicht für Kölner gemacht. Da kam eine Frau mit der Kamera, ließ sich von nichts beeindrucken und von niemandem berühren und ging wieder. Noch heute ist der distanzierte Blick von außen auf die Stadt für viele Kölner eine Zumutung."
Der Krieg ist aus. Lee Miller schreibt noch zwei Reportagen über die Situation in Österreich und Ungarn nach dem Krieg, dann zieht sie nach England, heiratet Roland Penrose. 1947 wird ihr Sohn Antony geboren. Und dann holt sie der Krieg wieder ein. Klaus Bittermann:
"Das ist ein Phänomen, das nicht nur bei Lee Miller zu beobachten war, sondern auch bei vielen anderen Kriegsreportern hat eine große Depression stattgefunden. Nicht nur das Element der Befreiung, sondern danach gab es auch eine große psychische Depression. Und für Lee Miller, die den englischen Maler Roland Penrose geheiratet hat, dann aber sich wirklich dem Alkohol hingegeben hat. Sie hat nie wieder etwas geschrieben oder Fotos ausgestellt, hat mit diesem Leben plötzlich völlig gebrochen.
Sie wird sich später wieder erholen. Doch ihre Fotos verstaut sie in Kisten auf einem Speicher in ihrem englischen Landhaus. Jedem, der danach fragt, erklärt sie, dies seien alles bedeutungslose Arbeiten aus längst vergangenen Tagen. Erst nach ihrem Tod 1977 wird ihr Sohn die Schätze bergen und die Welt an Lee Miller, an ihre ganz und gar erstaunlichen Fotografien und Texte, an diese außergewöhnliche Frau erinnern.
Lee Miller: "Krieg. Mit den Alliierten in Europa 1944-1945". Reportagen und Fotos. Herausgegeben von Antony Penrose. Aus dem Englischen von Andreas Hahn und Norbert Hofmann. Ed. Tiamat, Berlin 2013, 272 Seiten
Lee Miller, "Köln im März 1945". Greven Verlag, Köln 2013, 119 Seiten
Becky E. Conekin, "Lee Miller. Fotografin, Muse, Modell". Aus dem Englischen von Claudia Kotte und Harriet Fricke. Scheidegger & Spiess Verlag, Zürich 2013
Lee Miller, "Köln im März 1945". Greven Verlag, Köln 2013, 119 Seiten
Becky E. Conekin, "Lee Miller. Fotografin, Muse, Modell". Aus dem Englischen von Claudia Kotte und Harriet Fricke. Scheidegger & Spiess Verlag, Zürich 2013