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Leeuwarden in den Niederlanden
Klein, friesisch und kulturell vielseitig

Leeuwarden mit gut 100.000 Einwohnern ist der Verwaltungssitz der Provinz Friesland. Grachten, Geschichte und eine blühende Kulturszene bietet die kleine niederländische Stadt - die im kommenden Jahr sogar Europäische Kulturhauptstadt sein wird.

Von Robert B. Fishman | 24.09.2017
    Historische Gebäude der Waage (rechts) an der Stadtgracht in Leeuwarden
    Wie auch Amsterdam ist die Stadt Leeuwarden von Grachten durchzogen. (picture alliance/dpa - Robert B. Fishman)
    Ein Elektroboot gleitet durch die Kanäle der Leeuwarder Innenstadt. Auf dem nassen Kopfsteinpflaster glitzert das gelbe Licht der verschnörkelten, schmiedeeisernen Straßenlaternen. Junge Leute radeln auf schweren Hollandrädern gemächlich über die von unten blau beleuchteten Brücken. Viele haben ihre Lenker mit Blumen dekoriert. Auf den Bänken an der weitgehend autofreien Nieuwestad sitzen Menschen entspannt in der Abendsonne. In den Kneipen und Straßencafés genießen die Leeuwarder den Feierabend.
    Vor den niedrigen Brücken müssen große Passagiere auf dem Elektroboot den Kopf einziehen. Charlotte Kraft erzählt unterwegs vom Leben in Leeuwarden heute und früher:
    "Hier haben früher sogenannte Trekschouten angelegt. Das waren früher die Passagierschiffe und die sind gezogen worden von Pferden entlang des Kanals, manchmal auch von Menschen. Das war früher so etwas wie heute der öffentliche Verkehr."
    Einst eine Handels- und Garnisonsstadt
    Vom Boot aus scheinen die drei-, vierstöckigen Grachtenhäuser hoch: Rote Backsteinbauten, manche mit Stuckverzierungen an den Fassaden, große Fenster, Postkarten-Holland, genauer gesagt Friesland.
    "Leeuwarden war damals im 19. Jahrhundert eine Handels und Garnisonsstadt. In den vielen Herbergen haben Soldaten geschlafen, viele Händler und auch die Leute von den Trekschouten. Und hinter den Häusern, in der nächsten Gasse, da haben ziemlich viele arme Leute gewohnt und so hat es dazu geführt, dass die Frauen dort ihre speziellen Dienste angeboten haben. Und die Gemeinde fand das natürlich nicht so toll und deswegen hat die Gemeinde das erste, jetzt können wir es sehen, das erste offizielle Bordell in Leeuwarden bauen lassen. Das war 1892."
    Wildes Großstadtleben im späten 19. Jahrhundert.
    "Die Kirche fand das überhaupt nicht gut und die wollten den Huren Schaden zufügen. Und so hat die Gemeinde die Polizei beauftragt, die Huren zu bewachen. Leeuwarden hatte damals übrigens die höchste Hurendichtheit nach Rotterdam."
    Inzwischen ist es ruhig geworden in Leeuwarden. Das Bordell ist längst verschwunden. Charlotte Kraft, Österreicherin aus der Steiermark, mag ihre beschauliche flache Wahlheimat.
    "Es fühlt sich an wie ein Dorf. Die Leute sind freundlich, auch wenn man sagt, die Friesen sind so eigensinnig und verschlossen. Ich empfinde das überhaupt nicht so. Wir haben vier verschiedene Festivals für vier verschiedene Musikrichtungen. Man kann immer fortgehen, in Museen gehen es gibt wechselnde Ausstellungen."
    Friesische Kultur, Identität und Kunst in einem modernen Bau
    Zum Beispiel im Friesischen Museum, das sich mit der Geschichte und Kultur der eigenwilligen Region am Nordwestrand der Niederlande beschäftigt. Vor 130 Jahren haben ein paar Leute damit angefangen, Alltagsgegenstände aus Friesland zu sammeln. Weil die Leute so viele Dinge vorbei gebracht haben, gründete man ein Museum. Das residiert seit 2013 in einem hypermodernen Neubau aus Glas und Stahl in bester Innenstadtlage.
    "Im Museum zeigen wir die friesische Kultur, Identität und Kunst. Das ist es Museum der gesamten Provinz, die einmalig in den Niederlanden ist", erklärt Museumssprecher Rouke van der Hoek.
    "Wir haben zum Beispiel das Schwert von Grütte Pier, dem großen Peter. Hier gilt er als Held und im Rest der Niederlande als Bösewicht, weil er einen Krieg gegen andere holländische Stämme geführt und viele Holländer umgebracht hat."
