Samstag, 11. Mai 2024

Archiv


Leo Kaplan

Romane über Schriftsteller sind meist ungenießbar, und Romane über Schriftsteller mit Schreibhemmung per se eine Strafe Gottes. Leon de Winter (* 1954) hat einen Roman geschrieben über einen, der Schriftsteller ist und nichts mehr aufs Papier bekommt, und dennoch ist das Buch alles andere als eine Strafe Gottes. Obwohl Gott genügend Grund hätte, den in Worten und Werken mega- unschamhaften Leo Kaplan in die Hölle zu schicken, und zwar diretissimo. Denn Kaplan verstößt beständig gegen die zehn Gebote, auf einer Lesereise in Rom und um Rom herum bevorzugt gegen das sechste.

Christoph Buchwald | 30.04.2001
    Sein vor zwei Jahren erschienener Roman "Hoffmans Hunger", dessen italienische Ausgabe er im römischen Istituto Ollandese sowie in Funk und Fernsehen promovieren soll, hängt ihm inzwischen zum Hals raus, Auflagenerfolg und Verfilmung hin oder her. Denn was ist aller Ruhm wert, wenn das Wichtigste fehlt für die Selbstachtung: eine neue, tragfähige Romanidee. Doch davon keine Spur, nirgends.

    Seit Hoffmans Hunger (so heißt auch de Winters nach Leo Kaplan erschienener Roman) hat Kaplan die idée fixe, dass er mit seinem großzügig an immer jünger werdende Frauen verteilten Sperma auch seine Kreativität losgeworden ist. Alle Lust am Geschichtenerzählen weggevögelt. Manchmal, sagt er sich, stimmen ja die übelsten Klischees. Die Vorstellung, dass der "Hoffman" für immer und ewig sein letzter Roman sein könnte, ist derart niederschmetternd, dass Kaplan sich fragt, ob es im Sinne der Kunst nicht besser wäre, forever auf seinen Schniedel zu verzichten (Amputation), um dadurch Vergebung der Sünden zu erwirken.

    Deren Schlimmste: zwei Ehen zerstört und, noch schlimmer, die eigenen Erfahrungen und Gefühle ebenso wie die anderer permanent als Material für Romane und Erzählungen benutzt zu haben. Leo Kaplan hat alles in Literatur verwurstet, Ehefrauen, Geliebte, ihre Körper, Biographien, Denkweisen und sexuellen Vorlieben, dazu Feinde und Schwager, die Eltern, deren Tod - alles nur Material für die Kunst. Zwischenbilanz:

    Das Flugzeug schwebte in kristallklarer Luft, grell und blendend war das Sonnenlicht, und Kaplan dachte: Ich bin sechsunddreißig, zum zweitenmal verheiratet, im Besitz von zwei Kreditkarten und einem Pass voller Stempel in verschiedensten Farben, und noch immer habe ich nicht begriffen, worin der Sinn meines Lebens liegt." Armes Hascherl, möchte man ihm zurufen, doch de Winter unterläuft diesen Impuls schon mit dem nächsten Satz, und der ist fast vernichtend: "Der Schriftsteller schrieb diesen Satz in sein Notizbuch, um ihn vielleicht irgendwann einmal in einer Erzählung zu ver- wenden.

    De Winter erzählt kenntnisreich von den raffinierten Schreibvermeidungspossen, die Kaplan zuhause in Amsterdam oder eben in Rom aufführt, und das ist, Gott sei Dank, nur der Rahmen für einen ganz anderen Roman: "wie unsereiner in den achtziger Jahren durchdreht".

    Das kann ja heiter werden. Zumal die Ähnlichkeiten von Autor und Romanheld, von Leon und Leo unübersehbar sind. Wie de Winter ist Leo Kaplan im südniederländischen katholischen Den Bosch als Sohn eines jüdischen Altwarenhändlers geboren, der es nach dem Krieg zu (geneidetem) Reichtum gebracht hat, und wie de Winter setzt sich Kaplan gegen die unzähligen schrecklichen Geschichten, die zuhause über "Judenstern, Aufruf und Angst" erzählt werden, zur Wehr, indem er schon als Bub eigene erfindet und aufschreibt.

