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Leichter als Luft

Materialforschung. - Styropor ist der wohl leichteste Stoff, mit dem man es im Alltag zu tun hat. Doch im Vergleich zu dem Material, das Forscher aus Hamburg und Kiel nun entwickelt haben, ist Styropor schwer wie Blei: Aerographit, so heißt der neue Stoff, ist 75 Mal leichter als Styropor – und markiert damit einen neuen Weltrekord.

Von Frank Grotelüschen |
    Ein Labor an der TU Hamburg-Harburg. Karl Schulte holt ein Plexiglas-Kästchen aus dem Regal. Darin liegt eine kleine Flocke, nicht weiß wie Schnee, sondern pechschwarz. Behutsam schiebt Schulte das Flöckchen mit dem Finger in die Mitte des Kästchens. Doch das geht gründlich schief.

    "Jetzt klebt das schon an meinem Finger – ultraleicht! Man kann es zusammendrücken, wie einen Schwamm. Jetzt habe ich es aber leider zerstört. Habe ich ein bisschen zu heftig gedrückt."

    Eigentlich kein Wunder, denn das tiefschwarze Flöckchen besteht aus dem leichtesten Material aller Zeiten. Ein Weltrekord. Schulte:

    "Das bedeutet in Zahlen: 0,2 Milligramm pro Kubikzentimeter. Es ist leichter als eine Feder. Es ist im Prinzip leichter als die Luft."

    Das Material wiegt 75 Mal weniger als Styropor und viermal weniger als der bisherige Rekordhalter – eine Substanz bestehend aus einem Gerüst aus winzigsten Nickel-Röhrchen. Aus Röhrchen – in diesem Fall aus Kohlenstoff – setzt sich auch der neue Stoff zusammen.

    "Den haben wir Aerographit getauft. Einfach aus dem Hintergrund, dass es sehr leicht ist. Deshalb Aero. Und weil es eine graphitische Struktur hat, eben Aerographit."

    Als Schultes Team gemeinsam mit Forschern der Uni Kiel das Wundermaterial entdeckte, hatte – wie nicht selten – der Zufall seine Finger im Spiel. Eigentlich nämlich hatten die Experten vor, ein poröses Keramikmaterial mit Kohlenstoff zu beschichten.

    "Dann haben wir aber festgestellt, dass dieses Material sich auflöste und umhüllt wurde von diesem Kohlenstoff und ein dreidimensionales Netzwerk nachbildete."

    Das wäre in etwa so, als würde sich Efeu um einen Ast ranken, und der Ast würde sich dabei auflösen. Übrig bliebe einzig und allein das Efeu-Geflecht. Beim Aerographit besteht dieses Geflecht aus winzigen Kohlenstoff-Röhrchen, Durchmesser einige Nanometer. Sie bilden ein fadenscheiniges, hochporöses Gerüst, das unter dem Mikroskop aussieht wie zerfetzte Spinnweben, aber stabil genug ist, um tiefschwarze Flöckchen zu bilden – Aerograpit. Es zeigt, sagt Schulte, manch faszinierende Eigenschaft:

    "Es absorbiert extrem das Licht. Wir sind dabei zu untersuchen, ob es ein Potenzial hat, quasi das schwärzeste Schwarz zu werden. Gleichzeitig ist es elektrisch leitfähig. Und es ist biegsam wie ein Schwamm, man kann es zusammendrücken. Und wenn wir es zusammendrücken wie einen Schwamm, dehnt es sich auch wieder aus, geht also in seinen Ausgangszustand zurück."

    Fasst man es nicht allzu grob an, lässt sich Aerographit um 95 Prozent seines Volumens zusammenpressen und danach wieder auseinanderziehen in seine ursprüngliche Form. Eigenschaften, die Aerographit auch für die Industrie interessant machen könnten. Schulte:

    "Lithium-Ionen-Batterien, da könnte es eingebracht werden. Man könnte die etwas leichter bauen. Und weil diese Aerographite sehr dünn sind, haben sie extreme Oberflächen. Das ist ein Vorteil für die Speicherung. Also ist ein Potenzial vorhanden, um die Speicherkapazität dieser Batterien zu erhöhen."

    Außerdem könnte man Kunststoffe mit Aerographit beschichten, um sie elektrisch leitfähig zu machen. In Wasserfiltern könnte Aerographit Schadstoffe zersetzen, in Gasfiltern die Luft für Inkubatoren und Beatmungsgeräte reinigen. Ein ganzer Strauß an Ideen also. Doch bis sie Realität werden...

    "Jetzt habe ich es aber leider zerstört. Habe ich ein bisschen zu heftig gedrückt."

    ... wird Karl Schulte in seinem Labor noch manche Aerographit-Flocke in die Finger nehmen müssen.