    Als vor gut 1.500 Jahren die Holländer Friesland eroberten, lebte der Grütte Per, der große Peter, friedlich mit seiner Familie auf einem Bauernhof. Die Eroberer ermordeten seine Frau - und er sann auf Rache.
    Die Österreicherin Charlotte Kraft erzählt die Geschichte all ihren Gästen auf dem Boot:
    "Er hat ein Heer zusammengestellt und ist auf der damaligen Zuidersee, dem heutigen Ijsselmeer, mit seinem Boot gefahren und hat die Leute dort in Angst und Schrecken versetzt. Viele Nordholländer haben probiert, sein Boot zu entern und die mussten einen Satz sagen: Ich kann das leider nicht so gut, weil ich auch nicht friesisch bin, aber das ist halt auf Friesisch: Butterbrot und grüner Käse, wer das nicht sagen kann, ist kein echter Friese. Alle anderen Leute, die nicht Friesen waren, konnte das natürlich nicht sagen und der Legende nach hat der Grütte Pier ihnen mit seinen 2,13 Meter langen Schwert den Kopf abgehackt."
    Den erlösenden Satz kennen und beherrschen auch heute noch fast alle Friesen:
    "Butterbrot und grüner Käse."
    Institut für friesische Sprache
    Mirjam organisiert Friesischkurse. Dazu arbeitet sie am 1927 gegründeten Institut für die friesische Sprache, dem Afûk. Die Sprachkurse sind gefragt.
    "Die meisten lernen friesisch, weil sie Teil der hiesigen Gemeinschaft sein wollen. Wenn du hierherziehst und nicht von hier bist, möchtest du deinen Nachbarn verstehen, die lokale Zeitung lesen und das lokale Radio verstehen. Ein anderer Grund ist, dass viele die Sprache für ihren Job brauchen."
    Lange Zeit galt Friesisch als Sprache der Hinterwäldler. Noch in den 50er-Jahren sollte ein Bauer Strafe zahlen, weil er seine Milchkannen auf Friesisch statt auf Niederländisch beschriftet hatte. Ein Proteststurm brachte die Behörden zum Einlenken. Inzwischen ist Friesisch offizielle Sprache der Provinz mit ihren 635.000 Einwohnern.
    "Vielleicht sind die Leute selbstbewusster geworden. Einerseits macht es die Globalisierung seltenen Sprachen schwerer. Andererseits merken immer mehr Menschen, dass es viele gibt, die seltene Sprachen sprechen und dass die nicht alle dumm sein können. So lernt man voneinander. Hier in der Provinz Friesland Sprechen auch alle Politiker friesisch. Das hilft. Wenn gebildete Leute eine Sprache sprechen steigt automatisch ihr Status. Wir betonen seit Jahrzehnte die Vorteile, die man als Mehrsprachiger hat. Man kann sich in verschiedenen Kulturen bewegen und wird so mehr zu einem europäischen Bürger."
    Sieben Leute sitzen konzentriert im Friesisch-Kurs der Afûk in einem Kirchengemeindehaus bei Leeuwarden. Die meisten sind jung und gebildet, arbeiten in anspruchsvollen Berufen wie Jeroen Borggrewe, ein Vertreter für landwirtschaftliche Produkte.
    "Ich lerne friesisch, weil ich bin seit Anfang diesen Jahres ich in einem Betrieb angefangen und ich bin der einzige Holländer dort und es sind alle friesische Menschen da und die Leute reden friesisch miteinander und wenn ich da bin, dann wechselt man sehr schnell wieder nach Niederländisch und um die Verbindung wirklich zu machen, wollte ich sehr gerne friesisch lernen."
    Schüler sagen Wörter, Lehrerin korrigiert, Infinitivbildung:
    "Good Morning –Guje Morn."
    M.C. Escher und Mata Hari
    Stolz sind viele Friesen nicht nur auf ihre Sprache und ihre Geschichte. Zwei in Leeuwarden geborenen Berühmtheiten widmet die Europäische Kulturhauptstadt 2018 eigene Ausstellungen. Der eine ist der Grafiker und Künstler M.C. Escher. Bekannt wurde er durch seine optischen Täuschungen.
    Die andere starb 1917 im Kugelhagel französischer Soldaten. Mata Hari kam 1876 als Margaretha Geertruida Zelle in Leeuwarden zur Welt. Karriere machte sie als Tänzerin, Kurtisane und zuletzt als Spionin. Filme und Romane vermischen die Fakten aus ihren Leben mit Mythen und Legenden.
    Im Oktober 1917 verurteilte ein französisches Kriegsgericht die damals 41-Jährige zum Tode, weil sie angeblich oder tatsächlich für die Deutschen spioniert hatte. Genaueres wird die Welt erfahren, wenn Frankreich 100 Jahre nach Mata Haris Hinrichtung im Herbst dieses Jahres seine Militärarchive für die Forschung öffnet - und das Friesische Museum Leeuwarden die bisher umfangreichste Mata-Hari-Ausstellung zeigen wird.
