Archiv


Lehmann fordert Mut für die Zukunft

Burkhard Birke: Wir feiern heute den vierten Advent, Weihnachten, das Fest des Friedens, steht bevor – und das nach einem Jahr, das dem Irak einen völkerrechtlich mehr als fraglichen Krieg und Deutschland eine sehr intensive Reformdebatte beschert hat. Kardinal Lehmann, nach einem solchen Jahr: Was steht auf dem Wunschzettel des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz an Punkten ganz oben?

    Karl Lehmann: Zunächst einmal, dass es in der ganzen Welt gelingen möge, die schwierigen Konfliktfelder zu befriedigen. Ich denke natürlich an die immer noch ständige Unruhe im Irak, ich denke aber an das Pulverfass des Nahen Ostens, an die geplagten Völker in Israel und die Palästinenser selbst. Ich denke aber mit Blick auf unser eigenes Land daran, dass die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses jetzt doch so etwas wie ein Signal sind zu Mut für die Zukunft. Das wird jetzt noch nicht sehr weit reichen, was gemacht worden ist, aber psychologisch könnte es doch so etwas wie ein wichtiger Impuls werden.

    Birke: Also wenn ich Ihrem Wunschzettel das richtig entnehme, ist das eine mehr Frieden in der Welt, das andere ist doch ein Anstoß zu durchgreifenden Reformen. Lassen Sie uns einen Moment noch einmal beim Frieden und bei der Situation vor allen Dingen im Nahen und im Mittleren Osten bleiben. Der Irak kommt nicht zur Ruhe. Der Eingriff der Amerikaner war ja völkerrechtlich sehr fragwürdig. Wie sollte sich jetzt das alte Europa, wie sollte sich Deutschland engagieren beim Wiederaufbau?

    Lehmann: Ich bin der Meinung, dass wir uns jetzt beim Wiederaufbau eigentlich nicht so zurückhalten dürfen. Die Amerikaner haben zwar die Gewalt und in gewisser Weise auch die Hauptverantwortung, aber sie sind natürlich auch im Irak selbst, auch wenn ihnen viele Leute zujubeln und zustimmen, sind sie eben doch ein Stück in ihrem Ruf beeinträchtigt, und auch die anderen kriegführenden Mächte. Um dem Volk Vertrauen zu geben für eine etwas unabhängig gestaltete Zukunft braucht es, glaube ich, die Hilfe vieler. Wie die dann konkret aussieht, ob Ausbildung von Polizisten oder materielle Hilfe, ist eine andere Frage. Aber es sind natürlich auch jetzt wieder schwierige Hürden gelegt worden durch Präsident Bush durch die Ankündigung, dass diejenigen, die nicht im Krieg mitgezogen sind, eben auch keine Hauptunternehmer sein können beim Wiederaufbau. Ich finde es auch als eine gewisse Belastung, dass er die Forderung der Todesstrafe vor einer endgültigen Einsetzung des Gerichtes bereits angekündigt hat. Das soll man doch nun getrost einem Gericht überlassen.

    Birke: Riecht das nach Siegerjustiz?

    Lehmann: Ich denke, es ist kaum von der Hand zu weisen, dass man das so auffassen kann. Aber auf der anderen Seite habe ich auch menschlich Verständnis dafür, dass, nachdem ein Land auch nach dem Krieg noch so viele Menschenleben zu beklagen hat und wo auch natürlich Wahlen im nächsten Jahr anstehen, vielleicht solche Gedanken sich in dem Stil von Politik, den wir jetzt schon länger gewohnt sind, fast zu erwarten gewesen sind.

    Birke: Noch mal, Kardinal Lehmann, ganz konkret an Sie die Frage als Geistlichen, als Seelsorger: Wie stark sollte nach all dem, was passiert ist, das Engagement der Deutschen sein? Sollten wir dem Irak die Schulden erlassen, sollten wir auch Soldaten hinschicken, um dort für Ruhe zu sorgen?