    Allein die Schilderung dieses Buben, der sich dauernd für seine strenggläubige Mischpoke schämt, nach Abschluss der Schule sofort nach Amsterdam abhaut und sich dort bis über die Ohren in eine vom Herrgott mit allen natürlichen Gaben gesegnete Studentin verliebt, die aber leider auch die Tochter eines stadtbekannten Kollaborateurs ist - allein diese Episode zeigt, über welche erzählerischen Möglichkeiten der Erzähler Leon de Winter souverän verfügt. Denn eigentlich müsste man ob dieser Klischeekonstellation das Husten kriegen, doch de Winter weiß aus dem Allzuerwartbaren durch Transponieren in eine ungewöhnliche Tonart immer wieder geschickt Kapital zu schlagen. Im Falle des verliebten Leo dadurch, dass er ihn und seine Ellen wie unter einer Glasglocke leben, tagelang im Bett sehr unschamhafte Dinge tun und auf zuhause und die Welt draußen pfeifen lässt. Es ist die Welt der ersten Beatles- Platten, der Kraker, der Antiatomwaffendemonstationen und Studentenproteste. Und schon wird er sichtbar, der Riss durch diese Welt.

    Die Liebste wird schwanger und erschrickt darüber dermaßen, dass sie zur Abtreibung nach London fährt, worauf Student Leo beleidigt und zerbröselt nach Paris trampt ("ein Kind von einem Juden, das ist ihr offenbar too much"), sie sich's auf der Fähre aber anders überlegt und das Kind ohne Leos Wissen zur Welt bringt. Sie heiratet einen verständigen Diplomaten, er erst eine jüdische Kommilitonin, dann eine Katholische, die sich um "Klopapier für Nicaragua" kümmert. Beide Ehen gehen - nicht zuletzt wegen seiner ewigen Affairen - gründlich schief. Und wir fragen uns mit Leo Kaplan, "begabter Schriftsteller und Verfasser von neun mehr oder weniger gelungenen Büchern, mit einem erwachsenen Körper voller Zärtlichkeit und Leidenschaft", warum jemand, den der Herr so gesegnet und der Vater obendrein mit einem auch nach Steuerabzug immer noch beeindruckenden Erbe bedacht hat - warum so jemand mit dem Leben nicht zurechtkommt, und zwar hinten und vorne nicht.

    Leo Kaplan, der "Meister der Vergeltungsaffäre", ist der jüngere Cousin von Philip Roths Nathan Zuckerman, freilich mit einem gravierenden Unterschied: Kaplans Eskapaden sind keine zynischen Einsamkeitsexerzitien mit emotionalem Kolateralschaden der Frauen, sondern schiere Eitelkeit (anticalvinistisch) und pure Genussucht (use your lips, not your hips).

    Und der Verfilmung seines Romans hat er ("war blöd von mir") nur wegen der "beeindruckenden Titten" der Hauptdarstellerin zugestimmt…

    Zugleich aber ist er als Beobachter fast ehrgeizig unbestechlich und hat zu lang in der Thora-Schule gesessen, als dass er sich durchgehen ließe, Mensch, Zeit und Epoche nur mit seiner 19-cm-Elle zu messen. Aber mit welcher dann? Leo Kaplan, gutaussehender, erfolgreicher Schriftsteller und ver- mögender Erbe, muss, rechtzeitig zum vierzigsten Geburtstag, feststellen, dass ihm in seinem Leben "abgesehen von zwei bis drei Büchern" nichts wirklich gelungen ist.

    Anders als z.B. bei "Harry Fulisch, Hollands ernstzunehmendstem Grössenwahnsinnigen", der glaubt, mit seinem Magischen Eierlöffel das kosmische Weltorchester zu dirigieren; anders als bei seinem Vater, den seine festgefügte jüdische Lebenswelt in der Bahn hielt. Und anders als bei Ellen, die ihn - und das ist eines der wunderbarsten Kapitel dieses Romans - nach mehr als zwanzig Jahren anlässlich seiner Lesung in Rom wiedersieht. Sie wehrt sich mit aller ihr zur Verfügung stehenden Vernünftigkeit dagegen, über die Verlockungen eines erneuten gemeinsamen Lebens ("unter unserer Glasglocke") auch nur nachzudenken.

    Ihr Leben ist verlässlich, geordnet, das muss reichen. Und zu dieser Ordnung gehört das Schweigen darüber, dass ihr Sohn auch der von Leo Kaplan ist. Und Kaplan? Hat in seiner Krokodilseele nur begriffen, dass man sich die Zumutungen dieser Welt nicht durch beobachtende Distanz vom Halse halten kann.

    Dass diese Zumutungswelt ihm, dem Ungläubigen, dann aus- gerechnet in Gestalt einer zu allem entschlossenen Dame aus der jüdischen Gemeinde zu Leibe rückt und statt schriftstellerischer Beobachtung persönliche Beachtung und Betrachtung von ihm fordert, gehört denn auch zu den bösesten Ironien dieses europäisch denkenden und intelligent erzählten Romans.