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Leipziger Buchmesse 2018
Über den Boom der Autorenlesung

Die Buchverkäufe gehen in Deutschland zurück - die Besucherzahlen von Autorenlesungen nehmen jedoch zu. Von fehlendem Interesse an Literatur kann also keine Rede sein. Doch was sind die Gründe für diese neue Eventkultur?

A. Platthaus, R. Moritz und M. Krüger im Gespräch mit H. Winkels | 16.03.2018
    Viel war im vergangenen Jahr vom Umsatzrückgang in der Buchbranche die Rede und in einem Zug vom Abnehmen der Leselust der Deutschen. Unter anderem wurde dies ins Verhältnis zur Zunahme der Lesungen und Festivals und Literaturhäuser gesetzt, die nämlich aktuell boomen. Wie entwickelt sich unser Umgang mit der Literatur der Gegenwart? Ändert sich hier die ganze literarische Kultur, indem sie umschwenkt vom Lesevorgang auf die lebendige Begegnung mit dem Autor und der intensiven Erfahrung nur noch von Ausschnitten eines geschriebenen Werks? Bedeutet das auch einen Kulturverfall? Oder tut sich etwas ganz Neues auf? Das sind die Fragen, die von den beteiligten Experten Andreas Platthaus (Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung), Rainer Moritz (Leiter des Literaturhaus Hamburg) und Michael Krüger (ehemaliger Hanser-Verleger) live auf der DLF-Bühne der Leipziger Buchmesse diskutiert wurden.
    Weniger Bücher kaufen, verstärkt zu Lesungen gehen
    3.600 Veranstaltungen und Lesungen an 550 Orten, allein auf der Leipziger Buchmesse - das ist erschlagend aber auch exemplarisch. Denn auch im restlichen Jahr finden in Deutschland unzählige Lesungen statt. In anderen Ländern sieht das anders aus. Wie konnte sich die Lesekultur Deutschlands in den letzten Jahren so entwickeln? Rainer Moritz sagte dazu:
    "Ich erinnere mich noch gut an raunende Worte, die man vor 15 Jahren, 20 Jahren gehört hat - diese Dichterlesungen, wo ein Glas Wasser gereicht wird und jemand eine Stunde liest, das wird es bald nicht mehr geben. Die Leute brauchen Events - mit Musik, Essen und Trinken. Aber diese ganz altmodische, ja sehr deutsche Tradition der Autorenlesung, die wird abgeschafft sein. Das Gegenteil ist eingetreten."
    Weiter beschreibt Rainer Moritz die Hinwendung des Publikums über die letzten Jahre, weniger Bücher zu kaufen und verstärkt Lesungen zu besuchen. Eine gewisse Präsenzkultur habe sich ausgebreitet, Autoren und Dichter zu erleben und ihnen ganz nah zu sein. Dabei habe sich außerdem der soziale Kontakt bei Lesungen als wichtiges Motiv ausgeprägt.
    Die gute Nachricht
    Auf die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Vorleseboom und den rückläufigen Buchverkäufen gibt, antwortete Andreas Platthaus:
    "Einen Zusammenhang gibt es ganz sicher. Wie genau er korreliert, das ist schwer zu sagen, weil es dafür keine wirklich validen Untersuchungen gibt. Aber die Tatsache, dass immer mehr Leute zu Lesungen kommen - und wir kennen die schiere Zahl, die wächst! -, dass immer mehr Leute keine Bücher mehr lesen, das muss ja irgendwas miteinander zu tun haben. Viele von denen, die nicht mehr regelmäßig Lesen, sind sicherlich auch wiederum gerne bereit in solche Lesungen zu gehen. Es macht Spaß, in Gemeinschaft sich vorlesen zu lassen, gerne dann auch darüber zu reden. Ein finanzieller Faktor spielt sicherlich keine Rolle, denn es ist auch so, das bei sehr vielen gerade auch Lesefestivals mittlerweile sehr hoch sind. Da kann man teilweise ganze Bücher für kaufen, für das was man für einen gemeinsamen Abend mit prominenter Lesebesetzung ausgibt. Dementsprechend glaube ich tatsächlich, dass die Notwendigkeit heutzutage sich mit Literatur zu beschäftigen eine andere ist. Es ist überhaupt nicht so, dass es kein Interesse mehr an Literatur gäbe - das ist die gute Nachricht.
    Das Lesen ist eine Anstrengung
    Michael Krüger sieht im Wandel auch einen inhaltlichen Zusammenhang mit den Büchern selbst:
    "Das Lesen eines Buches ist ja auch eine Anstrengung und eine große Leistung. Dafür haben wir 250 Jahre gebraucht, um das zu erlernen. Und wir brauchen jetzt eine halbe Generation um es wieder zu verlernen. Das ist das für mich: das Erschreckende. Nur muss man dazu sagen, das 90 Prozent der Bücher, die man so sieht und vielleicht auch kauft, sich so ähnlich sind, das man natürlich nach dreien oder vieren sagt: ich möchte nie wieder ein solches Buch lesen. Das sieht man hier auf der Messe an den erschöpfen Gesichtern."
    Andreas Platthaus ist Journalist, Comic-Experte und Autor. Seit Februar 2016 ist er Chef des Ressorts Literatur und literarisches Leben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
    Rainer Moritz ist Literaturwissenschaftler, Kritiker, Übersetzer und Autor. Seit 2005 leitet er das Literaturhaus Hamburg.
    Michael Krüger ist Schriftsteller, Lyriker, Übersetzer und ehemaliger Hanser-Verleger. Seit Juli 2013 ist er Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.