Die drei Autoren des Buches - Cordelia Stillke, Christian Schneider und Bernd Leineweber - sind sich der im Generationsbegriff versteckten Fallen wohl bewusst. Im Unterschied zu Heinz Bude, für den sich Generationszugehörigkeit und biographischer Ablauf quasi mechanisch gegenseitig bedingen, konzentrieren sie sich auf die Übergänge zwischen und innerhalb von Generationen. Was sie »Generationengeschichte« nennen, will die Prozesse untersuchen, "in denen zwischen den Generationen der Umgang mit einem bestimmten geschichtlichen Erbe ausgehandelt wird."
Das Erbe, um das es geht, ist freilich nicht aus einem Stück; der Buchtitel »Trauma und Kritik« deutet es an. Wessen Trauma und wessen Kritik?
Als Max Horkheimer und Theodor W. Adorno aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückkehrten, trafen sie ihrerseits auf eine traumatisierte junge Generation, die sich als nur zufällig dem Massenmord Entkommene verstand, die eben vom Entkommen traumatisiert wurde. Die deutschen Studenten jedoch waren anders traumatisiert, als Kinder der Täter. Wie kam es über den Graben der Tat hinweg zum produktiven Austausch zwischen diesen Lehrern und ihren Schülern, wie konnte das Motiv der »Überlebensschuld«, von der Adorno sprach, mit der Bewusstmachung der Täterschuld eine Verbindung eingehen? Auf diese und andere damit zusammenhängende Fragen geben Stillke, Schneider und Leineweber außerordentlich differenzierte und anregende Antworten. Ihr Buch »Trauma und Kritik« liefert Aufklärung im besten Sinne über die Geschichte jener allmählich in den Bereich positiver oder negativer Mythologie hinweggleitenden Kritischen Theorie im Nachkriegsdeutschland.
Als eine der »faszinierendsten Wirkungsgeschichten einer philosophischen Richtung« im 20. Jahrhundert betrachten die Autoren die Rezeption der Schriften Max Horkheimers und mehr noch derjenigen Adornos. In dieser Einschätzung ist ihnen schwer zu widersprechen. Diese Wirkungsgeschichte verdankt sich jedoch, vermögen sie zu zeigen, einer Serie von Missverständnissen, beginnend mit dem Umstand, dass die aus einer Art »Intellektuellenverschwörung« hervorgegangene Kritische Theorie sich bei ihrer Rückkehr aus dem Exil aufgefordert sah, ganz gegen ihre ursprüngliche Konzeption pädagogisch zu werden. Eine »widerstandsfähige Jugend heranziehen«, wollte der an die Frankfurter Universität berufene Max Horkheimer, während seinem geistigen Mitstreiter Adorno nichts ferner lag als Erziehung und Didaktik. Nach Horkheimers Emeritierung im Jahr 1961 ruhte die Last der Lehre in Frankfurt am Main allein auf den Schultern des Antipädagogen Adorno. Lehrer waren für Adorno, wie aus mehreren seiner Texte hervorgeht, stets Horrorfiguren gewesen, fast im gleichen Assoziationsfeld wie KZ-Schergen angesiedelt. Wie konnte nun aus dem als schwierig bis vertrackt esoterisch verschrieenen Denker und Schriftsteller Adorno ein Universitätslehrer werden, der in den sechziger Jahren einige der hellsten Köpfe unter den damals in Westdeutschland Studierenden anzog? Es lag nicht nur am Novum der vorgetragenen dialektischen Gesellschaftstheorie, es lag auch, schreibt das Autorentrio mit überzeugenden Argumenten, an der physiognomischen Ausstrahlung Adornos, des einstigen Schülers von Alban Berg:
"Adorno als Lehrer im herkömmlichen Sinn war ein lebendes Missverständnis. Dass er, trotzdem oder gerade deshalb, in einer spezifischen historischen Situation eine mächtige Lehr- und Identifikationsgestalt werden konnte, hängt unmittelbar damit zusammen, dass er wie kein zweiter die radikalste aller biographischen Weigerungen verkörperte, den Wunsch, 'kein Erwachsener zu werden'."
