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Leichenfledderei, Kunst, Aufklärung?

Über London schien der Vollmond, als der deutsche Professor mit dem schwarzen Hut vor 1.300 Augen Hand an die Leiche legte. Big Ben schlug Mitternacht, als das Spektakel dann im Fernsehen gezeigt wurde, ein wenig zeitversetzt auf Channel Four. Vollmond, Mitternacht und schwarzer Hut sind also die Ingredienzien der Aufklärung im 21. Jahrhundert. Denn um Volksaufklärung, das wiederholt Gunther von Hagens bei jeder Gelegenheit, gehe es bei der Seziershow einzig und allein: Das Volk solle endlich sehen, wie es im Inneren aussieht - im Inneren von Raucherlunge oder Säuferleber. Also Achtung!, so einfühlsam war der Professor, sein zahlendes Publikum (zwanzig Euro kostete die Karte) zu warnen, bevor er tiefe Schnitte machte. Beim Öffnen der Bauchschlagader beispielsweise fließt eine Menge Blut, da konnten zartbesaitete Zuschauer mal kurz wegschauen, und die Lunge und die Leber wirkten ziemlich mitgenommen, schließlich war der Mann, dem sie gehörten, 72 Jahre alt geworden und hatte bis zu seinem Tode recht viel getrunken und geraucht.

    Sicherlich war mancher Zuschauer in der Atlantis Gallery in der Brick Lane im Londoner East End, der Heimat Jack the Rippers, für derlei Informationen dankbar. Denn jeder Anatomieprofessor weiß, dass die Studenten reihenweise umfallen, wenn man schweigend an den Leichen sägt und schneidet, wohingegen durch Erklären solche Kollapse vermieden werden. Andererseits liegt hier das große, das unüberwindliche Problem: Der Mensch hat eine Geschichte, und die gilt es zu verdrängen, wenn man sich aus rein wissenschaftlichen Motiven über Fleisch und Knochen hermacht. Selbst ein Routinier wie von Hagens war nicht ganz ungerührt, als er einmal die Leiche eines guten Freundes auf dem Obduktionstisch hatte. Und auch seine Frau, so gibt von Hagens an, würde er nicht selber präparieren.

    Die Geschichte lässt sich eben nicht verdrängen; dem Menschen ist die Spur aus seinen Erdentagen auch noch in seine toten Überreste eingeschrieben, und bekanntlich besteht sogar der Zweck einer Post-Mortem-Untersuchung darin, diese Spuren aufzufinden und zu deuten. Nun aber lag in einer zur Kunstgalerie umgebauten ehemaligen Londoner Brauerei eine aufgetaute Leiche, Gunter von Hagens hat noch 160 tiefgefrorene auf Lager, und sollte als Objekt und als nichts sonst betrachtet werden. Denn dies ist das erklärte Ziel der "Körperwelten"-Ausstellung wie auch der öffentlichen Obduktion: Erziehung zur Objektivierung der leiblichen Existenz.

    Dem steht allerdings entgegen, dass die Biografie des Menschen, der diese Leiche war, zumindest ansatzweise mitgeteilt wurde: Der Mann war Deutscher, hatte mit 50 Jahren seinen Job verloren und sich dem Alkoholkonsum ergeben; er lebte allein, getrennt von seinen Kindern, die ihre Einwilligung zu der Aktion gegeben hatten. Und während die entnommenen Organe, abgezogenen Häute und abgeschnittenen Körperteile in Edelstahlgefäßen dem Publikum zum Betrachten und Beschnüffeln herumgereicht wurden, sagte von Hagens Assistent über den Toten einen Satz, dessen Wahrheit nicht tiefer und dessen Formulierung nicht literarischer sein konnte: "Niemand weiß genau, was für ein Leben er geführt hat."

    Das weiß man so genau von keinem Menschen. Aber dass jeder eins führt, und dass es in jedem Fall ein Rätsel und ein Wunder ist, begründet die besonderen Gefühle, die man vor einer Leiche hat. Es begründet auch die kompliziert kodifizierten Umgangsformen mit dem toten Menschenfleisch. Zum Beispiel braucht man eine staatliche Erlaubnis, um eine Sektion vorzunehmen. Ob die von Hagens hatte, müssen die englischen Rechtgelehrten allerdings noch klären, weshalb die Polizei doch nicht, wie zunächst angekündigt, sofort einschritt. Sicher ist nur, dass für die Räumlichkeiten keine amtliche Zulassung vorhanden war, doch Räumlichkeiten kann man nicht verhaften.

    Und eigentlich nimmt man in unserer Kultur den Hut ab, wenn man vor einer Leiche steht. Ein Zuschauer fragte den Professor, ob er das nicht auch tun wolle, worauf von Hagens auf ein Rembrandt-Gemälde hinter sich wies: 'Die Anatomielektion des Dr. Tulp’ – dort trägt der Doktor ebenfalls einen schwarzen Hut. "In dieser Tradition stehe ich", erklärte der blaugekittelte Anatom und bekam dafür prompt Beifall.

    Die Veranstaltung als solche und ihre Fernsehübertragung stehen allerdings noch in einigen anderen Traditionen. Der Grusel ist von jeher Teil des Entertainments, und da menschliche Innereien schon fast jede Kinoleinwand füllen, stellt die Londoner Vorführung bloß eine kleine Reality-Anreicherung dieser makabren Bilderwelt dar. Der vorgeschobene Erkenntnisgewinn fällt jedenfalls gering aus, wenn man die menschliche Materie bloß als Knochen, Muskeln und Gewebe präsentiert. So dient das Ganze der Volksbildung ungefähr so sehr wie Splatter-Movies der Filmkunst.

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