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Leitfaden der deutschen Geschichte

Eine umfassende Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland gab es bislang nicht, da sich die Filmgeschichtsschreibung auf die Erforschung des Spielfilms konzentriert hat. Die dreibändige "Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland" will diese Lücke schließen.

Von Josef Schnelle | 19.12.2005
    Eines wird sehr schnell klar, wenn man sich dieses gewaltige Standardwerk vornimmt: Die Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland ist zugleich ein Leitfaden der deutschen Geschichte in den letzten hundert Jahren. Alle großen Einschnitte und Verwerfungen im Leben der Menschen – der erste Weltkrieg, die kurze Freiheit der Weimarer Republik, deren innere Widersprüche, die Machtergreifung der Nationalsozialisten bis zum erneuten Krieg und dem Zusammenbruch – finden ihre Entsprechungen in der Geschichte des dokumentarischen Films. Das betrifft Darstellungs- und Präsentationsformen des Films ebenso wie die dazugehörige Kinokultur. Das betrifft auch die Protagonisten, die Pioniere und die Gestalter des deutschen Dokumentarfilms. Es verwundert zunächst ein wenig, dass ausgerechnet dieser Schatz an Dokumenten wenig erforscht gewesen ist. Schließlich bedienen sich die TV-Dokumentationen aus einem offenbar prall gefüllten Archivtopf - auf den ersten Blick. Wer genauer hinschaue, so Peter Zimmermann, der Projektleiter und Herausgeber des Standardwerkes, entdecke häufig Wiederverwendung des Immergleichen.

    "Wissen Sie, es waren ja eigentlich nur ganz wenige Filme in der breiten Öffentlichkeit bekannt. Ich kann’s fast auf drei Namen reduzieren. Sie können sagen, für das Kaiserreich waren die Filmberichte und Wochenschauen von Oskar Mester und vielleicht noch die Filme der Brüder Skladanowski bekannt. Aus der Weimarer Republik im Wesentlichen Filme von Walter Ruttman "Berlin - Symphonie einer Großstadt" und ein paar andre. Und aus dem "Dritten Reich" Leni Riefenstahl mit "Triumpf des Willens", "Olympia" und einigen anderen Filmen. Das war’s was sich in Deutschen und Internationalen Filmgeschichten so gehalten hat. Zum Vorschein gekommen sind bei den genauen Recherchen aber Hunderte von Regisseuren und Tausende von Filmen."

    Jeder der drei Bände enthält also eine umfangreiche Filmographie, die mehrere tausend Filme samt Fundstellen erschließt. Ausführliche Daten lassen sich in der Internetdatenbank des Projektes finden. Jeder Filmemacher, der in Zukunft eine zeitgeschichtliche Dokumentation plant, wird die Geschichte des dokumentarischen Film also auch als Suchmaschine von Filmdokumenten benutzen können. Auf einige interessante Themen machen die Essays – mehr als ein Dutzend in jedem Band – gleich dezidiert aufmerksam. Da wäre etwa in Band 1 "Kaiserreich 1895 – 1918" die Filmpropaganda des deutschen Flottenvereins von 1900 – 1905, die Deutschland als Seemacht im Bewusstsein der Zuschauer etablieren sollte und als eine der frühsten modernen politischen Werbekampagnen überhaupt gelten muss. Oder die Geschichte der frühen Wochenschau "Der Tag im Film", die sich ab 1911 etablierte unter anderem mit kuriosen Zeitungsanzeigen wie dieser:

    ""Kein Aprilscherz! Telegramm! Soeben wurde im Reichstag durch die fortschrittlichen Parteien angeregt, den Beschluss zu fassen, das Zeitungslesen zu verbieten, weil "Der Tag im Film" sofort alle wichtigen Vorgänge in lebenden Bildern und nicht in toten Buchstaben zu bringen in der Lage ist."

    Die Frontberichterstattung vom ersten Weltkrieg veränderte dann nicht nur die dokumentarische Filmästhetik. Militärkreise verlangten die Gründung einer großen Filmgesellschaft und so gilt ein Brief des Generalstabschefs des Heeres Erich von Ludendorff, in dem er 1917 die Macht des Bildes als Beeinflussungsmittel beschwor, als eigentliche "Gründungsurkunde" der UFA, aus der schließlich bis zur Nazizeit der mächtige deutschen Filmkonzern werden sollte. Nirgendwo auf der Welt, vielleicht mit Ausnahme der Sowjetunion, ist die Entwicklung des dokumentarischen Films so eng mit der Politik verzahnt gewesen. Das zeigt sich auch in Band 2 "Weimarer Republik 1918 -1933". Beherrschendes Thema der Forschungsberichte ist hier die Ausdifferenzierung der dokumentarischen Genres vom Kulturfilm bis zum frühen Infotainment, natürlich das Werk von Grenzgängern und Meistern wie Walter Ruttmann, dessen Berlin-Film "Symphonie einer Großstadt" bis heute als das non plus ultra des dokumentarischen Kinos gilt und natürlich die beginnende Spaltung zwischen rechter und linker Filmkultur. Von Anfang an stellte sich den Autoren des Standardwerkes das scheinbar "moderne" in Wahrheit immer schon akute Problem der Abgrenzung. Wo beginnt das Dokumentarische? Wo hört es auf?

    "Da hatte sich ne merkwürdige Mischform herausgebildet. Man zeigte zum Beispiel gerne Städteportraits: eine Sehenswürdigkeit wurde an die andere gereiht. Um das ein bisschen lockerer und ein bisschen Unterhaltsamer zu machen, erfand die UFA so´n Mischstil in dem sie kleine inszenierte Spielhandlungen einbaute. Also ein Liebespaar schlendert zum Beispiel durch Paris und zeigt sich eine Sehenswürdigkeit nach der anderen oder besucht Museen, Schlösser usw. Dadurch wurde ne kleine Spielhandlung integriert. Viele dieser Kulturfilme, wie sie damals hießen in den 20er und 30er Jahren waren eigentlich semidokumentarische Filme."

