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Leidenschaftliche Liebeserklärung an die Geige

Acht Jahre lang schrieb der katalanische Autor Jaume Cabré an seinem Roman "Das Schweigen des Sammlers". Fesselnd geschrieben, fasziniert das aufwendig recherchierte Mammutwerk auch durch das Detailwissen des Autors über Musik, Philosophie und Ästhetik.

Von Wera Reusch | 23.08.2012
    "Mein Elternhaus war kein Haus für Kinder. Und meine Familie war keine Familie für Kinder. Meine Mutter zählte nicht, und mein Vater lebte nur fürs Kaufen und Verkaufen, und ich verging vor Eifersucht, wenn ich ihn einen Stich oder eine feine Porzellanvase streicheln sah."

    Der Vater des Protagonisten ist Antiquitätenhändler in Barcelona und getrieben von einer manischen Sammelleidenschaft. Adrià Ardèvol wächst als Einzelkind in einer großbürgerlichen und lieblosen Atmosphäre auf - er ist umgeben von wertvollen Dingen, die weit mehr Zuwendung erfahren als er. Die Eltern haben hochfliegende Pläne für ihren begabten Sohn: Adrià soll zehn Sprachen lernen und Geigenvirtuose werden. Denn das wertvollste Stück der väterlichen Sammlung ist eine Violine aus dem Jahr 1764, geschaffen vom Geigenbauer Lorenzo Storioni aus Cremona.

    "Vater sagte mit glänzenden Augen, denk dran, diese Geige hat Geschichten erlebt, von denen wir nichts wissen, ihr Klang hat Säle und Häuser erfüllt, die wir niemals kennenlernen werden. (...) Im Lauf ihres Lebens hatte diese Storioni etliche Instrumentalisten in ihren Diensten. Und jetzt gehört sie mir, aber ich kann sie nur betrachten. Deshalb habe ich mir gewünscht, dass du Geige spielen lernst, damit du die lange Reihe im Leben dieses Instruments fortsetzt. Nur dafür musst du spielen lernen. Nur dafür Adrià. Ganz gleich, ob dir die Musik gefällt."

    Adrià quält sich durch den Geigenunterricht und ahnt schon bald, dass er nicht zum Virtuosen taugt. Als er zwölf ist, stirbt sein Vater. Die Todesumstände sind mysteriös: Der Vater verlässt das Haus mit dem Geigenkasten der Storioni und wird unterwegs ermordet. Von wem und warum, kann die Polizei nicht ermitteln. Der Junge fürchtet, an seinem Tod schuld zu sein, denn in dem Geigenkasten befand sich nicht die Violine aus dem 18. Jahrhundert, sondern nur Adriàs wertlose Übungsgeige. Er hatte die Instrumente ohne Wissen seines Vaters ausgetauscht, weil er die Storioni seinem besten Freund zeigen wollte. Adrià versucht, die Hintergründe des Mordes aufzuklären. Doch erst viele Jahre später gelingt es ihm, die Geschichte der Violine zu rekonstruieren. Dabei stößt er auf äußerst fragwürdige Geschäfte seines Vaters und muss sich fragen, ob er das wertvolle Instrument nicht an die Erben der rechtmäßigen Besitzer, eine jüdische Familie, zurückgeben sollte. Der Roman "Das Schweigen des Sammlers" ist im Rückblick erzählt, in Form einer Lebensbeichte, die Adrià Ardèvol gegenüber seiner Frau Sara ablegt.

    "Eigenartig: Ich will dir so viel erzählen und starre nur vor mich hin und verzettele mich in Gedankengängen, bei denen Freud das Wasser im Mund zusammengelaufen wäre. Vielleicht weil die Beziehung zwischen meinem Vater und mir an allem schuld ist. Vielleicht, weil ich an seinem Tod schuld bin."

    Die Frage von Schuld, schuldig werden und der Umgang damit ist gewissermaßen der Generalbass, der sich durch diesen Roman zieht. Der Agnostiker Adrià sucht die Absolution bei seiner großen Liebe Sara, die er als moralische Instanz betrachtet. "Ich bekenne" heißt der Roman im katalanischen Original. Die Gefahr der Larmoyanz, die solchen Bekenntnissen anhaftet, vermeidet der Autor Jaume Cabré, indem er die Lebensgeschichte Adriàs in einem ständigen Wechsel zwischen erster und dritter Person schildert. Dabei ändert sich die Perspektive oft mitten im Satz - so als ob der Protagonist seine Geschichte beschreiben und gleichzeitig aus kritischer Distanz reflektieren wolle:

    "Damals hatte Adrià Ardèvol eine wahre Engelsgeduld, und deshalb kamen mir die Geigenstunden gar nicht so schlimm vor wie jetzt im Rückblick, da ich mir diese Zeit für dich wieder vergegenwärtige."

