Samstag, 04. Mai 2024

Archiv


Leipzig fotografiert

Gleich drei Leipziger Museen vermessen gemeinsam die Entwicklung der Fotografie in der Stadt, beginnend bei der Daguerreotypie um 1840 über 170 Jahre bis heute. Das Werk von 190 Fotografen zu erkunden, könnte einige Zeit in Anspruch nehmen.

Von Rainer Berthold Schossig | 07.03.2011
    Er wirkt wie aus der Kulisse eines Pariser Vaudeville-Theaters entsprungen: Rußfarbener Zylinder, Knollnase und Schnauzer, Gehstock, Halstüchlein und Zigarre. Die kleine Daguerreotypie wirkt so frisch als sei sie eben erst belichtet, doch sie ist aus dem Jahr 1843, aus der Sammlung des Leipziger Fotografen Adolf Sander, die 1918 ans Grassi Museum kam. Sie zeigt den Mitbegründer eines der ersten Leipziger Fotostudios: Eduard Wehnert, verheiratet mit der Daguerreotypistin Bertha Wehnert-Beckmann. Auf dieses Stück belichtete Metallplatte ist Eberhard Patzig vom Grassi Museum besonders stolz:

    "Wir sind so fotohistorisch kühn, zu sagen, dass Bertha Wehnert-Beckmann – Lebensdaten 1815 bis 1901 – die erste professionelle Fotografin der Fotogeschichte ist, weil sie schon in den 1840er-Jahren professionell fotografiert hat, nachweislich 1841 in Dresden und mit eigenem Atelier ab 1843 in Leipzig."

    Die Daguerreotypie, um 1839 in Paris geboren aus Camera Obscura, Silberbromid und Quecksilberdämpfen, diese Schwarze Kunst, fand diesseits des Rheins sogleich größte Resonanz, in jenem Land also, von dem Heine schrieb, dass hier die Schatten der Despotie und Zensur weithin das Licht der Aufklärung verdüsterten. Als der dänische Dichter Hans Christian Andersen auf seiner Deutschlandreise Anfang der 40er- Jahre die matt schimmernden Vorläufer der Fotografie besichtigte, notierte er:

    "In zehn Minuten, sagte man mir, entstünden diese Porträts; es kam mir vor wie Zauberei."

    "Wir können davon ausgehen, dass nach der Bekannt- und Freigabe des Daguerreschen Verfahrens am 19. August 1839 nicht nur die Information europaweit Verbreitung gefunden hatte, sondern gleichzeitig auch die für die Erstellung von Daguerrschen Produkten, diesen wunderbaren Silberbildern, notwendigen technischen Gerätschaften und Chemikalien."

    Sogenannte "wandernde Daguerreotypisten" sorgten für eine atemberaubend schnelle Verbreitung der neuen Technik, vor allem in der Porträtkunst. Man trug die kleinen Bildnisse als Visitenkarten in handlichen Medaillons und fein gefütterten Futteralen bei sich. Als die Kameras leistungsfähiger wurden, und der Papierabzug erfunden war, kam die Stadt- und Landschaftsfotografie hinzu. Sie überlieferte uns gottlob Bilder des biedermeierlichen 19. Jahrhunderts, die durch Industrie, Technik und Bombenkrieg gründlich ausgelöscht wurden.

    Schmerzlich zeigt dies – aus jüngeren Quellen schöpfend – die kleine, aber hochkarätige Schau im Stadtgeschichtlichen Museum. Sie dokumentiert politische und soziale Auseinandersetzungen, Streiks, Straßenaufmärsche und NSDAP-Großveranstaltungen. Thälmann spricht in der proletarischen Vorstadt, SA marschiert, und bald schon tritt der Kanzler mit dem Chaplin-Bärtchen ins Bild, vorm Völkerschlachtdenkmal und in trauter Runde mit der Familie Wagner bei der Grundsteinlegung für ein Richard-Wagner-Denkmal. – Schnitt: Rauch, Schutt und Flammen, Trümmer, verbogene Straßenbahnschienen und zerlumpte Kinder; das Dritte Reich in Agonie, Leipzig kaputt. – Schnitt: Ein verblutender GI hinter seinem Maschinengewehr auf dem Balkon eines Leipziger Wohnhauses: Robert Capa fotografiert den "letzten toten Soldaten des Zweiten Weltkriegs". Daneben die legendären Bilder des Bürgermeistern, der angesichts der in modernen Jeeps anrückenden US-Army den Freitod wählte. – Schnitt: Die Rote Armee fährt in Panje-Wagen ins zerbombte Leipzig. Stalin-Denkmäler und Rote Fahnen verstellen den Blick, der Mehltau des SED-Regimes mit Transparenten und Maifeiern senkt sich auf die geschundene Stadt.

    Hier setzt die von Christoph Tannert kuratierte dritte Ausstellung ein, im Museum der bildenden Künste, quantitativ die größte, qualitativ allerdings problematisch: Die Einblicke in die Nischen-Gesellschaft, in die "stehen gebliebene Zeit" der eingemauerten DDR, sind dort am stärksten, wo sie ganz ohne künstlerische Ambitionen geschahen: Schwarz-Weiß, aufdeckend aber nicht anklagend, mit heißem Herzen, nicht aber mit heißer Nadel gemacht. Jeanette Stoschek vom Museum für Bildende Kunst erklärt die besondere Qualität dieser Fotografien:

    "Was typisch ist für Leipzig, schon seit den 70er-Jahren, ist die HfGB, weil dort auch schon zu DDR-Zeiten immer künstlerische Fotografie gelehrt wurde. Heute ist es die größte Fotografie-Hochschule, und es ist nicht so sehr die Handschrift, sondern die Genauigkeit, was man dort lernt. Dass sie einfach eine gute Ausbildung bekommen, auch theoretisch, und damit auch als Künstler Bestand haben in der Welt, das ist schon einzigartig für Leipzig."

    Leider gelingt es der beeindruckend beginnenden Schau – je näher sie an die Gegenwart, beziehungsweise in die Nachwendezeit kommt – nicht mehr, die Vielfalt der Positionen zu bündeln. So endet der Rundgang in einer fotografischen Sintflut, in der die unversehens gewonnene Kamera-Freiheit in Beliebigkeit, ja Kitsch verwässert und versandet.

    Leipzig. Fotografie seit 1839 - Eine Ausstellung - Drei Museen (27. Februar - 15. Mai 2011)