Prag, Frühjahr 1952. Aus Lenka Reinerova, einer 36-jährigen Rundfunkjournalistin, wird ein Untersuchungshäftling ohne Namen, ohne Rechte - eine Nummer, sonst nichts.
Man musste sich - immer wenn die Zellentür aufging, egal wer da kam, auch wenn sie z.B. Essen hineinschoben - musste man sich immer melden. In einer Hab-Acht-Stellung: 'Zelle Nummer 59, belegt mit einem Untersuchungshäftling soundso ... Als ob man spazieren gegangen wäre, inzwischen!
Lenka Reinerova wird 1916 in einem jüdischen Elternhaus in Prag geboren, schließt sich schon früh der kommunistischen Jugendbewegung an, wird mit 19 Redaktionsmitglied der Arbeiter Illustrierten Zeitung. 1939, nach dem Einmarsch deutscher Truppen, gelingt ihr die Flucht nach Frankreich. Dort wird sie verhaftet und interniert, kann aber 1941 über Marokko nach Mexiko emigrieren. Nach dem Krieg kehrt sie nach Europa zurück, arbeitet als Rundfunkjournalistin erst in Belgrad, dann wieder in Prag, bis sie aus ihr unerfindlichen Gründen entlassen und kurz darauf verhaftet wird:
Ich weiß bis heute, dass es ein Freitag war, ausgerechnet ein Freitag. Ich bin ein paar Wochen zuvor fristlos aus dem Rundfunk entlassen worden und war so naiv, nicht zu verstehen, dass das der Anfang eines ganz anderen Lebenskapitels für mich ist. Ich habe noch versucht, eine andere Stellung zu bekommen, und habe gar nicht kapiert, dass jetzt Aus ist. Und ich habe dann eines Tages erfahren, dass es in einer Parkanlage Arbeitsbrigaden gab, und da war ich also am Nachmittag und kam dann nach Hause. Und da klingelte es. Und da standen die zwei Männer: Ich konnte mir noch nicht einmal die Hände waschen. Und die haben gesagt: Kommen Sie mit! Es will Sie jemand etwas fragen. Ich hatte keine Wahl. Und das war der Anfang von allem.
Was Nummer 2814 alias Lenka Reinerova vom Leben bleibt, spielt sich ab in einer winzigen Zelle, in der fortwährend eine Glühbirne brennt und deren Inventar jeder Beschreibung spottet:
Es gab in einer Ecke einen Abtritt ..., da drüber ein kurzes kleines Rohr, aus dem das Wasser floss. Zur Ausrüstung gehörte ein sogenanntes dünnes kleines Handtuch, und mit diesem blöden Ding wurden einem dann auch noch die Augen verbunden.
... wenn wieder einmal eines der zu jeder Tages- wie Nachtzeit möglichen Verhöre anberaumt ist - Verhöre, in denen der Untersuchungshäftling 2814 permanent aufgefordert ist, seine Verbrechen zu gestehen:
Wahrscheinlich war es so, dass der Verhörende eine bestimmte Aufgabe bekam: Heute verhörst Du sie auf das und das! Er bekam also ein Thema und war dann sehr nervös und sehr ungeduldig, wenn er die Angst hatte, er hat diese Aufgabe nicht erfüllt. Erstens hat sie nichts gestanden, zweitens hat sie über etwas anderes geredet. Aber er hatte doch heute die Aufgabe festzustellen, dass sie 'Spionin der Imperialisten’ ist oder so etwas.
Neben ihrer Emigration ins westliche Ausland, neben dem politisch inopportun gewordenen Umstand, dass sie einen jugoslawischen, mithin unter Titoismus-Verdacht stehenden Ehemann hat, ist es vor allem ein markanter 'Geburtsfehler’, der immer wieder zur Sprache kommt und gegen sie verwandt wird - ihr Judentum:
Seit wann sind Sie Zionistin? Der graue Fleck nahm erneut die Gestalt eines bösen Gesichtes an. Und setzen Sie sich, ich habe Ihnen nicht erlaubt, aufzustehen. Ich war nie Zionistin. Alle Juden sind Zionisten, bemerkte er beinahe freundlich, als würde er mir die neueste wissenschaftliche Erkenntnis bekannt geben. Dasselbe immer und immer wieder. Ein Gespenst für kleine Kinder und große Dummköpfe. Der Jud ist schuld, in so vielen Sprachen und verschiedenen Zeiten, immer und überall. Aber hier, unter dem Vorwand eines Sozialismus?
