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Leiden der Lokführer

Jedes Jahr versuchen etwa 1.100 Menschen in Deutschland, sich auf Bahngleisen das Leben zu nehmen. Statistisch bedeutet das für jeden Lokführer: mindestens einmal in seiner Berufslaufbahn überfährt er einen Menschen. An der Freien Universität Berlin wurde jetzt eine Studie durchgeführt: zu den posttraumatischen Belastungsstörungen, die solche Erlebnisse hervorrufen. Die Psychotherapeutin Doris Denis hat untersucht, wie die so genannten Fahrgastunfälle erlebt und verarbeitet werden können.

Von Monika Wimmer | 21.12.2004
    Für die Betroffenen ist das ein Ereignis, das mit ganz viel Schrecken, mit ganz viel Angst einhergeht und vor allem - was ganz charakteristisch ist für traumatische Ereignisse - ein Ereignis voller Hilflosigkeit ist und Kontrolllosigkeit oft, also die Gewissheit, mein Zug überfährt gleich einen Menschen und ich kann gar nichts dagegen tun.

    Die meisten Lokführer, erzählt Doris Denis, erleben einen Fahrgastunfall wie in Zeitlupe. Viele haben dabei Blickkontakt mit dem Selbstmörder. Andere hörten das Krachen seiner Knochen. Wieder andere haben das Gefühl, dass vor ihnen ein Film abläuft, der einfach nicht wahr sein kann.

    Körperliche Symptome stellen sich in der Regel erst kurz nach dem Fahrgastunfall ein: Dann steigt der Blutdruck an, das Herz beginnt zu rasen, die Knie schlottern. Auch langfristige körperliche und seelische Folge bleiben den Lokführern nicht erspart. Bei 15 Prozent der Befragten diagnostizierte Doris Denis Symptome eine so genannten Posttraumatische Belastungsstörung.

    Das typische Krankheitsbild, was auf einen Fahrgastunfall folgt, ist die Posttraumatische Belastungsstörung, die ist gekennzeichnet durch das Wiedererleben von einzelnen Aspekten des Unfalls. Das heißt, der Blickkontakt mit der Person, die gesprungen ist, das Hören des Überfahrens, aber auch charakterisiert durch ein sehr starkes Vermeidungsverhalten, also dass allem aus dem Weg gegangen wird, was an den Unfall erinnert, das kann so weit führen, dass der Betroffene gar nicht in der Lage ist, einen U-Bahnhof zu betreten. In der Studie war ein Interviewpartner, der sobald er diesen Geruch in einer U-Bahn gerochen hat, massive Angstsymptome hatte, so weit bis er urinieren musste. Das dritte Kennzeichen des Krankheitsbilds ist, dass der Körper weiter reagiert, als sei er in einer Gefahrensituation, also eine ständige erhöhte Anspannung dort ist, die sich äußerst in Schlafstörung, in Konzentrationsstörung aber auch einer erhöhten Reizbarkeit und einer allgemeinen Nervosität.

    Im Durchschnitt sind traumatisierte Lokführer nach einem Fahrgastunfall für vier Wochen krank geschrieben. Um die Folgen des Unfalls zu verarbeiten, nutzen sie unterschiedliche Strategien.

    Die einen haben erst mal Abstand gebraucht, haben eine Reise zu Freunden außerhalb von Berlin gemacht, andere haben sich hier sehr viel in Aktivitäten gestürzt. Sie mussten eigentlich ständig mit anderen zusammen sein, haben das nicht ausgehalten allein zu sein, weil dann die Erinnerung kam. Andere haben gesagt, sie haben erstmal einen Rückzug benötigt, sehr viel geschlafen, wollten sich mit gar niemandem treffen. Man kann jetzt gar nicht sagen, dass eine Strategie schlechter ist als die andere.

    Langfristig hilft es den Lokführern jedoch am meisten, wenn sie über den Unfall sprechen, Manchen helfen schon Gespräche mit Kollegen, Freunden und Familienangehörigen. Andere sind so stark traumatisiert, dass sie am besten eine Psychotherapie machen sollten. Doch die Hemmschwelle, sich einem Psychologen anzuvertrauen, ist für viele zu hoch. Als psychisch krank zu gelten, empfinden sie als Stigma.

    Einige Lokführer können einen Fahrgastunfall schon innerhalb weniger Tage bewältigen, andere brauchen mehrere Wochen oder sogar Jahre, besonders dann, wenn sie sich selbst die Schuld geben. Dafür, wie traumatisierten Lokführern geholfen werden kann, gibt es kein Patentrezept, sagt Doris Denis:

    Der Wunsch ist eigentlich, dass die Betroffenen dort abgeholt werden, wo sie sich befinden. Der Königsweg besteht tatsächlich darin, zu gucken, wie geht es denn dem Fahrer, ist es jemand der ganz viel Ressourcen hat, wo eine Familie im Hintergrund ist, der darüber sprechen kann, oder ist es jemand ,der sich stark zurückzieht, wo man befürchten muss, dass man ihn gar nicht so zu greifen kriegt, und sich Beschwerden chronifizieren. Dort ist es so, dass man aktiver auf die Betroffenen zugehen muss, auch noch mal die Vorgehensweise der einzelnen Einrichtungen, die Hilfe anbieten, erklärt. Da wäre ein Wunsch, das ist auch aus der Studie abzuleiten, dass man genau differenziert, welche Hilfe braucht denn der Betroffene. Braucht er ein Gespräch, braucht er Mitgefühl, oder braucht er tatsächlich, wie es ein Fahrer formuliert hat, jemand, der ihn an die Hand nimmt und mit ihm ein Stück des Weges zusammen geht.