Samstag, 04. Mai 2024

Archiv


Leitfigur in der Erdkunde

Der deutsche Geologe und Geograf Ferdinand von Richthofen avancierte im 19. Jahrhundert zum weltweiten Chinaspezialisten. Seine Arbeit wurde richtungsweisend für viele Forscher nach ihm.

Von Xaver Frühbeis | 05.05.2008
    "Richthofen wohnte in einem vornehmen Hause: Kurfürstenstraße 117. Zögernden Fußes und mit zunehmendem Herzklopfen schritt ich die drei teppichbelegten Treppen hinauf. Ein Diener öffnete und führte mich in das geräumige Arbeitszimmer. Ein stattlicher Herr in gerader Haltung trat ein: ernst, sein Blick forschend und durchdringend. Man sah, dass sich viel Wissen und unergründliche Visionen von der Geschichte der Erde hinter seiner hochgewölbten Stirn bargen. Verbindlich lächelnd reichte er mir die Hand und bat mich, Platz zu nehmen. 'Ich sehe, Sie sind Schwede. Was wünschen Sie?'"

    Der junge Mann, der von so weit her kam, hieß Sven Hedin, er wünschte, bei Ferdinand von Richthofen zu studieren, dem weltberühmten deutschen Geografen und Geologen. Hedin sollte Richthofens wichtigster Schüler werden, ein Asienspezialist wie er, allerdings: sein Leben lang ständig auf Reisen, voller Unruhe und Tatendrang, die Welt zu erleben. Richthofen dagegen war nur dreimal in der Welt unterwegs gewesen, aus der letzten Reise, einem vierjährigen Forschungsaufenthalt in China, speiste sich sein Ruhm.

    Ferdinand von Richthofen entstammte einem alten märkischen Adelsgeschlecht, sein Vater war "Herr" gewesen "auf Hertwigswaldau, Schimmelwitz und Lesczin". Richthofen selbst, geboren am 5. Mai 1833 in dem oberschlesischen Marktstädtchen Carlsruhe, wuchs auf in ländlicher Umgebung, entwickelte früh ein großes Interesse an der Natur, an ihren Formen und Gestalten, studierte deshalb Geologie, und als er fertig war, da lockte ihn das ferne Abenteuer.

    "Ich hatte das Verlangen, irgendeine Aufgabe von größerer Tragweite auf dem asiatischen Kontinent zu lösen"."

    Richthofens Schicksalsland wurde China:

    ""Unter allen zivilisierten und ihren allgemeinen Verhältnissen nach bekannten Ländern das am wenigsten durchforschte, und zugleich wegen seiner ungeheuren Bevölkerung, seiner reichen Produktion und seiner steigenden Bedeutung im Weltverkehr im höchsten Grade einer Untersuchung wert."

    Im August 1868 beginnt Ferdinand von Richthofen seine Reise nach Fernost. Vier Jahre lang unternimmt er insgesamt acht ausgedehnte Forschungsreisen durch das östliche China und den Süden Japans, von Shanghai bis hinauf zu den tibetischen Hochgebirgen, von Kanton bis zur mongolischen Steppe. Richthofen beobachtet, vermisst, kartografiert und beschreibt: wo laufen die Flüsse, wie hoch sind die Gebirge, welche Völker leben wie und wovon, aber auch: wo vermutet er welche Bodenschätze?

    Richthofen ist nicht nur als Forscher, sondern auch als Rohstoff-Scout unterwegs. Das chinesische Kaiserreich ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Objekt der Begierde westlichen Kolonialdenkens geworden. Das Wissen jedoch über das riesige Land ist bruchstückhaft, veraltet, mit fantasievollen Gerüchten versetzt. Ein Experte wie Richthofen, beschlagen als Geograf und Geologe, ist für Industrie und Handel des Westens ein immens wertvoller Wissenslieferant in Sachen Bodenschätze und Infrastruktur.

    Mit 39 Jahren kehrt Ferdinand von Richthofen nach Berlin zurück. Und es beginnt die zweite Hälfte seines Geografenlebens. Richthofen fährt die Ernte ein. Er trägt zusammen, was er gesehen und beobachtet hat, in einem monumentalen, fünfbändigen Reisewerk mit dem Titel "China. Ergebnisse eigener Reisen". Das Werk macht ihn in Fachkreisen mit einem Schlag weltberühmt. Richthofen erläutert Fragen und Beobachtungen zu den spezifischen Formen der Landoberfläche, er erklärt, wie sie geworden sind, durch Verwitterung und die Kräfte des Wassers, durch Einwirkung von Eis, Wind, Brandung. Die großen zentralasiatischen Wüsten deutet er als vorzeitlich ausgetrocknete Binnenmeere, in den großen fruchtbaren Lößebenen Chinas erkennt er zusammengebackene Staubsedimente, vor langer Zeit herangetragen, vom Wind aus fernen Wüsten. Richthofen betont die Bedeutung der Monsunniederschläge für den Wasserhaushalt des Landes, und für das große Netz der Handelskarawanenstraßen, die von China aus über Zentralasien bis hin zum Schwarzen Meer führen, prägt er den bis heute geltenden Begriff der "Seidenstraße". Richthofens klare Art zu denken macht ungeheuren Eindruck auf die gesamte Fachwelt, er wird die große Führerfigur der zeitgenössischen Erdkunde. Seine Karriere krönen Lehrstühle, Rektorate und ruhmreiche Ehrungen, und als er am 6. Oktober 1905 stirbt, kann sein Schüler Alfred Hettner von ihm sagen:

    "Richthofen war der anerkannte Führer und Meister der wissenschaftlichen Geografie nicht nur in Deutschland, sondern überhaupt. Von ihm ist ein Strom neuen geistigen Lebens ausgegangen."