Wenn es ein Muster gibt, dem solche Verhöre folgen, dann ist es den sogenannten Slansky-Prozessen entlehnt, dem ungarischen Historiker Hodos zufolge, das ärgste Blutbad, das der Stalinismus in den Satellitenstaaten angerichtet hat. Die auf erfolterten Geständnissen beruhende Hauptverhandlung gegen insgesamt 14 führende tschechoslowakische Kommunisten, unter ihnen KP-Gründungsmitglied und Generalsekretär Rudolf Slansky, war von Stalin verlangt und von langer Hand vorbereitet worden. Wie im ungarischen Rajk-Prozess lautet die Anklage auch hier auf titoistisch-trotzkistisch-imperialistische Verschwörung. Zugleich sollte der angeblich geplante Sturz der volksdemokratischen Ordnung und die Ermordung des Staatsoberhauptes Klement Gottwald jetzt auch Teil einer groß angelegten zionistischen Verschwörung sein. Die jüdische Abstammung Slanskys und zehn anderer hoher Funktionäre - im Dezember 1952 werden sie hingerichtet -, spielt denn auch eine entscheidende Rolle in der 'Beweisfindung’.
Als der gespenstische Schauprozess mit der Vollstreckung der Todesurteile endet, befindet sich Lenka Reinerova bereits ein halbes Jahr im Gefängnis, konnte doch, nachdem der Tatbestand zionistische Verschwörung einmal etabliert war, nun auch die Parteibasis entsprechend durchleuchtet werden. Am eigenen Leib erfährt somit die jüdische Kommunistin Lenka Reinerova, wie das antisemitische Ressentiment auch den Staatssozialisten und eigenen Genossen zur zweiten Natur geworden ist. Konsequent unterbricht und überblendet die Autorin die Beschreibungen der Verhöre im Prager Untersuchungsgefängnis mit den Bildern ihrer Internierung im besetzten Frankreich während des Krieges - vor allem aber mit den Erinnerungen an das Schicksal ihrer von den Nazis ermordeten Familie:
Die Spur meiner Großmutter verlor sich auf einem Transportlaster, die meiner Mutter in einem plombierten Eisenbahnwagen, der von der Rampe in Theresienstadt nach Osten abfuhr. Eine meiner Schwestern kam in einer Gaskammer in Lodz um, die andere, jüngere, war erst in Ravensbrück, sterben musste sie in Birkenau.
Es gehört zur Tragik des Lebens der Lenka Reinerova - und darin scheint es exemplarisch für die linkssozialistische Generation der europäischen Juden -, dass sie sich durch ihr politisches Bekenntnis von einem Judentum lossagt, auf das sie dann um so entschiedener erst von den Nazis, dann von den Staatssozialisten festgelegt wird.
Alle Farben der Sonne und der Nacht ist ein persönliches Buch, ein Zeitzeugenbericht, keine historische Darstellung. Die Einordnung der erzählten Geschichte in die politischen und ideologischen Zeitzusammenhänge bleibt Aufgabe künftiger Untersuchungen. Als originäre Erinnerungsliteratur ist das auf Deutsch geschriebene Buch einer Prager Autorin eine Quelle, auf denen solche Darstellungen sich werden beziehen können -wertvoll nicht nur für Historiker, werden darin doch Erfahrungen erinnert, die in keine jener Schablonen hineinpassen, an denen das vergangene Jahrhundert so verstörend reich war.