    Der umfangreichste Band widmet sich dem Dritten Reich (1933-1945), das filmgeschichtlich als am besten erforschte Periode gilt. Auch hier hat man sich aber, einmal abgesehen von den repräsentativen Großfilmen von den Parteitagen und den Olympischen Spielen von Leni Riefenstahl, wesentlich mehr mit dem Spielfilmschaffen beschäftigt, als mit dem Dokumentarfilm in all seinen Formen. Die bisherige Filmgeschichtsschreibung hat es sich oft zu leicht gemacht und mit der Gleichschaltungshypothese gleich den gesamten Dokumentarfilmbereich als direkte Propaganda sehen wollen. So präsentiert der bisher abschließende Band den dokumentarischen Film im Dritten Reich vielfältiger, widersprüchlicher und in weiten Teilen weniger propagandistisch als gemeinhin angenommen. Die Haupttendenz bleibt aber natürlich die ideologische Durchdringung aller Filmformen bis hin zum wissenschaftlichen Lehrfilm. Das folgende Beispiel nutzt ein Experiment mit Hirschkäfern um die These vom Recht des Stärkeren zu untermauern.

    ""Frau: Wird denn nun wirklich einer von den Hirschkäfern im Kampf getötet? – Filmemacher: Wahrscheinlich – Für die Aufnahme brauchen wir´s jedenfalls. Frau: Eigentlich grausam. Da zwingt man diese schönen starken Tiere zum Kampf auf Leben und Tod. Und in ihrem Wald hätten beide so ruhig weiterleben können. Professor: Aber liebes Fräulein Volkmann, ein "ruhiges Leben" ist doch nirgends in der Natur zu finden. Frau: Aber ,Herr Professor. Es fressen sich doch nicht alle gegenseitig auf. – Professor: Wenn auch das nicht gerade. Aber sie leben alle in einem ständigen Kampf. Dabei wird das Schwache vernichtet. Diesen Kampf halten wir ja auch für ganz selbstverständlich. Aber wir finden es unnatürlich wenn die Katze mit der Maus zusammenleben würde oder der Fuchs mit dem Hasen. Denn dann würde nämlich alles Leben an seiner eigenen Schwäche zu Grunde gehen."

    Der Ausschnitt aus dem Film "Das Erbe", gedreht 1935, stammt aus einer DVD, die für den Pressegebrauch der dreibändigen Dokumentarfilmgeschichte beigegeben ist. Sie soll auch zeigen, dass nach Materialerschließung und Forschungsberichten auch eine DVD-Edition erscheinen müsste - mit den stilbildenden und politisch wichtigen Filmen der jeweiligen Epoche. Die Herausgeber haben das schon geplant, das aufwändige Unternehmen, an dem auch Rechteinhaber wie das Bundesarchiv-Filmarchiv interessiert sein müssten, jedoch zunächst zurückgestellt. Vielleicht kann man aber bald, ergänzend zur Lektüre der durchweg anregend geschriebenen Essays, auch einmal einen Querschnitt zum Beispiel der filmischen Selbstdarstellung der Propagandafilmer des Dritten Reiches anschauen, die sich als Speerspitze der Modernität verstanden, wie der folgende Filmausschnitt aus dem 1936 gedrehten Film "Die Kamera fährt mit" zeigt:

    "Die Verschmelzung von Staat und Volk, Führer und Gefolgschaft geben der deutschen Wochenschau wahrhaft historische Aufgaben. Als ständige Begleiterin des Führers bei allen großen Veranstaltungen wird sie zu einem Bilddokument der neuen großen Volksgemeinschaft."

    Das Projekt endet vorerst mit dem Untergang des "Dritten Reiches" 1945. Eine Fortsetzung ist geplant, deren Finanzierung allerdings noch nicht gesichert. Ausblicke auf die Zeit nach 1945, die interessante weitere Forschungsergebnisse versprechen, finden sich schon jetzt in der in jedem Band enthaltenen Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte.

    "Man könnte sagen: Unser Bild, das wir in den Köpfen haben vom "Dritten reich" zum Beispiel ist maßgeblich von Frau Riefenstahl, Herrn Goebbels, von den Propagandafilmkompagnien von einigen Dutzend großen Propagandafilmen geprägt worden. Das ist vielleicht ein etwas makabrer Aspekt dieser ganzen Geschichte, dass die Nachwirkung dieser Filme vielleicht großer war als ihre zeitgemäße Wirkung. Natürlich wurden sie alle mit nem kritischen Kommentar versehen, aber die Suggestivkraft, auf die auch Guido Knopp vettraut, die Suggestivkraft der Bilder, die holt er zum großen Teil aus den alten Propagandastreifen der Nazis."

    Josef Schnelle über die "Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland"
    Als Gesamtherausgeber zeichnet Peter Zimmermann. Das dreibändige Werk umfasst insgesamt 2037 Seiten und 779 Abbildungen. Es kostet 198,- Euro und ist erschienen bei Reclam in Stuttgart.
    Band 1 handelt vom Film im Kaiserreich und wird herausgegeben von Uli Jung und Martin Loiperdinger. Herausgeber des Bandes über die Weimarer Republik sind Klaus Kreimeier, Antje Ehmann und Jeanpaul Goergen. Der dritte Band schließlich handelt vom dokumentarischen Film des Dritten Reichs und wird von Peter Zimmermann und Kay Hoffmann herausgegeben.