Rainer Berthold Schossig: Dass das deutsche Bildungssystem der Verbesserung bedarf, darüber mag man sich noch einig sein, in jeder Beziehung. In welchem Geiste es aber reformiert werden soll, darüber wird zurzeit heftig gestritten. Auch heute wieder: Kindergarten ab vier Jahre für alle, private Schulträger, befristete Einstellung von Lehrern, Abschaffung der Hauptschule, mit solchen gestern veröffentlichten Länderübergreifenden Forderungen zu einer Reform des deutschen Bildungswesens hat eine Initiative der bayerischen Wirtschaft, nämlich der so genannte Aktionsrat Bildung, für höchst widersprüchliche Reaktionen bei Lehrern und Politikern gesorgt.
Vor der Sendung habe ich gesprochen mit Josef Kraus. Er ist Gymnasialdirektor in Landshut und Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Und ich habe ihn gefragt: Der Aktionsrat Bildung kennt anscheinend keine heiligen Kühe in unserem Bildungssystem, aus welcher Ecke kommt denn die Kritik des Aktionsrates?
Josef Kraus: Ja nun, da muss man sich vergegenwärtigen, wer der Auftraggeber ist dieses Aktionsrates. Und der Auftraggeber ist eine Wirtschaftsorganisation, und der Auftraggeber verbindet damit natürlich bei aller Freiheit, die man einem solchen Professorenrat sicherlich gönnt, bestimmte Erwartungen, und diese Erwartungen lauten nach meiner Interpretation: Wir brauchen in punkto Bildung, in punkto Schulsystem, Hochschulsystem, mehr verwertbares Wissen und Können, was sich letztendlich wirtschaftlich in Zeiten von Globalisierung rechnet.
Schossig: Stichwort Globalisierung: Die PISA-Studie hat ja gerade im internationalen Vergleich ergeben, dass Deutschland da sehr schlecht abschneidet. Insofern wären ja Vorschläge durchaus genehm.
Kraus: Wir sollten erstens mal unser Ergebnis nicht schlecht rechnen. PISA misst ja nur einen kleinen Ausschnitt aus dem gesamten Bildungsgeschehen. Was mir an der ganzen heutigen Debatte heute zu kurz kommt in Zeiten, in denen man Bildung auf PISA-Tabellen, Rankingplätze und so weiter reduzieren will, dass wir eine Inhaltsdebatte brauchen, dass wir einen umfassenderen Bildungsbegriff brauchen. Für meinen Geschmack diskutieren wir viel zu wenig über das, was der kulturelle Auftrag von Bildung ist, im sprachlichen Bereich, im fremdsprachlichen Bereich, im Bereich der historischen, der staatsbürgerlichen Bildung, der kreativen Bildung, der Fächer Kunst, Musik und Sport. Das sind alles Dinge, die sich natürlich jetzt aus der Sicht der Wirtschaft, unterstelle ich mal, nicht rechnen, darum redet man da nicht darüber. Aber es ist ein sehr verarmter Bildungsbegriff, den wir seit der ersten PISA-Studie in Deutschland leider diskutieren.
Schossig: Nun hat der Aktionsrat ja auch eine systematische Evaluation, auch Maßnahmen dahin gefordert. Das wäre doch aber angesichts des geringen Bildungserfolgs in Deutschland durchaus verständlich, oder sehen Sie da auch diese Tendenz, die Sie gerade eben skizziert haben?
Kraus: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht von einer Testeritis in die nächste fallen. Wir haben uns, das war sicherlich ein nationales Problem, bis Ende der 90er Jahre in Deutschland auch aus ideologischen Gründen gegen Evaluation, gegen Testung verwahrt. Und jetzt ist genau das Gegenteil, aber das scheint typisch deutsch zu sein, ausgebrochen, nämlich nur noch Messen, Messen, Messen. Ich sehe ich mit einem gewissen Grausen, wenn ich beobachte, wie beispielsweise das Fach Deutsch reduziert wird auf Inhalte und auf Prüfungstechniken a la Multiple Choice, Zustöpseln von Lückentexten und so weiter. Das Kreative von Sprache, die Textproduktion, die Sprachanalyse kommt mir da einfach viel zu kurz.