Georg Beck über Lenka Reinerova: Alle Farben der Sonne und der Nacht. Erschienen im Aufbau Verlag Berlin, 190 Seiten für 15 Euro.
Man musste sich - immer wenn die Zellentür aufging, egal wer da kam, auch wenn sie z.B. Essen hineinschoben - musste man sich immer melden. In einer Hab-Acht-Stellung: 'Zelle Nummer 59, belegt mit einem Untersuchungshäftling soundso ... Als ob man spazieren gegangen wäre, inzwischen!
Lenka Reinerova wird 1916 in einem jüdischen Elternhaus in Prag geboren, schließt sich schon früh der kommunistischen Jugendbewegung an, wird mit 19 Redaktionsmitglied der Arbeiter Illustrierten Zeitung. 1939, nach dem Einmarsch deutscher Truppen, gelingt ihr die Flucht nach Frankreich. Dort wird sie verhaftet und interniert, kann aber 1941 über Marokko nach Mexiko emigrieren. Nach dem Krieg kehrt sie nach Europa zurück, arbeitet als Rundfunkjournalistin erst in Belgrad, dann wieder in Prag, bis sie aus ihr unerfindlichen Gründen entlassen und kurz darauf verhaftet wird:
Ich weiß bis heute, dass es ein Freitag war, ausgerechnet ein Freitag. Ich bin ein paar Wochen zuvor fristlos aus dem Rundfunk entlassen worden und war so naiv, nicht zu verstehen, dass das der Anfang eines ganz anderen Lebenskapitels für mich ist. Ich habe noch versucht, eine andere Stellung zu bekommen, und habe gar nicht kapiert, dass jetzt Aus ist. Und ich habe dann eines Tages erfahren, dass es in einer Parkanlage Arbeitsbrigaden gab, und da war ich also am Nachmittag und kam dann nach Hause. Und da klingelte es. Und da standen die zwei Männer: Ich konnte mir noch nicht einmal die Hände waschen. Und die haben gesagt: Kommen Sie mit! Es will Sie jemand etwas fragen. Ich hatte keine Wahl. Und das war der Anfang von allem.
Was Nummer 2814 alias Lenka Reinerova vom Leben bleibt, spielt sich ab in einer winzigen Zelle, in der fortwährend eine Glühbirne brennt und deren Inventar jeder Beschreibung spottet:
Es gab in einer Ecke einen Abtritt ..., da drüber ein kurzes kleines Rohr, aus dem das Wasser floss. Zur Ausrüstung gehörte ein sogenanntes dünnes kleines Handtuch, und mit diesem blöden Ding wurden einem dann auch noch die Augen verbunden.
... wenn wieder einmal eines der zu jeder Tages- wie Nachtzeit möglichen Verhöre anberaumt ist - Verhöre, in denen der Untersuchungshäftling 2814 permanent aufgefordert ist, seine Verbrechen zu gestehen:
Wahrscheinlich war es so, dass der Verhörende eine bestimmte Aufgabe bekam: Heute verhörst Du sie auf das und das! Er bekam also ein Thema und war dann sehr nervös und sehr ungeduldig, wenn er die Angst hatte, er hat diese Aufgabe nicht erfüllt. Erstens hat sie nichts gestanden, zweitens hat sie über etwas anderes geredet. Aber er hatte doch heute die Aufgabe festzustellen, dass sie 'Spionin der Imperialisten’ ist oder so etwas.
Neben ihrer Emigration ins westliche Ausland, neben dem politisch inopportun gewordenen Umstand, dass sie einen jugoslawischen, mithin unter Titoismus-Verdacht stehenden Ehemann hat, ist es vor allem ein markanter 'Geburtsfehler’, der immer wieder zur Sprache kommt und gegen sie verwandt wird - ihr Judentum:
Seit wann sind Sie Zionistin? Der graue Fleck nahm erneut die Gestalt eines bösen Gesichtes an. Und setzen Sie sich, ich habe Ihnen nicht erlaubt, aufzustehen. Ich war nie Zionistin. Alle Juden sind Zionisten, bemerkte er beinahe freundlich, als würde er mir die neueste wissenschaftliche Erkenntnis bekannt geben. Dasselbe immer und immer wieder. Ein Gespenst für kleine Kinder und große Dummköpfe. Der Jud ist schuld, in so vielen Sprachen und verschiedenen Zeiten, immer und überall. Aber hier, unter dem Vorwand eines Sozialismus?