    Lehmann: Also, der Schuldenerlass ist ja offenbar zu einem Teil in Absprache mit Frankreich schon erreicht. Ich halte das für sehr vernünftig, denn man kann wirklich kaum erwarten, dass in absehbarer Zeit diese Schulden zurückgezahlt werden. Auf der anderen Seite habe ich auch Verständnis für die Einwände, dass, wenn der Irak einmal wieder ein Stück weit seine Integrität erreicht hat, das zweitreichste Ölland der Welt, nicht einfach vollkommen entschuldet werden kann. Deswegen ist eine Hälfte jetzt zu entschulden. Und für die andere Hälfte mal abzuwarten, halte ich für eine vernünftige und auch unserer Bevölkerung gegenüber kluge Reaktion. Aber gerade das schließt eben auch dann ein – so scheint mir –, dass wir für die Aufrechterhaltung der Ordnung vielleicht mehr tun können als bisher. Ich würde das nicht so primär militärisch sehen – vielleicht in der Sicherung, die mit diesen Aufgaben verbunden ist. Aber ich glaube, dass Aufbau von Polizei und Justiz und diese ganzen Dinge, da ist – glaube ich – unsere Hilfe gefragt.

    Birke: Gibt es Pläne auf Ebene der kirchlichen gemeinnützigen Einrichtungen – ich denke beispielsweise an die Caritas –, sich zu engagieren?

    Lehmann: Also, wir sind ja nie in Bagdad weggegangen, und auch der apostolische Nuntius ist auch in den schwierigsten Tagen immer geblieben. Und wir haben uns auch bis heute nicht zurückgezogen. Kurz vor dem Krieg hat der Miserior-Präsident noch einen Besuch gemacht, und ich weiß auch von Caritas-Internationalis: Erzbischof Cordes ist dort gewesen. Also ich glaube schon, dass wir im Rahmen dessen, was wir auch als christliche Minderheit in diesem Land tun können, präsent sind und dadurch ein Zeichen geben.

    Birke: Können Sie das in Geldsummen irgendwie fixieren?

    Lehmann: Das kann ich jetzt nicht, weil ich nicht weiß, was vorher immer schon geleistet worden ist. Es ist ja ein Problem auch für die Internationale Hilfe, dass heute katastrophenartige Einzelfälle, auch durch die Medien bedingt, im Vordergrund stehen, während die kontinuierliche, ruhige Entwicklungshilfe natürlich eher etwas in den Hintergrund getreten ist. Und die ist ja immer durchgeführt worden, die ganzen letzten Jahre. Es gibt auch, glaube ich, zu den assyrischen Christen besondere Beziehungen. Auch der Vorsitzende unserer Weltkirchenkommission, Bischof Kamphaus, ist dort gewesen mit Mitarbeitern. Also ich glaube schon, dass wir wenigstens als Zeichen für die Bevölkerung und auch für die umliegenden Länder da sind.

    Birke: Sie selbst, Kardinal Lehmann, haben ja immer wieder auch Zweifel an der Legitimität dieses Krieges der Amerikaner gegen den Irak geäußert. Welche Konsequenzen muss das haben für die multilateralen Institutionen? Muss die UNO, und wenn - wie, reformiert werden?

    Lehmann: Also, die UNO ist – denke ich – insgesamt schon auf dem richtigen Weg. Und ich denke, wie in den letzten ein, zwei Jahrzehnten eben doch sehr viele Konflikte in der Welt wenigstens überhaupt von der UNO angegangen werden konnten . . .

    Birke: . . . in diesem Fall hat die UNO aber doch versagt . . .

    Lehmann: . . . ja, die UNO ist natürlich so stark, wie ihre Mitglieder dies zulassen. Und das ist natürlich vorläufig eine ziemliche Schwäche, und es zeigt sich halt auch, dass nach der Wende der Jahre 89/90 auf weiten Strecken eben eine Weltmacht übrig geblieben ist, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika, und die eben dann auch in der UNO etwas in Gefahr sind, versucht zu werden, sich doch als einziger Weltherr zu etablieren.