    Lange hat sich Leeuwarden schwergetan mit der Erinnerung an seine berühmte, umstrittene Tochter. Inzwischen erinnert eine kleine Statue an Mata Hari und ein Platz trägt ihren Namen. Vielleicht haben die vielen jungen Leute, die zum Studieren nach Leeuwarden gekommen sind, das Klima in der Stadt verändert.
    Mario Kristmann zum Beispiel kam aus Schwaben nach Friesland und fühlt sich hier wohl.
    "Das Besondere sind zum einen die Studiengänge, die kreativ unterwegs sind und viele Leute, die aus den Studiengängen hier geblieben sind, wodurch Einiges an Filmemacher, Künstlern, kreativen Menschen in Leeuwarden unterwegs ist."
    Der ruhige 28-Jährige mag die direkte, manchmal etwas raue friesische Art.
    "Vor allem wenn man sich begrüßt und fragt, wie geht es einem, man nicht das Gefühl hat, ich muss sagen, mir geht es gut, sondern es ist immer der Raum da, zu sagen, mir geht es gerade nicht gut und das kriegt man auch manchmal zu hören: Mir geht es gerade echt dreckig und dann sitzt man da so, verdammt, was machen wir da. Meistens ist es dann nicht so schlimm, aber man hat darüber geredet und das Eis ist gebrochen."
    Kreative in Leeuwarder
    Mit ein paar Freunden hat der Theaterpädagoge das Leeuwarder Kollektiv gegründet. Gemeinsam bieten sie Kreativ-Workshops für Jugendliche an: Graffity, Break Dance, Theater, Poetry-Slams auch und gerade für junge Leute aus benachteiligten Vororten.
    Inzwischen unterstützt auch die Stadt ihre Kreativen. Jamila Faber ist offizielle Stadtkünstlerin 2016/17. DIY-City, Selbermacher-Stadt nennt sie Leeuwarden.
    "Ich finde Leeuwarden ganz besonders, weil es ist ganz DIY. Die Menschen machen alles selbst. Es gab sehr sehr wenig Projekte, Klubs, Künstler und jetzt gibt es so viel."
    Jamila steht im Hof des ehemaligen Gefängnisses, das gerade zum Kulturzentrum umgebaut wird. Den Club Asteriks gründeten drei engagierte Leute, weil nirgends Bands zu bezahlbaren Preisen auftreten konnten. Als die Gründer hörten, dass das ehemalige Gefängnis zum Kulturzentrum umgestaltet werden sollte, schlugen sie der Stadt eine "Zwischennutzung" vor.
    Um Hausbesetzungen zu verhindern bieten viele niederländische Gemeinden Anti-Kraak-Wohnen an, Wohnen gegen Hausbesetzung: Man mietet ein freies Haus oder einzelne Räume für wenig Geld. Dafür verpflichtet man sich, jederzeit auszuziehen, wenn sich ein neuer Dauernutzer findet, das Objekt abgerissen oder umgebaut wird. So kamen die Musikfans an einen in einem ehemaligen Häftlingstrakt, bauten Theke, Bühne und eine Musikanlage ein. Hinter einer schweren Eisentür mit vergitterter Luke feiern nun jedes Wochenende junge Leute, ohne jemanden zu stören.
    Jamila schreibt Gedichte, macht Musik, Theater und Performances, bei der sie das Publikum zum Mitmachen einlädt.
    "Was ich inspirierend finde in Leeuwarden ist das, wenn man etwas machen will, dann macht man das. Nicht nur Künstler, aber auch andere Menschen. Es gibt nicht so viele andere Städte hier im Norden und das macht, dass Menschen ein bisschen alleine sind hier und das macht eine sehr besondere Kultur."
    Leeuwarden ist für die 27-Jährige mit den großen wachen dunklen Augen unter den kurz geschnittenen Haaren eine Stadt der Netzwerke.
    "Ich finde, dass Menschen sehr gut helfen. Ich rufe Menschen an, wenn ich etwas brauche und ich erzähle was ich will, was ich brauche und sehr oft sagen Menschen, o. k. ist gut ich helfe dir."
    Europas kleinstes Jugendstiltheater
    Auf jedem Weg durch das Städtchen Leeuwarden findet sich ein neues, liebevolles Detail, das man leicht übersehen kann. Europas kleinstes Jugendstiltheater mit nur 33 Plätzen zum Beispiel oder der Grutterswinkel, ein im Original erhaltener gut 100 Jahre Kolonialwaren alter Kolonialwarenladen, den jetzt ehrenamtliche als Café betreiben.
    Jetzt will Leeuwarden seine kleinen und großen Schätze nutzen: 2018 wird es Europas Kulturhauptstadt.