Schossig: Lassen Sie uns noch ein wenig über die institutionellen Vorschläge, die ja sehr provokant sind, die der Aktionsrat Bildung gemacht hat, sprechen. Da ist zum einen die Frage der Autonomisierung der Schulen. Steckt für Sie dahinter, das ist ja mit Privatisierung verbunden, dass hier zu weit gegangen wird, dass also hier die staatliche Aufsichts- und Fürsorgepflicht des Staates für Bildung zu stark ausgehöhlt wird?
Kraus: Also es gilt natürlich nach wie vor Grundgesetz, Schule steht unter Aufsicht des Staates, und das Grundprinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Also wir können nicht zulassen, dass wir eine atomisierte autonome Schullandschaft bekommen. Es muss, weil Bildungssystem immer auch gleichzeitig Berechtigungssystem ist, es muss natürlich hier für Vergleichbarkeit auch beispielsweise gesorgt sein. Ich bin auch ein bisschen skeptisch, was die Forderung nach einer fortschreitenden Privatisierung der Bildung betrifft. Wir wissen aus vielen anderen Ländern, dass eine ausgedehnte Privatisierung nicht unbedingt gut ist, nämlich eine Bildung in Amerika, in England, in Frankreich, in Japan in dem Moment sozial hoch selektiv wird, weil private Systeme, weil der Geldbeutel der Eltern entscheidet über die Qualität von Bildung.
Schossig: Aber die Differenzierung Hauptschule/Realschule, da bleibt ja die Hauptschule seit langem als Sorgenkind zurück, was ist dagegen einzuwenden, dass man das zusammenlegt, natürlich bei innerer Differenzierung?
Kraus: Ja nun, das mit der inneren Differenzierung, das sind so pädagogische, didaktische Blütenträume, die im Grunde genommen nie aufgegangen sind. Ich habe Sorge, dass in einer Sekundarschule, die ja letztendlich dann etwa 65 Prozent der Schülerschaft umfasst, diese Differenzierung noch stattfindet. Ich halte es ein bisschen für unglaubwürdig, wenn die Wirtschaft sich Sorgen macht über mangelnde Bildungsgerechtigkeit, in unserem System es gleichzeitig aber die Wirtschaft war, die letztendlich Hauptschülern keine Chance mehr gegeben hat oder schwächer qualifizierte Arbeitsplätze ins Ausland exportiert. Also das ist ein bisschen unglaubwürdig, was hier stattfindet. Wir hätten erheblich mehr Gerechtigkeit, was Lebenschancen betrifft, wenn die Wirtschaft sich auch in der sozialen Verantwortung sähe und auch Schwächeren Chancen gäbe.
Vor der Sendung habe ich gesprochen mit Josef Kraus. Er ist Gymnasialdirektor in Landshut und Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Und ich habe ihn gefragt: Der Aktionsrat Bildung kennt anscheinend keine heiligen Kühe in unserem Bildungssystem, aus welcher Ecke kommt denn die Kritik des Aktionsrates?
Josef Kraus: Ja nun, da muss man sich vergegenwärtigen, wer der Auftraggeber ist dieses Aktionsrates. Und der Auftraggeber ist eine Wirtschaftsorganisation, und der Auftraggeber verbindet damit natürlich bei aller Freiheit, die man einem solchen Professorenrat sicherlich gönnt, bestimmte Erwartungen, und diese Erwartungen lauten nach meiner Interpretation: Wir brauchen in punkto Bildung, in punkto Schulsystem, Hochschulsystem, mehr verwertbares Wissen und Können, was sich letztendlich wirtschaftlich in Zeiten von Globalisierung rechnet.
Schossig: Stichwort Globalisierung: Die PISA-Studie hat ja gerade im internationalen Vergleich ergeben, dass Deutschland da sehr schlecht abschneidet. Insofern wären ja Vorschläge durchaus genehm.
Kraus: Wir sollten erstens mal unser Ergebnis nicht schlecht rechnen. PISA misst ja nur einen kleinen Ausschnitt aus dem gesamten Bildungsgeschehen. Was mir an der ganzen heutigen Debatte heute zu kurz kommt in Zeiten, in denen man Bildung auf PISA-Tabellen, Rankingplätze und so weiter reduzieren will, dass wir eine Inhaltsdebatte brauchen, dass wir einen umfassenderen Bildungsbegriff brauchen. Für meinen Geschmack diskutieren wir viel zu wenig über das, was der kulturelle Auftrag von Bildung ist, im sprachlichen Bereich, im fremdsprachlichen Bereich, im Bereich der historischen, der staatsbürgerlichen Bildung, der kreativen Bildung, der Fächer Kunst, Musik und Sport. Das sind alles Dinge, die sich natürlich jetzt aus der Sicht der Wirtschaft, unterstelle ich mal, nicht rechnen, darum redet man da nicht darüber. Aber es ist ein sehr verarmter Bildungsbegriff, den wir seit der ersten PISA-Studie in Deutschland leider diskutieren.