    Birke: Wie kann man diese Weltmacht in Schach halten?

    Lehmann: Ich denke, dass es zu solchen Problemen, wie wir sie jetzt hatten mit dem Irak, immer wieder kommen könnte, wenn nicht eine andere Mentalität sich durchsetzt, dass nämlich einerseits die Zuständigkeit der UNO stärker proklamiert werden muss und auf der anderen Seite auch dann eben nötigenfalls klipp und klar gesagt wird, dass die Mehrheit der Völkergemeinschaft diese oder jene Strategie der Subloyalität nicht mitmacht. Aber ich denke schon, dass durch diese ganzen Vorfälle die Entwicklung des Völkerrechts auf dem Vormarsch ist und letzten Endes keinen Rückschlag erlitten hat – nach außen hin natürlich schon. Aber die Einsicht in die Notwendigkeit, dass hier stärkere Verbindlichkeiten geschaffen werden, ich glaube, die ist gewachsen. Und insofern ist es, glaube ich, letzten Endes doch eine Stärkung der UNO.

    Birke: Kardinal Lehmann, Sie haben eben auch ein Umdenken auf der internationalen Bühne gefordert. Dieses Umdenken – kommen wir mal auf unsere nationalen Probleme – haben Sie auch gerade noch einmal mit Nachdruck eingefordert, und zwar: 'Das soziale Neudenken’ heißt der Titel einer 28seitigen Schrift der Deutschen Bischofskonferenz. Mit dieser Schrift haben Sie sich allerdings Vorwürfe eingehandelt, Sie hätten wohl beim neoliberalen Tagebuch des Guido Westerwelle, des FDP-Vorsitzenden, abgeschrieben. Diesen Vorwurf macht Ihnen der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach. Haben Sie abgeschrieben bei den Neoliberalen?

    Lehmann: Also, das haben wir nicht nötig, und von Friedhelm Hengsbach bin ich schon seit Jahrzehnten solche Widersprüche gewöhnt. Ich wundere mich ein bisschen, dass selbst renommierte Sozialethiker auf unserer Seite so lange brauchen, um eigentlich einzusehen, dass wir unseren Sozialstaat deutscher Prägung in der Substanz wirklich nur erhalten können, wenn wir auch da und dort kleinere Kurskorrekturen durchführen. Das pfeifen die Spatzen allmählich vom Dach. Das haben wir in unserem Wort noch einmal unterstrichen. Aber es ist ja nun gerade nicht so, wie behauptet wird, dass dieser Umbau für uns Abbau bedeutet. Das sind ja nun wirklich im Deutschen zwei verschiedene Wörter, sondern wir zeigen hier gerade auf, dass jeder Umbau erhebliche Gefahren auch in einer neuen Verteilung mit sich bringen kann, und dass da zwei Gebiete besonders sensibel sind, wo ein schwerwiegendes Ungleichgewicht entstehen könnte beim Umbau. Das eine ist, dass eben bestimmte Interessengruppen, die über ihre Mittel verfügen, sich sehr viel lautstärker und auch sehr viel erfolgreicher durchsetzen können im politischen Gerangel, und dass diejenigen, die eher etwas schwächer sind, was die Durchsetzungskraft betrifft – nicht ihre Bedeutung –, dass die eher ins Hintertreffen kommen können, also zum Beispiel Familien mit mehreren Kindern, aber auch Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose und manche andere Gruppen.

    Birke: Sie fordern aber doch in dem Papier mehr Eigenverantwortung. Genau das ist doch der Ansatzpunkt der Kritiker, die sagen, dass hier vor allen Dingen die Gemeinschaft und die Staaten, die zum Beispiel in dem Sozialwort auch, das sie gemeinsam mit der Evangelischen Kirche damals verfasst hatten, in die Solidaritätsverantwortung gezogen werden sollen, dass die praktisch durch den Verweis auf mehr Eigenverantwortung ein bisschen aus der Pflicht genommen werden würden.

