Archiv


Leistungsschau der freien Kulturszene

Seit mittlerweile 27 Jahren findet das Festival "Favoriten" alle zwei Jahre in Dortmund statt als Leistungsschau der freien Szene Nordrhein-Westfalens. Am Ende des achttägigen Festivals küren zwei Jurys ihre Preisträger aus den Bereichen Tanz, Theater sowie Kinder- und Jugendtheater.

Von Nicole Stecker |
    Dortmunds Nordstadt, gleich hinter dem Bahnhof. Hier befinden sich Rotlichtmilieus, Arbeitsamt, Multiplexkino und derzeit auch: ein Theaterzentrum.

    Zeitgenössisches Theater soll politisch sein, so ein Credo, dem das Theaterfestival "Favoriten" seit seinen Anfängen treu ist.

    ""Favoriten" ist ja erst mal ein Festival der freien Szene NRW und hier werden die besten Produktionen im Wettbewerb gezeigt."

    Aenne Quinones, die künstlerische Leiterin des Festivals, die betont, dass aus den rund 200 gesichteten Produktionen auch wirklich die besten ausgewählt wurden.

    "Dennoch stellt sich aber dann immer die Frage, wenn man ein Festival veranstaltet, wo findet das denn statt und für wen. Und insofern spielt natürlich auch die Stadt Dortmund eine sehr wichtige Rolle, und ich finde die Stadt auch sehr vital."

    So wird bei der diesjährigen Ausgabe des Festivals "Favoriten" Dortmund selbst zum Protagonisten des Theaters – etwa in Philine Velhagens Produktion "We watch you watch".

    "Da ist die Frau Müller und tut so als – naja gut, sie ist auch schon ganz schön alt. Die hat mich jetzt nicht gekannt." - "Hab ich den Herd zu Hause angelassen, hoffentlich nicht."

    Das Publikum sitzt in dieser Produktion hinter einer Glasscheibe und beobachtet das ganz alltägliche Treiben auf dem Dortmunder Markt. Man sieht einkaufende Menschen mit Tüten, abhängende Teenager, Flaneure, Obdachlose. Doch über Kopfhörer werden den Zuschauern die geheimsten Gedanken dieser Menschen ins Ohr geflüstert. Drei Schauspieler improvisieren, tun so als könnten sie Gedanken lesen und erfühlen, was in den Köpfen der Passanten vor sich geht.

    "Ganz ursprünglich ist das, glaube ich, so eine Fantasie, die jeder hat,"

    sagt Regisseurin Philine Velhagen über ihre grandios einfache Inszenierungsidee. Ein amüsantes Stück, das aber doch auch viel über eine Zeit sagt, in der längst der Terror des Intimen herrscht und man sich über privateste Details von der Sexmüdigkeit bis zum Finanzproblem schamlos öffentlich verbreitet.

    "Also was passiert, wenn man sich vorstellt, dass es schon Google Brain gibt, dass man schon Gedanken lesen kann. Oder anders formuliert: Machen wir das ja alle freiwillig, weil wir ja ganz viele von unseren Gedanken oder unseren Vorlieben oder intime Dinge ins Internet schreiben."

    "Also ein wesentlicher Punkt ist glaube ich schon, sich mit der eigenen Realität auseinander zu setzen,"

    meint Aenne Quinones.

    "Und das ist ja im freien Theater sowieso exemplarisch, dass man da mit einer anderen Form von Autorschaft umgeht, also dass man den Themen entsprechende Formate entwickelt und insofern ist das dann ein breites Spektrum, was man durch so ein Festival sichtbar machen kann."

    Seit mittlerweile 27 Jahren findet das Festival "Favoriten" alle zwei Jahre in Dortmund statt als Leistungsschau der freien Szene Nordrheinwestfalens, die sich, so das Urteil der aus Berlin kommenden Festivalleitung, durchaus mit der internationalen Szene messen lassen kann. Hier zeichnen sich ästhetische Trends ab, etwa der Rückgang des Dokumentarischen, das gut zehn Jahre lang die freien Bühnen dominiert hat, und das nun langsam durch eine wiederkehrende Lust am Spielerischen, rein Fiktiven abgelöst wird. Und hier reflektiert man auf sehr eigenwillige und meist angenehm subtile Weise über die Brisanzthemen unserer Zeit: von den Naturkatastrophen über eine neue Sehnsucht nach Romantik bis zur Gentrifizierung unserer Städte – wie etwa im Stück "Fasada 1/2" der nordrheinwestfälischen Gruppe Kainkollektiv.

    "Wir, Kainkollektiv, haben letztes Jahr in Krakau gearbeitet,"

    sagt Regisseur Fabian Lettow.

    "Und der Titel ist entstanden, weil wir festgestellt haben, dass in Krakau die Fassaden alle halb sind, halb restauriert, sodass man quasi eine sehr schöne Metapher für das, worüber wir gearbeitet haben, in dieser halben Fassade hat, nämlich die alte und die neue Zeit, das alte Krakau und ein neues Krakau."

    Drei polnische Performer hausen auf der Bühne vom Kainkollektiv in dreieckigen Boxen, die an die Dachkammern alter Häuser erinnern. Hier konfrontieren sich die drei jungen Darsteller mit den Gespenstern der Vergangenheit.

    "Beispielsweise die Veronica lebt in Oswiecim, nahe Auschwitz. ... und erzählt in dem Stück beispielsweise von ihren Großeltern, die nicht wie sie mit Oswiecim verbinden, zur Schule gehen, Hobbies und Freunde haben, auf Partys gehen, Sondern eben tatsächlich das Fenster nachts zu schließen, weil der Gestank vom Lager so bestialisch war, dass man das gar nicht aushalten konnte."

    "Fasada 1/2" spürt vor allem den westlichen Spuren in Krakau nach, erzählt von Touristenströmen oder von Steven Spielberg, der dort "Schindlers Liste" drehte. Eine Produktion, die symptomatisch ist für eine Ausgabe des Festivals, die vor allem für ihre sehr clevere Fusion von zwei Extremen auffällt: So gibt man sich mit für Dortmund entwickelten site-specific-Produktionen so stadtbezogen wie nie. Während man gleichzeitig den Blick international erweitert und Künstler einlädt, deren NRW-Wurzeln kaum auszumachen sind. "Favoriten 2012" – eine aufregende Bestenschau im Spagat zwischen lokal und global.

    Linktipp:
    Das vollständige Programm des Festivals finden Sie unter Fovoriten 2012.