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Leïla Slimani: "Dann schlaf auch du"
Kinderbetreuung in der Grauzone

Ein Kindermädchen tötet zwei ihr anvertraute Kleinkinder: Was ist ihr Motiv? Tragen die Eltern eine Mitschuld? Die französische Autorin Leïla Slimani schärft in ihrem Roman "Dann schlaf auch du" die Wahrnehmung für Klassenunterschiede und den Zwiespalt, fremde Kinder lieben zu sollen wie die eigenen.

Von Sigrid Brinkmann | 23.08.2017
    Die Schrifstellerin Leila Slimani.
    Die Schriftstellerin Leïla Slimani erhielt für ihren Roman "Dann schlaf auch du" den höchsten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt (JOEL SAGET / AFP)
    "Das Baby ist tot. Wenige Sekunden haben genügt. Der Arzt hat versichert, dass es nicht leiden musste. Man hat es in eine graue Hülle gelegt und den Reißverschluss über dem verrenkten Körper zugezogen, der inmitten der Spielzeuge trieb. Die Kleine dagegen war noch am Leben, als die Sanitäter kamen. Sie hatte sich gewehrt wie eine Wilde. Man hatte Spuren des Kampfes gefunden, Hautfetzen unter ihren weichen Nägeln."
    Die Täterin, notiert Leïla Slimani, "hat es nicht fertiggebracht zu sterben". Der protokollarische Ton, den Slimani auf den ersten drei Seiten ihres Romans anschlägt, öffnet und schärft ad hoc unseren Sinn für die Tragödie, deren Hergang die Autorin chronologisch erzählt. Eine Anwältin, die ihre Mutterschaft zunehmend als "kerkerhaftes Glück" empfindet und sich zu vernachlässigen beginnt, will wieder in ihrem Beruf arbeiten. Sie und ihr im Musikbusiness tätiger Mann beschließen, eine Nanny anzustellen. Das Paar entscheidet sich für Louise: Mitte 40, Witwe, Mutter einer 20-jährigen Tochter, beste Referenzen.
    "Meine Nanny ist eine Fee". Das sagt Myriam, wenn sie erzählt, wie Louise in ihren Alltag geplatzt ist. [...] Sie näht die Knöpfe ihrer Jacken wieder an [...] Sie bessert Rock- und Hosensäume aus, flickt Milas Kleider, die Myriam schon ohne Bedauern wegschmeißen wollte. [...] In wenigen Wochen ist Louise für sie unentbehrlich geworden. Wenn Myriam abends nach Hause kommt, steht das Essen fertig auf dem Tisch."
    "Wie ein Feind, der um Gnade bittet"
    Fein dosiert, aber dezidiert wertend, flicht Leïla Slimani in die Beschreibung des Familienalltags zusammenfassende Bemerkungen ein; etwa, dass es die Kinderfrau tief befriedigte, die Wohnung der Kleinfamilie "ganz in ihrer Gewalt" zu haben, "wie einen Feind, der um Gnade bittet". Die Nanny praktiziert das, was man schwarze Pädagogik nennt. Gekonnt legt die Autorin den Finger auf eine Wunde: Sie schildert das grundsätzliche Dilemma, in dem Elternpaare befangen sind, wenn sie die Dienste einer Kinderfrau in Anspruch nehmen. Sie überlassen der fremden Person ihr Liebstes, aber vertrauen sie ihr? Von den Lebensverhältnissen, möglicherweise Nöten der Angestellten, wollen sie in der Regel eher nichts wissen.
    Slimani macht Klassenunterschiede sichtbar, und sie legt die Arroganz der Zahlenden offen: Die Boheme ist außerstande, sich vorzustellen, dass es im Leben der Kinderfrau etwas Wichtigeres geben könne als das Wohl der zu hütenden Kinder. Sie nehmen nicht wahr, dass die in einem schimmeligen Vorstadtzimmer hausende Louise eine zweite Arbeit bräuchte, um Schulden abzutragen. Und wenn einer Zeuge einer als abstoßend empfundenen Szene wird, verharmlost der andere die Sache - aus dem einfachen Grund, auf die Dienste der Kinderfrau angewiesen zu sein.
    Louise hat das kleine Mädchen geschminkt.
    "Sein kleines Töchterchen sieht aus wie ein Transvestit, eine altmodische, abgehalfterte, heruntergekommene Kabarettsängerin. Er hasst Louise dafür, dass sie ihm diesen Anblick zumutet. 'Was soll das denn? Was ist in Sie gefahren?', schreit Paul. [...] Sie schlägt die Augen nicht nieder, sie entschuldigt sich nicht."
    Eine Grauzone des Pflegeberufs
    Der fiktive Fall, den Leïla Slimani schildert, ist ein extremer. Die Kinderfrau verbirgt ihre psychische Labilität hinter hausfraulichem Perfektionismus. Der Leser begreift, dass alles Fehlverhalten und die zur Schau gestellte Undurchdringlichkeit Stufen eines inneren und unaufhaltsamen Niedergangs markieren, der zur äußersten Tat führen wird. Von der Autorin nicht explizit formulierte Fragen drängen sich auf: Trägt das Elternpaar Mitschuld an der Ermordung seiner Kinder? Darf es sich von einer Kinderfrau sagen lassen: "Sie sollten nicht versuchen, alles zu verstehen"? Warum willigt ein Paar in seine Entmündigung ein?
    "Sicher, man könnte einfach einen Schlussstrich ziehen, das Ganze hier beenden. Aber Louise hat die Schlüssel zu ihrer Wohnung, sie weiß alles [...] Sie werden Lebewohl sagen, und Louise wird gegen die Tür hämmern, sie wird trotzdem hereinkommen, drohend, wie ein gekränkter Liebhaber."
    Leïla Slimani schreibt über Menschen, die unheilvolle Zeichen sehen, aber unfähig sind, Schlüsse zu ziehen. Es war klug von ihr, den Blickwinkel zu weiten, indem sie die pathologische Seite der melancholisch-depressiven Täterin wie auch deren privates Umfeld durch die Augen einer ermittelnden Kommissarin beleuchtet. Diese bereitet sich darauf vor, den Tathergang nachzuspielen, denn aus Erfahrung weiß sie, dass dies wirkt "wie Entwickler auf ein Negativ".
    Fast beiläufig wird auf den letzten Seiten das Urteil über die Kindsmörderin gesprochen: Für die Ermittlerin hat sie eine "verkommene Seele". Leïla Slimani hat die Vorgeschichte der Tat subtil entfaltet, den Blick auf eine Grauzone des Pflegeberufs gerichtet und das Profil der drei erwachsenen Protagonisten in Miniaturszenen sichtbar werden lassen. Das Ende des Romans verweist auf den Anfang. Ein Mord bleibt eine inkommensurable Tat. Ein Rätsel. Dem trägt Leïla Slimani adäquat Rechnung.
    Leïla Slimani: "Dann schlaf auch du"
    Aus dem Französischen übersetzt von Amelie Thoma
    Luchterhand Verlag, München 2017. 224 Seiten. 20,00 Euro