    Lehmann: Also, das steht natürlich nicht in dem Papier, und da muss man auch vielleicht jetzt noch mal das Sozialhirtenwort genau lesen. Da steht nämlich im ersten Abschnitt der ersten Seite, dass unser Sozialstaat in der bisherigen Ausdehnung an Grenzen gekommen ist. Es ist dort schon sehr klar formuliert worden, aber man hat das nicht so gerne gelesen. Ich habe sogar in meinem damals begleitenden Eröffnungsvortrag – "Vergesst die Armen nicht", heißt das – nämlich sehr deutlich gemacht, dass eigentlich noch mehr Eigenverantwortung gefordert werden müsste, als in dem Papier selbst zur Sprache gekommen ist.

    Birke: Also zur Rettung des Sozialstaates: Sie haben ja ganz konkret drei Herausforderungen auch definiert in dem Papier. Es geht da um die demographischen Veränderungen, es geht auch um die Erosion der Solidarität und um die strukturelle Arbeitslosigkeit. Gehen wir doch einmal ganz konkret diese Punkte an. Nehmen wir mal das Demographische. Momentan sieht es doch so aus, als ob die Alten auf Kosten der Jungen leben. Wie kann man das ganz konkret durch Maßnahmen ändern? Sollte man das Kindergeld erhöhen beispielsweise?

    Lehmann: Man muss natürlich hier, denke ich, schon sehen, wie komplex das Netzwerk zwischen den Generationen ist. Die Alten bringen ja auch für die Jungen sehr viel mit. Sie haben Milliarden in den letzten Jahrzehnten gespart und in Versicherungen, in Häuser und Immobilien und so weiter gesteckt. Und es ist nicht so, dass die Jungen sozusagen also darben, weil die Alten alles jetzt sozusagen genießen, sondern die Alten werden den Jungen sehr viel zurücklassen. Wir wissen, wie viel heute vererbt wird und in nächster Zeit. Also muss man, denke ich, gerade auch, wenn es um die Gerechtigkeit zwischen den Generationen geht, eben auch sagen, dass . . .

    Birke: . . . aber wenn es vererbt wird, dann wird es ja nicht gleichmäßig verteilt. Sollte man da nicht über eine Erbschaftsteuer hier für Verteilungsgerechtigkeit sorgen?

    Lehmann: Erbschaftsteuer, die gibt es ja. Die Leute zögern ja oft, Erben anzunehmen, weil sie kaum wissen, wie sie die Erbschaftsteuer bezahlen können. Nicht alles, was man erbt, lässt sich ja sofort in Geld umsetzen, so dass manchmal also Steuerauflagen kaum aufgebracht werden können. Ich kenne Leute, die ein Erbe ausgeschlagen haben, weil sie nicht sehen können, wie sie die Steuer aufbringen zum Beispiel. Und dann ist das so: Für mich ist die Frage des demographischen Faktors eigentlich stark dadurch gekennzeichnet, dass uns offenbar aus einer ganzen Reihe von Gründen der Mut zu Kindern, der Mut zur Zukunft eigentlich fehlt. Und das Beängstigende ist ja, dass diese Reform nicht in kurzer Zeit zu schaffen ist. Man braucht da mindestens 20, 25 Jahre, dass die Bevölkerung stärker anwächst, dass sie auch einsatzfähig wird in spezifischen Berufen und dergleichen. Und das ist eine ganz schöne Durststrecke, bis man so weit sein kann. Und da glaube ich schon, dass es zum Beispiel, wie ja das Verfassungsgericht immer wieder auch in den letzten Jahren ausgesprochen hat, an der Unterstützung der Familie dann fehlt, aber spezifisch auch, denke ich, in Deutschland mit Blick auf das Verhältnis von Beruf und Familie für die Frauen. Natürlich ist es das nicht alles allein, da braucht es auch immer eine konkrete Vereinbarung zwischen Mann und Frau in einer Familie, die durch keine Gesetze ersetzt werden kann. Aber die Rahmenbedingungen müssen einfach besser sein. Die Frauen müssen ohne allzu große Komplikationen irgendwo, und sei es mal durch Teilzeitarbeit, wieder einsteigen können.

