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Lernen für ein Leben nach der Haft

Eine solide Ausbildung während der Haft kann einem Straftäter den Start in das Leben nach dem Gefängnis erleichtern. Oft kommen gerade jugendliche Gefangene zum ersten Mal überhaupt zu einem Schulabschluss - im Knast. Im deutschen Strafvollzug ist schulische und berufliche Bildung daher ein wichtiges Instrument für die Resozialisierung.

Von Silke Schmidt | 15.12.2007
    Schüler: "Sie nahmen von ihm nichts wahr als seine Duftmaske, sein gebrautes Parfum - und dies in der Tat war zum Vergöttern gut."

    Lernen für ein Leben nach der Haft. Der Strafvollzug als Bildungschance. Eine Sendung von Silke Schmidt

    Schüler: "Er wollte nur ein Mal, einziges Mal in seiner wahren Existenz zur Kenntnis genommen werden - und von einem anderen Menschen eine Antwort erhalten auf sein einziges wahres Gefühl. Den Hass."

    Lehrer: "Okay - bis dahin."

    Literatur hinter Gittern - Deutschstunde in der Kölner Justizvollzugsanstalt. Mustafa Tukic liest aus Patrick Süskinds Roman "Das Parfüm". Außer ihm kommen fünf weitere Strafgefangene jeden Morgen in den kleinen Unterrichtsraum am Ende des langen Gefängniskorridors.

    Lehrer: "Dann fangen Sie mal an: Inwiefern ist hier das Bild vom Künstler als Genie im Sturm und Drang gezeichnet? Oder inwiefern ist hier der Künstler als "Sturm und Drang"-Künstler enthalten, im Parfüm?"

    Schüler: "Äh, wie soll ich jetzt sagen - mit dem Bild jetzt?"
    Das Niveau ist hoch. Den Schülern wird einiges abverlangt - das muss so sein, denn das angestrebte Ziel ist das Fachabitur.

    Lehrer: "Mit der Nase, was ist mit der Nase?"

    Schülerin: "Dass er alle Gerüche spalten kann, so weit, dass er jeden einzelnen Geruch raus hat."

    Schüler: "Die ist angeboren und nicht erwerbbar diese Eigenschaft, dass er so gut riechen kann."

    Lehrer: "Und als was tritt er auf?"

    Schülerin: "Als Übermensch."

    Lehrer: "Genau!"
    Eine gute Allgemeinbildung, ein Schulabschluss, eine Berufsausbildung. Das ist für alle Menschen einer Gesellschaft eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Lebensweg. Auch für die, die eine Freiheitsstrafe verbüßen. Eine Meinung, die von vielen Menschen geteilt wird:

    "Ich finde, sie sollten eine Bildung bekommen, gegebenenfalls eine Erstausbildung oder Weiterbildung. Weil ich glaube, nur dann haben sie - nachdem sie entlassen werden, eine Chance auch wieder vernünftig in unsere Gesellschaft integriert zu werden."

    "Es ist ja meistens ein Bildungsproblem, dass sie da rein gekommen sind. Es ist eigentlich nur redlich, wenn man ihnen dann eine Hilfestellung gibt."

    "Ich finde es wichtig für die Resozialisierung - wenn sie raus kommen, dass sie Zukunftsperspektiven haben."

    "Ich denke, die Wiedereingliederung ist sehr viel wichtiger von solchen Leuten, das ist sehr viel wichtiger als irgendwelche Strafgedanken oder die sollen büßen."

    "Ich würde eher sagen Büßen als wie Lernen - denn die haben ja die Chance, in Freiheit zu lernen. Wenn sie im Gefängnis sind, müssen sie halt ihre Strafe absitzen. Ist jetzt meine Meinung."

    "Der büßt ja sowieso schon, aber wieso soll er sich geistig nicht gefördert werden. Egal ob er seine Strafe da absitzt."

    "Ich würde nichts davon halten, einfach jemanden wegzusperren und ihm täglich eine Stunde frische Luft zu gönnen, sondern ich würde ihn anstellen - dass er irgendwie sieht, dass er auch was kann."

    Etwas für das Selbstbewusstsein und die Perspektive der Gefangenen zu tun, macht schon deshalb Sinn, weil die meisten nur kurze Zeit in Haft sind: vier von zehn Gefängnisinsassen in Deutschland sind maximal ein Jahr hinter Gittern. Fast jeder Inhaftierte kommt irgendwann wieder auf freien Fuß. Ihn darauf vorzubereiten ist Aufgabe des Strafvollzugs.

    Paragraph 2 Strafvollzugsgesetz. Aufgaben des Vollzuges.

    Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.


    Heinrich Pfläging hat diesen gesetzlichen Auftrag verinnerlicht. Seit fast 30 Jahren ist er Lehrer in der Kölner Justizvollzugsanstalt - und nimmt seine Mission ernst.

    "Man erkennt, dass ein Mensch, auch wenn er abgestürzt ist, einen Wert hat, dass er eben nicht Berufsdieb oder Berufsmörder ist, sondern, dass er ein Mensch ist, mit diesem Delikt, aber wenn er hinterher wieder auf die Füße kommen soll, dann muss man ihm etwas an die Hand geben."
    Nur wenige Jahre bevor Pfläging seinen Job als Gefängnislehrer antrat, war diese Auffassung in deutschen Gefängnissen noch keine Selbstverständlichkeit. Da galt noch die Dienst- und Vollzugsordnung aus dem Jahr 1961, die die Aufgaben des Gefängnislehrers so beschrieb.

