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Lehrtes letzte Schranke

Die letzten Fernzüge hielten im Bahnhof Lehrte vor rund 20 Jahren. Eisenbahnknotenpunkt ist Lehrte geblieben. Aber heute legen nur noch Regionalzüge und S-Bahnen einen kurzen Halt in Lehrte ein.

Von Godehard Weyerer |
    "Lehrtes letzte Schranke, ja, von den ehemals 10-12. Die Lehrter sind auch ganz froh darüber, dass sie jetzt drüberfahren können oder drunter weg. Fast der gesamte Hamburger Güterverkehr geht über diese Schranke. Von Hamburg nach Berlin, in die Tschechei viel."

    Ein schneller Blick nach links. Der Güterzug, der vorbeirollt, sagt Hubert Strube, ist ein leerer Erzzug auf dem Weg nach Hamburg; in sechs Stunden fährt er wieder hier durch - beladen mit 4000 Tonnen Erz für die Stahlwerke in Peine und Salzgitter. Strube ist Lokführer - seit 1971, und heute im Ruhestand. Der Erzzug rollt vorbei. Die Schranken aber bleiben och unten.

    "Da kommt wohl die S-Bahn aus dem Personenbahnhof raus. Wenn die dann durch ist, dann kommt möglicherweise schon die S-Bahn von Celle. Vielleicht macht er die Schranke aber auch noch mal auf."

    Autor: "Vielleicht?"
    "Da kommt noch eine Lok reingefahren. Die macht auch schön Lärm. Mach noch mal auf diesen da. Macht er nicht, sieht mich nicht, vielleicht kennt mich nicht mehr. Also doch, kennt mich noch doch. Kollege Roland Opitz. Deshalb hat er wohl auch gepfiffen. "

    Hubert Strube winkt seinem Ex-Kollegen hinterher. Er kennt sie alle, die Eisenbahner in Lehrte, und er kann sie alle fahren, die Lokomotiven der Deutschen Bahn: E-Loks, Dieselloks - gelernt hat er noch auf Dampfloks. Das Lehrter Betriebswerk kennt er noch aus eigener Erinnerung. Der runde Lok-Schuppen, der Wasserturm und der Schornstein des Heizkraftwerkes sind abgerissen, die Gleise zurückgebaut. Dichtes Gebüsch, wild wuchernde Birken, Hecken und Gras überziehen das Gelände, auf dem früher rund um die Uhr gearbeitet wurde. Hinter hohen Absperrgittern die ehemalige Kantine - ein trostlos-verlassenes Gebäude, der grüne Putz bröckelt.

    "Was man noch sieht, ist das Verwaltungsgebäude, die Lokleitung, dahinter kann man die Fundamente des Lokschuppens sehen. Da war noch eine Schmiede. Das Stellwerk würde ich auch nicht bestimmt wiederfinden, die Fundamente. Das ist alles nur oberflächlich abgerissen und so liegengeblieben."

    Die letzten Fernzüge hielten im Bahnhof Lehrte vor rund 20 Jahren. Eisenbahnknotenpunkt ist Lehrte geblieben. Aber heute legen nur noch Regionalzüge und S-Bahnen einen kurzen Halt in Lehrte ein. Den Bahnhof - ein hell verputztes, zweistöckiges, symmetrisch angelegtes Gebäude - erreichen die Fahrgäste durch eine Unterführung. Der Bahnhof in Lehrte ist ein Inselbahnhof, von beiden Seiten eingerahmt von Gleisen.

    Zugansage: "Meine Damen und Herren. Willkommen in Lehrte. Ihre nächsten Reisemöglichkeiten..."

    Das Bahnhofsgebäude ist für einen 45.000 Einwohner zählenden Ort wie Lehrte ein wenig zu groß ausgefallen, aber das ist typisch für eine Eisenbahnerstadt. Einst hatte hier der Bahnhofsvorsteher nicht nur sein Büro, er wohnte auch im Bahnhof. Zwei Kollegen standen in der Fahrkarten-Ausgabe, einer pflegte die Blumen, die Expressgut-Annahme war besetzt. Heute ist das Gebäude verwaist. Die Bahn hat die Mitarbeiter abgezogen. Die Gaststätte schloss vor Jahren schon ihren Türen und der hallige, spärlich ausgestattete Warteraum lädt nicht gerade zum Verweilen ein.

    Zugansage: "Meine Damen und Herren. Am Gleis 2, bitte Vorsicht, ein Zug fährt durch."