    Birke: Also mehr Betreuungsplätze für Kinder beispielsweise, wäre das . . .

    Lehmann: . . . zum Beispiel, aber auch einfach die Anerkennung der Familienarbeit. Es ist nicht damit getan, dass sozusagen institutionelle Voraussetzungen geschaffen werden. Die sind wichtig, deswegen auch Ganztagsschule und viele andere Dinge. Aber die Frau, die ihre Berufskarriere mal unterbricht, die darf eigentlich innerhalb des gesellschaftlichen Bewusstseins nicht den Eindruck haben, dass das eine für sie mehr oder weniger leere oder gar tote Zeit ist. Und von da aus glaube ich, dass wir da, etwa im Unterschied zu den Franzosen, einfach sehr viel mehr Anstrengungen machen müssen.

    Birke: Also, Kardinal Lehmann, brauchen wir doch ein Familiengeld, wie es die Union mal gefordert hat?

    Lehmann: Wie das konkret heißt, weiß ich nicht. Ich bin auch da nicht ein Experte zu sagen, welches die besten Lösungsmittel im einzelnen sind. Aber ich selber bin trotz allem nicht davon überzeugt, dass es allein am Geld hängt. Das möchte ich also mit aller Klarheit sagen. Ich meine schon, dass bei uns auch der Mut für die Zukunft schon dadurch anfängt zu fehlen, dass ja zum Teil eine große Verweigerung in der jüngeren Generation auch ist, in Ehe und Familie einzutreten. Wenn Sie heute zum Beispiel in unsere Gemeinden kommen und mal sehen, wie wenig Ehen geschlossen werden in einem Jahr, wie viele zunächst einmal doch etwas unverbindlicher zusammen leben und dann vielleicht, gerade auch Frauen, fast schon zu alt sind, um Kinder gebären zu können, dann sind das Dinge, die auch mentalitätsmäßig, einstellungsmäßig – glaube ich – einer Änderung bedürfen. Da kann das Geld ein Anreiz dafür sein, aber es ist nicht alles.

    Birke: In einem solchen gesellschaftlichen Umfeld, wie Sie es geschildert haben, wo der Wert der Familie ja nicht mehr so hoch geschätzt wird, wie früher – wie wirkt sich das denn auf die Seelsorge aus, auf die Kirchenmitgliedschaften? Sie hatten ja gerade jetzt das Jahr der Bibel – 2003 war das Jahr der Bibel. Haben Sie dadurch mehr Menschen an die Kirchen heranziehen können, an das Christentum?

    Lehmann: Ich glaube ja. Wir hatten ja schon vor zehn Jahren ein Jahr der Bibel. Das diesjährige Jahr der Bibel unterscheidet sich, glaube ich, dadurch, dass durch die Impulse und Spontaneität der Gemeinden selber, also an der sogenannten Basis, doch sehr viel mehr Veranstaltungen stattgefunden haben – ich glaube 15.000 etwa, auch größere und wiederholte Veranstaltungen. Es ist, denke ich, auch gelungen, durch etwas außergewöhnliche Formen der Darbietung: Etwa in Hauptbahnhöfen, das hatten wir in Mainz zum Beispiel, und auf großen Plätzen und so weiter Bibelboxen aufzustellen – die Leute mal zu locken, sich den Reichtum der Bibel etwas anzusehen. Das ist auch sehr geschickt gemacht worden. Auch unsere Bibelwerke haben sehr viel Anschauungsmaterial, auch neu aufbereitete Literatur, dargeboten. Wir können damit zufrieden sein. Nur ist natürlich klar, das Jahr der Bibel darf nicht so verstanden werden, dass man dann nachher die Bibel dann mehr beiseite lassen kann. Aber wenn man ein Jahr der Bibel hat, das muss dann intensiv das, was man vielleicht an zusätzlichen versprechenden Dingen gewonnen hat, das muss weitergebaut werden .