    Aus dem kleinen Jungen wird kein Geiger, sondern ein international anerkannter Geisteswissenschaftler. Er studiert in den 70er-Jahren in Tübingen und ist später Professor für Ästhetik an der Universität von Barcelona. Seine Beziehung zu Sara erlebt Höhen und Tiefen, daneben verbindet ihn eine lebenslange Freundschaft mit Bernat, den er seit dem gemeinsamen Geigenunterricht kennt. Adriàs Lebensgeschichte bildet die Haupthandlung dieses vielstimmigen Romans. Sie wird durch zahlreiche weitere Erzählstränge unterbrochen, in denen die Storioni eine zentrale Rolle spielt - die Violine ist gewissermaßen die heimliche Protagonistin von "Das Schweigen des Sammlers". Jaume Cabré verfolgt die Geschichte der Geige und anderer markanter Stücke aus der Sammlung von Adriàs Vater über Jahrhunderte zurück. Diese historische Tiefe verleiht dem Roman eine ungeheure Dimension: Auf 850 Seiten entwickelt der katalanische Autor ein komplexes Geflecht, das zahllose Orte, Länder und Personen über einen Zeitraum von mehr als 500 Jahren auf subtile Weise miteinander verbindet. Es ist unmöglich, auf all die mannigfaltigen Verästelungen einzugehen. Nur soviel: Die historischen Erzählstränge, die in Adriàs Lebensbeichte eingewoben sind, handeln überwiegend von Niedertracht, Grausamkeit und Mord. Ihre Schauplätze spiegeln die Abgründe europäischer Geschichte wider - von den Folterkellern der Inquisition bis zu den Vernichtungslagern der Nazis. Im Mittelpunkt stehen Täter, die grausame Verbrechen begehen. Doch nur wenige werden von Schuldgefühlen geplagt, die meisten entkommen ungestraft. Unter den rund vierzig Figuren, die das Personenverzeichnis am Ende des Romans aufführt, sind ein Großinquisitor aus dem 14. Jahrhundert, ein von ihm gedungener Meuchelmörder und zwei KZ-Ärzte aus Auschwitz-Birkenau. "Die Frage des Bösen" kann als Leitmotiv dieses Romans gelten. Sie wird in immer neuen Variationen aufgeworfen. "Es gibt Dinge, die ich mir nicht erklären kann", sagt Adrià an einer Stelle:

    "Grausamkeit. Die Rechtfertigung der Grausamkeit. Dinge, die ich mir nicht erklären kann außer in literarischer Form."

    Eine Aussage, die sich auch auf Jaume Cabrés Arbeit an seinem neuen Roman beziehen lässt. Acht Jahre lang schrieb er an diesem Buch - und man ahnt das Ausmaß der Recherchen, die er dafür unternahm. Der Autor wählte eine verschachtelte Struktur für sein Werk, die dem Leser Aufmerksamkeit und Geduld abverlangt, denn die verschiedenen Orte und Zeitebenen wechseln völlig unvermittelt hin und her - manchmal sogar innerhalb eines einzigen Satzes. Zwar befürchtet man zuweilen, zwischen all den Vor- und Rückblenden verloren zu gehen, Jaume Cabré behält die Fäden jedoch stets sicher in der Hand und schafft es, den Spannungsbogen über die lange Distanz zu halten. "Das Schweigen des Sammlers" ist ein mächtiges Werk, das eine ungeheure Sogkraft entwickelt. Denn der katalanische Autor beherrscht viele Register: den berührenden inneren Monolog ebenso wie schockierende Beschreibungen, wunderbar ironische Dialoge ebenso wie kluge philosophische Überlegungen und leicht melodramatische Szenen. Cabrés jüngster Roman ist jedoch nicht nur fesselnd geschrieben, er fasziniert auch durch das Detailwissen des Autors über Musik, Philosophie und Ästhetik. Literaturwissenschaftler werden strukturelle Ähnlichkeiten zum Frühwerk von Vargas Llosas ausfindig machen. Inhaltlich erweist der Roman Thomas Manns "Doktor Faustus" und dem Roman "Die Violine von Auschwitz" von Maria Àngels Anglada Referenz. Nicht zuletzt ist "Das Schweigen des Sammlers" eine leidenschaftliche Liebeserklärung an die Geige und eine Hommage an all die Instrumentenbauer, Komponisten, Musiker, Lehrer und Schüler, die sich seit Jahrhunderten mit ihr beschäftigen.

    Jaume Cabré: "Das Schweigen des Sammlers". Roman. Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt und Petra Zickmann. Insel Verlag, Berlin 2011, 847 Seiten, 24,95 Euro.