Schossig: Nun hat der Aktionsrat ja auch eine systematische Evaluation, auch Maßnahmen dahin gefordert. Das wäre doch aber angesichts des geringen Bildungserfolgs in Deutschland durchaus verständlich, oder sehen Sie da auch diese Tendenz, die Sie gerade eben skizziert haben?
Kraus: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht von einer Testeritis in die nächste fallen. Wir haben uns, das war sicherlich ein nationales Problem, bis Ende der 90er Jahre in Deutschland auch aus ideologischen Gründen gegen Evaluation, gegen Testung verwahrt. Und jetzt ist genau das Gegenteil, aber das scheint typisch deutsch zu sein, ausgebrochen, nämlich nur noch Messen, Messen, Messen. Ich sehe ich mit einem gewissen Grausen, wenn ich beobachte, wie beispielsweise das Fach Deutsch reduziert wird auf Inhalte und auf Prüfungstechniken a la Multiple Choice, Zustöpseln von Lückentexten und so weiter. Das Kreative von Sprache, die Textproduktion, die Sprachanalyse kommt mir da einfach viel zu kurz.
Schossig: Lassen Sie uns noch ein wenig über die institutionellen Vorschläge, die ja sehr provokant sind, die der Aktionsrat Bildung gemacht hat, sprechen. Da ist zum einen die Frage der Autonomisierung der Schulen. Steckt für Sie dahinter, das ist ja mit Privatisierung verbunden, dass hier zu weit gegangen wird, dass also hier die staatliche Aufsichts- und Fürsorgepflicht des Staates für Bildung zu stark ausgehöhlt wird?
Kraus: Also es gilt natürlich nach wie vor Grundgesetz, Schule steht unter Aufsicht des Staates, und das Grundprinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Also wir können nicht zulassen, dass wir eine atomisierte autonome Schullandschaft bekommen. Es muss, weil Bildungssystem immer auch gleichzeitig Berechtigungssystem ist, es muss natürlich hier für Vergleichbarkeit auch beispielsweise gesorgt sein. Ich bin auch ein bisschen skeptisch, was die Forderung nach einer fortschreitenden Privatisierung der Bildung betrifft. Wir wissen aus vielen anderen Ländern, dass eine ausgedehnte Privatisierung nicht unbedingt gut ist, nämlich eine Bildung in Amerika, in England, in Frankreich, in Japan in dem Moment sozial hoch selektiv wird, weil private Systeme, weil der Geldbeutel der Eltern entscheidet über die Qualität von Bildung.
Schossig: Aber die Differenzierung Hauptschule/Realschule, da bleibt ja die Hauptschule seit langem als Sorgenkind zurück, was ist dagegen einzuwenden, dass man das zusammenlegt, natürlich bei innerer Differenzierung?
Kraus: Ja nun, das mit der inneren Differenzierung, das sind so pädagogische, didaktische Blütenträume, die im Grunde genommen nie aufgegangen sind. Ich habe Sorge, dass in einer Sekundarschule, die ja letztendlich dann etwa 65 Prozent der Schülerschaft umfasst, diese Differenzierung noch stattfindet. Ich halte es ein bisschen für unglaubwürdig, wenn die Wirtschaft sich Sorgen macht über mangelnde Bildungsgerechtigkeit, in unserem System es gleichzeitig aber die Wirtschaft war, die letztendlich Hauptschülern keine Chance mehr gegeben hat oder schwächer qualifizierte Arbeitsplätze ins Ausland exportiert. Also das ist ein bisschen unglaubwürdig, was hier stattfindet. Wir hätten erheblich mehr Gerechtigkeit, was Lebenschancen betrifft, wenn die Wirtschaft sich auch in der sozialen Verantwortung sähe und auch Schwächeren Chancen gäbe.