    Birke: Kardinal Lehmann, ich wollte noch ein ganz anderes Thema anschneiden: Präsident Chirac hat in Frankreich gerade seine Absicht bekundet, ein Gesetz zu erlassen, was das Tragen von Kopftüchern in Schulen generell verbietet, also das Kopftuch auch als religiöses Symbol. Hielten Sie eine solche Maßnahme auch in Deutschland für den geeigneten Weg?

    Lehmann: Man muss hier einmal genauer sehen, ob Chirac, wie man ja durch die ersten Pressemeldungen den Eindruck gewinnen könnte, die jüdische Kippa und das islamische Kopftuch und das christliche Kreuz am Revers einfach gleichordnet, und vor dem Hintergrund der Laϊcité – wir übersetzen es manchmal fälschlich mit 'Laizismus’ – eben sagt: Alles muss den säkularen Raum meiden, und nur die Gleichheit sozusagen aller bringt hier auch eine Rechtssicherheit und dergleichen. Das ist im Ganzen eben ein völlig anderes System von Staat und von Kirche als wir es haben. Nach meinem Empfinden ist das auch in Frankreich noch nicht gelaufen. Chirac ist da eigentlich härter als es zum Beispiel Mitterand vorher war. Es ist mit ihm ja auch auf der europäischen Ebene – etwa mit dem Gottesbezug in der Verfassung – ähnlich schwierig . . .

    Birke: . . . haben Sie denn da noch Hoffnung, dass dieser Gottesbezug in die Europäische Verfassung kommt?

    Lehmann: Also, ich würde das, was jetzt geschehen ist mit dem Scheitern des Verfassungsentwurfes, das würde ich ein bisschen entdramatisieren und sagen: Hinter diesen oder einen ähnlichen Entwurf geht sowieso kein Weg zurück, das wird sich durchsetzen – so oder so – im nächsten Jahr. Und es gibt ja Anzeichen, dass eine ganze Reihe von Staaten sogar vor dem 1. Mai eben doch noch eine Verabschiedung der Verfassung will. Und ich könnte mir denken, das war immer so ein bisschen meine stille Hoffnung, wenn diese harten Machtpoker um das Stimmengewicht einiger Staaten im Sinne eines Kompromisses – anders geht es ja nicht – einmal geklärt ist, dann könnte eine gewisse Nachdenklichkeit und Denkpause eintreten, weil ja ohnehin die Präambel am Schluss beraten werden soll, weil man dann entspannt sagen kann: Jetzt lasst uns aber doch noch mal nachdenken über einen Gottesbezug. Und dann könnte man ja auch vielleicht selbstkritisch sagen: Wo haben wir eigentlich jetzt die Grundlagen für unser Zusammenleben, damit solche Machtpoker zum Beispiel nicht das letzte sind.

    Birke: Sollte dieser Gottesbezug dann auf der Basis des Vorschlags von Europabischof Hohmeyer fallen, das heißt, schöpfend aus den griechisch-römischen, jüdisch-christlichen und humanistischen Überlieferungen? Wäre das ein guter Ansatz?

    Lehmann: Also wir haben das öfter schon vorgeschlagen. Das ist auch eine Synthese sozusagen, die sich aus verschiedenen Vorschlägen ergibt. Es gibt auch Leute, wo ich mich auch in gewisser Weise dazu zählen kann, die dafür sind, dass man, wenn man ausführlicher spricht, es entweder so lässt oder unter Umständen auch die slawischen Elemente und die islamischen Elemente, die in der europäischen Kultur sind, mit nennt. Gut, das wird dann etwas unseriös, etwas schwieriger, aber ich glaube, dass man jedenfalls nicht die Christlichen allein nennen sollte, da müssen die jüdisch-biblischen Elemente hinzu. Und wir können einfach auch den kulturellen Anteil der Antike nicht verschweigen. Aber es wird dann gleich schwierig, denn es kommen dann die Germanen und die Kelten und so weiter.

    Birke: Kardinal Lehmann, wir danken für dieses Gespräch.

    Lehmann: Danke schön.