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Lehrer für alle Fälle

Behinderte und nicht-behinderte Schüler gemeinsam unterrichten, will gelernt sein. Deswegen bietet die Universität Bielefeld den Studiengang "Integrierte Sonderpädagogik ", die angehende Lehrer gezielt auf die Arbeit mit gemischten Klassen vorbereitet.

Von Miriam Grabenheinrich | 26.09.2009
    "Das ist rund und drinnen weich."

    "Ich glaube, die Nuss, die Leon meinte, ist die Erdnuss."

    Sich gegenseitig zu helfen, ist für diese Schüler ganz selbstverständlich. Der Unterricht in der Klasse 2a der Bielefelder Vogelruthschule ist integrativ. Sechs der 25 Schüler haben Förderbedarf - sind körper- oder geistig behindert, haben Verhaltensprobleme oder Lernschwierigkeiten.

    Lehrer: "Wo wachsen Nüsse?"

    Schüler: "Die Haselnuss wächst am Baum. Ich habe vor meinem Haus auch einen Baum und da wachsen die."

    Lehrerin: "Setzt euch bitte hin und meldet euch. Der Isaak wollte gerade etwas erzählen."

    Die Grundschullehrerin Ulrike Bruelheide-Hartmann und der Sonderpädagoge Alfred Nell unterrichten gemeinsam. Dadurch können sie der heterogenen Klasse gerecht werden.

    "Es gibt verschiedene Fachkompetenzen, die wir mitbringen, und davon profitieren die Kinder. Der Sonderschullehrer hat die Kinder sicherlich noch mal anders im Blick. Außerdem ergänzen wir uns im Fächerkanon. Es fordert eine Absprache. Wir bereiten die Stunden gemeinsam vor. Und es braucht auch eine gewisse Toleranz und Flexibilität dafür."

    Toleranz und Flexibilität: Das sind wichtige Aspekte, die die Universität Bielefeld in ihrer Lehrerausbildung besonders berücksichtigen will. Neu eingerichtet wurde zum Beispiel der Studiengang "Integrative Sonderpädagogik". Hier werden Sonderpädagogen ausgebildet, die später in integrativen Klassen an Regelschulen unterrichten können. Aber auch die angehenden Regelschullehrer müssen in der Uni Grundkurse der Sonderpädagogik belegen. Die Studiengangsleiterin Birgit Lütje-Klose möchte dadurch alle Studierenden auf den integrativen Unterricht vorbereiten.

    "Wir haben zunehmend die Situation, dass immer mehr Kinder auch einen sonderpädagogischen Bedarf zugesprochen bekommen. Da haben wir rapide ansteigende Zahlen seit Jahren. Daher denke ich, die Regelschulen müssen auf die Probleme von Kindern vorbereitet werden. Sie müssen die Verantwortung für alle Kinder übernehmen. Das ist der zentrale Punkt, dass alle Lehrkräfte die Verantwortung für alle Kinder übernehmen. Dass sie nicht, wie das in Deutschland leider häufig passiert, argumentieren: Dieses ist kein Kind für meine Klasse."

    Lehrer: "Arne, kommst du mal hier vorne hin, dann kannst du auch besser gucken."

    Alfred Nell und seine Kollegin fördern in ihrer Klasse 2a jedes Kind individuell, ohne die Schüler voneinander zu trennen. Das ist ihrer Meinung nach sehr wichtig für die Entwicklung von deren Sozialkompetenz und Selbstbewusstsein.

    "Die Kinder in den Klassen wissen untereinander gar nicht, wer jetzt Kind ist mit besonderem Förderbedarf. Das heißt, diese Stigmatisierung fällt von vornherein weg. Die Kinder wissen untereinander, welche Fähigkeiten welche Kinder haben, aber würden es nie mit dem Attribut behindert verbinden."

    Aber Sonderpädagoge Nell weiß auch, dass es immer mal wieder Ausnahmen gibt:

    "Wenn Kinder ein psychotisches Verhalten zeigen, wenn es stark traumatisierte Kinder sind, die es stark nach außen agieren, dann wird es schwierig. Es wird sicherlich immer wieder Kinder geben, die auch zeitweise ein einer Förderschule unterrichtet werden müssen, aber das Ziel muss sein, das Schulsystem Richtung einer inklusiven, nicht trennenden Schule zu entwickeln."

    Der integrative Unterricht variiert innerhalb Deutschlands stark. In Bremen und Niedersachsen beispielsweise gibt es die Lehrerdoppelbesetzung nur an zwei bis drei Stunden in der Woche. Das ist für die Bielefelder Erziehungswissenschaftlerin Birgit Lütje-Klose nicht effektiv genug. Sie plädiert für eine durchgehende Doppelbesetzung im integrativen Unterricht und genau dafür bildet sie die Bielefelder Studierenden aus. Sie lernen in dem Masterstudiengang wichtige Bereiche der späteren Berufspraxis kennen.

    "Das ist zum einen das Modul Institution, in dem sie sich beschäftigen mit verschiedenen Formen der sonderpädagogischen Förderung. Dann haben wir das Modul Didaktik, da geht es darum, dass sie Unterrichtskonzepte kennenlernen, zum einen für die Schule allgemein, zum anderen für unsere Förderschwerpunkte. Dasselbe gilt dann für den Schwerpunkt Diagnostik. Dort lernen sie verschiedenen Testverfahren aber auch qualitative Beobachtungsverfahren kennen. Und schließlich, gerade für sonderpädagogische Schwerpunkte sehr wichtig, ist das Vierte, das heißt Professionalisierung, da geht es stark auch um kooperative Kompetenzen und Beratungskompetenzen."

    Bislang werden in Deutschland rund 15 Prozent aller Schüler integrativ unterrichtet. In den kommenden Jahren sollen aber viel mehr Schulen integrative Klassen bilden. Der Bielefelder Sonderpädagoge Alfred Nell hält das zurzeit aber nicht für flächendeckend realisierbar.

    "Wir haben in Deutschland zu wenig Sonderpädagogen. Und da wäre es sehr wünschenswert, wenn sich mehr junge Leute entscheiden könnten, die Ausbildung zu einem Sonderpädagogen zu wählen."

    Nachwuchsprobleme hat die Uni Bielefeld zwar nicht. Allerdings reichen die Kapazitäten des Studiengangs "Integrative Sonderpädagogik" nur für 70 Studierende pro Jahr. Bewerber gibt es aber etliche mehr.