Wenn es ein Muster gibt, dem solche Verhöre folgen, dann ist es den sogenannten Slansky-Prozessen entlehnt, dem ungarischen Historiker Hodos zufolge, das ärgste Blutbad, das der Stalinismus in den Satellitenstaaten angerichtet hat. Die auf erfolterten Geständnissen beruhende Hauptverhandlung gegen insgesamt 14 führende tschechoslowakische Kommunisten, unter ihnen KP-Gründungsmitglied und Generalsekretär Rudolf Slansky, war von Stalin verlangt und von langer Hand vorbereitet worden. Wie im ungarischen Rajk-Prozess lautet die Anklage auch hier auf titoistisch-trotzkistisch-imperialistische Verschwörung. Zugleich sollte der angeblich geplante Sturz der volksdemokratischen Ordnung und die Ermordung des Staatsoberhauptes Klement Gottwald jetzt auch Teil einer groß angelegten zionistischen Verschwörung sein. Die jüdische Abstammung Slanskys und zehn anderer hoher Funktionäre - im Dezember 1952 werden sie hingerichtet -, spielt denn auch eine entscheidende Rolle in der 'Beweisfindung’.
Als der gespenstische Schauprozess mit der Vollstreckung der Todesurteile endet, befindet sich Lenka Reinerova bereits ein halbes Jahr im Gefängnis, konnte doch, nachdem der Tatbestand zionistische Verschwörung einmal etabliert war, nun auch die Parteibasis entsprechend durchleuchtet werden. Am eigenen Leib erfährt somit die jüdische Kommunistin Lenka Reinerova, wie das antisemitische Ressentiment auch den Staatssozialisten und eigenen Genossen zur zweiten Natur geworden ist. Konsequent unterbricht und überblendet die Autorin die Beschreibungen der Verhöre im Prager Untersuchungsgefängnis mit den Bildern ihrer Internierung im besetzten Frankreich während des Krieges - vor allem aber mit den Erinnerungen an das Schicksal ihrer von den Nazis ermordeten Familie:
Die Spur meiner Großmutter verlor sich auf einem Transportlaster, die meiner Mutter in einem plombierten Eisenbahnwagen, der von der Rampe in Theresienstadt nach Osten abfuhr. Eine meiner Schwestern kam in einer Gaskammer in Lodz um, die andere, jüngere, war erst in Ravensbrück, sterben musste sie in Birkenau.
Es gehört zur Tragik des Lebens der Lenka Reinerova - und darin scheint es exemplarisch für die linkssozialistische Generation der europäischen Juden -, dass sie sich durch ihr politisches Bekenntnis von einem Judentum lossagt, auf das sie dann um so entschiedener erst von den Nazis, dann von den Staatssozialisten festgelegt wird.
Alle Farben der Sonne und der Nacht ist ein persönliches Buch, ein Zeitzeugenbericht, keine historische Darstellung. Die Einordnung der erzählten Geschichte in die politischen und ideologischen Zeitzusammenhänge bleibt Aufgabe künftiger Untersuchungen. Als originäre Erinnerungsliteratur ist das auf Deutsch geschriebene Buch einer Prager Autorin eine Quelle, auf denen solche Darstellungen sich werden beziehen können -wertvoll nicht nur für Historiker, werden darin doch Erfahrungen erinnert, die in keine jener Schablonen hineinpassen, an denen das vergangene Jahrhundert so verstörend reich war.
Georg Beck über Lenka Reinerova: Alle Farben der Sonne und der Nacht. Erschienen im Aufbau Verlag Berlin, 190 Seiten für 15 Euro.