    Draußen, an Gleis 2 rauscht ein Zug mit 120 Kilometern pro Stunde durch den Bahnhof.

    Zwei von drei Zügen rollen ohne Halt durch Lehrte. Die Bahn bringt heute vor allem Lärm in die Stadt. Größter Arbeitergeber ist sie schon lange nicht mehr. Alles kommt aus Hannover: die Zugansagen, die Lautsprecherdurchsagen und die Mitarbeiter die zu Stippvisiten anreisen, um in Lehrte nach dem Rechten zu sehen. Mitarbeiter wie Jan-Philipp Bentfeld. Der Ingenieur überprüft den Zustand der Gleise:

    "Der Bahnhof ist auf die sich veränderten Verkehrströme neu eingestellt worden. Bis zum Zweiten Weltkrieg waren die Verkehrsströme auf Berlin ausgerichtet - in Ost-West-Richtung. Nach der Teilung Deutschlands Nord-Süd. Um hier den Betrieb besser abwickeln zu können, sind hier die Verkehrsströme durch bauliche Maßnahmen entflechtet worden, so dass die schnellen Fernverkehre mit 120 Kilometern pro Stunde durch den Bahnhof durchfahren können und der Güterverkehr fährt auf eigenen Gleisen durch den Bahnhof durch in Richtung Güterumgebungsbahn Hannover und weiter nach Westen."

    Der Rangierbahnhof in Lehrte ist bereits vor Jahren aufgegeben worden. Die Güterzüge, die durch die Stadt rattern, verbinden die norddeutschen Seehäfen Hamburg und Bremen mit dem Hinterland in Süddeutschland und Südost-Europa, erklärt Jan-Philipp Bentfeld, während der nächste ICE in Lehrtes Bahnhof einläuft.

    "Aber wir werden zukünftig eine neue Nutzung haben hier in Lehrte. Es ist zukünftig angedacht, die alten Gleisanlagen in der sogenannten Westgruppe in Lehrte zu nutzen für eine Megahab-Anlage, ein Umschlagterminal für den kombinierten Verkehr, wo Container und Wechselbehälter zwischen Zügen umgeschlagen werden sollen. Das ist eine ganz neue Umschlagtechnologie, die als Pilotversuch hier in Lehrte installiert werden soll. Ansonsten haben wir hier weitgehend die höhengleichen Bahnübergänger beseitigt. Ich möchte an die Verlegung der Strecke von Hildesheim Ende der 80er, um etliche Bahnübergänge im Stadtgebiet aufzuheben."

    Im Gleisbett vor dem Bahnhof liegt ein altes Stellwerk. Der Modelleisenbahnverein Lehrte hat sich das alte Gemäuer zu seinem Domizil ausgebaut. Hubert Strube, der pensionierte Lokführer, der auch im Ruhestand von der Bahn nicht loskommt, ist seit 25 Jahren Mitglied im Verein. Der Weg zum alten Stellwerk führt über Lehrtes letzten Bahnübergang. Zweimal pro Woche treffen sich die Modelleisenbahner. Mit dabei auch Armin Halbig.

    "Man stand sehr oft vor den geschlossenen Bahnschranken und das konnte man auch immer gut als Ausrede gebrauchen, wenn man zu spät zur Schule kam, dann konnte man sagen, ich musste warten, da kam ein Sonderzug. Das ging ganz gut. Das konnte man auch nicht nachprüfen, weil wir in Lehrte 600 Zugfahrten hatten. Da hat man viel Zeit vor Bahnübergängen verbringen können."

    Armin Halbig, 51 Jahre, in Lehrte groß geworden, mit dem Lärm der Züge und mit den Schranken, die sich jedes Mal schließen, wenn ein Zug durch den Ort fährt. Mittlerweile sind Unterführungen und Brücken gebaut. Geblieben ist Lehrtes letzte Schranke.

    Armin Halbig arbeitet bei der Post, angefangen hat er bei der Bahnpost. Mit den gelben Elektrokarren fuhr er an die wartenden Züge, holte aus den dunkelgrünen Bahnpostwaggons die Postsäcke. In den 80er Jahren stellte die Post ihren Bahnsteigdienst ein; das sparte Geld und Zeit. Nach wenigen Minuten Aufenthalt können die Züge den Bahnhof wieder verlassen.

    "Meine Damen und Herren, am Gleis 2 willkommen in Lehrte. Ihre nächste Reisemöglichkeit: Regionalexpress nach Braunschweig, Abfahrt 10:06 auf Gleis 2."