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Lehrer als Berater

Wenn man an Schule denkt, sieht man vor dem geistigen Auge die Lehrer vor sich - wie sie hinter ihrem Pult stehen und dozieren. Auch heute noch erleben viele Schüler einen Unterricht im alten Stil. Frontalunterricht heißt das in der Fachsprache. Aus Baden-Württemberg kommt ein Ansatz, der in der freien Wirtschaft und in der Erwachsenenbildung nicht neu ist: SOL - Selbstorganisiertes Lernen.

    Wenn man an Schule denkt, sieht man vor dem geistigen Auge die Lehrer vor sich - wie sie hinter ihrem Pult stehen und dozieren. Auch heute noch erleben viele Schüler einen Unterricht im alten Stil. Frontalunterricht heißt das in der Fachsprache. Doch gibt es nicht erst seit der Pisa-Studie inzwischen viele Versuche, Schüler aktiv am Unterricht zu beteiligen. Mal werden reformpädagogische Konzepte aktualisiert, mal finden Methodenfibeln à la Klippert reißenden Absatz. Aus Baden-Württemberg kommt ein Ansatz, der in der freien Wirtschaft und in der Erwachsenenbildung nicht neu ist: SOL - Selbstorganisiertes Lernen. Zwei Lehrer haben diesen Ansatz vor zehn Jahren mit Erfolg auf die baden-württembergischen Schulen übertragen. Jetzt breitet sich diese Idee auch auf andere Bundesländer aus. In Berlin findet zur Zeit eine Trainerausbildung statt.

    Ein Beitrag von Stefanie Ehnes

    Wir wollen weg von dem, dass wir jede Minute vorgeben. Jetzt machen wir das - und dann wieder alle zu mir gucken und dann wieder alle weggucken und so. Das ist ein relativ langer Weg, aber ich glaube, dass wir auch kleine Schritte machen können, wenn wir dieses Ziel im Auge haben.

    Martin Herold ist ein Meister der kleinen Schritte. Seit zehn Jahren zeigt er Lehrern, die vor der Klasse nicht immer die Vorturner sein wollen, einen möglichen Weg: in Richtung selbstorganisiertes Lernen. Ein Prinzip, das aus Lehrern Berater macht und Schüler dazu befähigt, die Verantwortung für ihr Lernen selber zu übernehmen. Auch die 15 Berliner Lehrerinnen und Lehrer, die sich heute für die Trainerausbildung zusammengefunden haben, wollen Unterricht verändern. Sie arbeiten fast alle neben der Schule am Berliner

    Landesinstitut für Lehrer, dem Lisum, und sehen ihre Aufgabe darin, nach der Ausbildung an den Schulen Fortbildungen für SOL anzubieten. Inhaltlich und finanziell werden sie dabei vom Lisum unterstützt. Am ersten von acht Ausbildungstagen beschreibt Martin Herold mit drastischen Worten die Schwächen des herkömmlichen Unterrichts:

    Wenn ich dann gefragt werde von Eltern, können Sie meinem Sohn nicht vernünftig Mathematik beibringen? Müsste ich sagen, nein, tut mir Leid, aber ich leb davon, ist mein Beruf. Also sage ich: Der soff mehr fernen oder besser aufpassen, konzentriert sich nicht, kommt zu spät, sind alles Ausreden, die das Problem überdecken sollen. Natürlich kann ich mich mit dem einzelnen Schüler beschäftigen und dann dem noch 'ne andere Lernportion anbieten. Wenn ich ihm das kleiner anbieten würde, könnte er's ja verstehen. Das machen Sie jetzt mal mit 30. Da haben Sie ganz schön zu tun.

    Wenn Schüler eigenständig arbeiten, so die Idee, können sie sich ihre eigenen Lernportionen herstellen. Ein weiterer Vorteil: Lehrer haben Zeit, ihre Schüler individuell zu beraten und eigene Zielvereinbarungen zu treffen. Das ändert das Schüler-Lehrer-Verhältnis grundlegend und fördert im Idealfall auf beiden Seiten die Motivation. Was sich wie eine Utopie anhört, gehört in Baden-Württemberg dank Herold und seiner Kollegin Landherr seit kurzem zum Lehrplan für berufsbildende Schulen. Jetzt soll es auf alle Bundesländer ausgeweitet werden. Nach Standorten in Bayern, Niedersachsen, dem Saarland und Sachsen ist auch Berlin an der Reihe. Hier gibt es erst zwei fertig ausgebildete Trainer, die an ihren Schulen auch nach dem SOL-Prinzip unterrichten. Der eine, Horst Zeitler, hat gerade ein dreiwöchiges SOL-Projekt an seiner Schule organisiert. Das Thema: Nachhaltigkeit in der Lausitz. Fünf Fächer, sechs elfte Klassen und 25 Lehrer waren daran beteiligt. Er konnte nicht alle Kollegen von der neuen Art zu unterrichten überzeugen. Deren Vorbehalte kann er aber nachvollziehen.

    Wenn ich jetzt was Neues einführe, dann schmälert es zunächst den Erfolg meines Unterrichts, deswegen bleibe ich lieber beim Altbewährten und fange jetzt nicht an zu experimentieren. Das ist eine Sache, die vom Selbstverständnis der Kollegen einfach so ist, dass man sagt, ich habe das gelernt, alles zu beaufsichtigen, unter Kontrolle zu haben und jetzt geht das nicht mehr innerhalb dieses SOL-Projektes. Das ist, denke ich, ein großer Hinderungsgrund, diesen neuen Gedanken aufzunehmen.

    Seine Schülerin Seher ist da anderer Meinung. Sie genießt die neue Art des Unterrichts, hätte aber gerne noch mehr Freiheiten. Sie stört, dass die Lehrer auch in diesem Projekt Material und Aufgaben bestimmen. Lieber würde sie selber zu ihrem Thema recherchieren.

    Du kommst ja gar nicht dazu, dir selber Gedanken zu machen, weil dir alles schon vorgegeben ist. Das ist glaube ich auch das, was es ein bisschen langweilig macht. Es kann sein, dass wir als Lehrer eventuell sogar zu vorsichtig sind und noch ein bisschen Futter geben müssten, damit Sie das selbständiger machen können. Ich denke, dass man die Schüler in der Hinsicht total unterschätzt.

    An Seher wird also die Einführung von SOL in Berlin nicht scheitern. Schwerer wird es für die Trainer wahrscheinlich, Lehrer davon zu überzeugen, ihren Unterricht komplett zu verändern.