Solche Wunschverkörperung schuf eine einmalige, von den Autoren des Buchs mit Empathie, aber nicht kritiklos dargestellte Affinität zwischen diesem unmöglichen Lehrer und seinen zwischen Adoleszenz und Erwachsenenalter flottierenden Studenten. Sie zeigte sich aber auch in der Art der Vermittlung theoretischen Denkens. Aufklärung des Unaufgeklärten blieb das Ziel, doch eingedenk des Diktums Nietzsches, dass die Zerstörung einer Illusion allein noch keine »Wahrheit ergibt«, sondern nur »unsere Öde« vergrößert, bot Adorno in seiner Lehre zusammen mit Aufklärung neue Verrätselung an. Daraus entstand ein Faszinosum, das in der Geistesgeschichte der Nachkriegsjahrzehnte in Deutschland ohne Beispiel blieb.
Diejenigen unter Adornos Studenten, die ab Mitte der sechziger Jahre gegen den Krieg der USA in Vietnam protestierten und von radikaler Gesellschaftsveränderung träumten, gerieten in einen Konflikt, zunächst weniger mit ihrem akademischen Lehrer als mit ihrem eigenen Begriff von Kritischer Theorie. Und zwar aufgrund einer eigenartigen, neue Missverständnisse provozierenden Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Adornos letztes zu Lebzeiten abgeschlossenes philosophisches Werk »Negative Dialektik«, 1968 erschienen, kam zur gleichen Zeit heraus wie Raubdrucke der »Dialektik der Aufklärung« von 1944. Die fast 25 Jahre alte Arbeit wollten Adorno und Horkheimer zunächst nicht mehr wiederveröffentlicht sehen. Diese im Exil ausgearbeitete radikale Form Kritischer Theorie sprach die Revoltierenden unmittelbarer an als Adornos verrätselte späte Reflexionen. Eine Quelle neuer wechselseitiger Missverständnisse tat sich auf. »Trauma und Kritik« rekonstruiert nüchtern, mit Empathie, doch ohne Parteinahme die Adornos Tod 1969 vorausgehenden Auseinandersetzungen zwischen Schülern und Lehrern, von denen heute nicht viel mehr zurückgeblieben ist als einige spektakuläre Fotos und das berühmte Wort vom »linken Faschismus«.
Cordelia Stillke, Christian Schneider und Bernd Leineweber sind dafür zu loben, dass sie sich gerade im Hinblick auf Nachgeborene alle Mühe gegeben haben, die einzigartige, immer noch nachwirkende Wirkungsgeschichte der Kritischen Theorie intellektuell und politisch verständlich zu machen. Sie legen zudem einleuchtend dar, warum gegen Ende der sechziger Jahre der im us-amerikanischen Exil verbliebene Herbert Marcuse auf einmal eine überragende Rolle als Mentor und kritischer Gesprächspartner der westdeutschen Protestgeneration spielen konnte:
"Seine Internationalisierung des Faschismus war der erste Beitrag zu dessen Historisierung, der nicht aus einer reaktionären Perspektive kam. Marcuse vertrat weder die positive noch die negative Form der Aufklärung, die sich auf die deutsche Geschichte und den Nationalsozialismus konzentrierte, sondern eine utopische Perspektive, in der alle durch das Trauma gebundenen Energien in den Traum einer 'Revolution der Außenseiter' einfließen konnten, die - jedenfalls für eine bestimmte Zeit - geeignet schien, sich vom Horror der deutschen Genealogie zu lösen."
Lothar Baier besprach "Trauma und Kritik. Zur Generationengeschichte der Kritischen Theorie" von Christian Schneider, Cordelia Stillke und Bernd Leineweber. Das Buch ist im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienen, hat 227 Seiten und kostet 48 Mark.