    "Er verwaltet in der Regel die Gefangenenbücherei und wirkt bei der Persönlichkeitserforschung, beim Aufstellen und Durchführen des Vollzugsplanes, bei den Leibesübungen, der Freizeitgestaltung und der Pflege der Musik und des Chorgesanges mit."

    Unterricht sollte für erwachsene Strafgefangene in der Regel in der Freizeit erteilt werden, er spielte nur eine untergeordnete Rolle. Erst 1977 wurde diese Verordnung vom Strafvollzugsgesetz abgelöst - bis heute die Grundlage für die Bildungsangebote in der Haft. Seit nunmehr 30 Jahren wird bei der Verbüßung der Freiheitsstrafe Bildung gleichrangig neben Arbeit gestellt. Der Hintergrund - die meisten Gefangenen haben im Vergleich zur Normalbevölkerung großen Nachholbedarf in Sachen Bildung. Michael Walter, Leiter des Instituts für Kriminologie an der Universität Köln.

    "Das heißt, was Schulabschlüsse angeht, was Berufsausbildungen angeht ist der Anteil derer, die abgebrochene Karrieren zu bieten haben, die nichts fertig gemacht haben, wesentlich größer."

    Im deutschen Strafvollzug ist deshalb schulische und berufliche Bildung ein wichtiges Instrument für die Resozialisierung. Zwar stellen hohe Mauern, verschlossene Türen und begrenzte Kommunikationsmöglichkeiten keine optimalen Lernbedingungen dar. Dennoch birgt die Freiheitsstrafe für viele verurteilte Straftäter eine Chance zum Neuanfang.

    "Durch die Ruhe, die ihnen gewissermaßen aufgezwungen ist - und dadurch, dass sie mit sich selbst konfrontiert werden, in die Lage kommen, darüber ernsthaft nachzudenken, wie es mit ihnen weitergeht - insofern darf man nicht vergessen, dass damit auch Chancen verbunden sein können."

    Doch welche Möglichkeiten der persönlichen und beruflichen Entwicklung gibt es überhaupt im Strafvollzug - und wer darf sie nutzen? Das entscheidet sich in der Regel erst, wenn das Urteil gesprochen ist - im so genannten Einweisungsverfahren. In Nordrhein-Westfalen findet das für die erwachsenen männlichen Gefangenen zentral statt - in der Justizvollzugsanstalt Hagen. Leiter Friedhelm von Meißner.

    "Also wenn sie ordentlich Strafe haben, mehr als zwei Jahre, dann kommen sie in NRW in das Einweisungsverfahren. Hier wird geguckt, was für Gründe waren es, die sie straffällig haben werden lassen und wie können wir diese Gründe beheben, damit sie in Zukunft keine Straftaten mehr begehen. So ist ja das Ziel im Strafvollzugsgesetz formuliert. Also machen wir bestimmte Tests, wir werten Akten aus, führen Gespräche mit den Gefangenen, um dann hinterher zu entscheiden - in welcher Anstalt können welche Dinge am besten umgesetzt werden."

    Als Einweisungsanstalt ist die JVA Hagen nur eine Durchlaufstation. Hier wird entschieden in welche der 37 Haftanstalten des Landes die Gefangenen verlegt werden. An diesem Tag geht es um einen 24-jährigen Straftäter, verurteilt zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und elf Monaten wegen Raubes, Diebstahls und Unterschlagung.

    "Das Gewaltdelikt bezieht sich auf einen Vorfall, da hat er zusammen mit einem Freund einen Bekannten aufgesucht in dessen Wohnung und diesen mit einem Hammer und dann mit Schlägen bedroht und von ihm Geld gefordert und Wertgegenstände entwendet."

    Die so genannte Einweisungskommission ist zusammen gekommen. Psychologin Friederike Stolle schildert den Fall. Weitere Teilnehmer sind: ein Resozialisierungsberater der Arbeitsagentur und der Anstaltsleiter - ein Jurist. Psychologin Friederike Stolle hat in verschiedenen Tests und Gesprächen ein Persönlichkeitsprofil des Gefangenen erstellt.

    "Ich hatte den Eindruck was die Persönlichkeit dieses Gefangenen anbelangt, auch im persönlichen Kontakt, dass er ein sehr ängstlicher, selbstunsicherer Mensch ist, der in seiner Entwicklung noch sehr viel mehr Unterstützung bedurft hätte was die schulische und berufliche Entwicklung anbelangt. Auch von seinen intellektuellen Fähigkeiten ist er zwar durchschnittlich begabt, hätte aber mehr Förderung bedurft."

    Der Gefangene - nennen wir ihn Kevin Schmitz - habe sich in der Untersuchungshaft sehr zum Positiven verändert - so die Psychologin. Er habe seinen Hauptschulabschluss nachgeholt, sich zugänglich für Gespräche gezeigt, den Kontakt zu seinen Eltern wieder aufgebaut und wolle nun eine Ausbildung machen. Berufswunsch: Gerüstbauer, Maler oder Maurer. Doch nicht jeder Ausbildungswunsch könne erfüllt werden erklärt der Resozialisierungsberater der Arbeitsagentur Hagen, Dieter Stöckl.

    "Gerüstbauer ist eine Tätigkeit, was er nur außerhalb des Vollzuges machen kann. Maler, Lackierer musste ich in diesem Fall einschränken, weil es gibt eine gesundheitliche Einschränkung. Hier gibt es eine festgestellte Allergie gegen Lösungsmittel. Alternative Maurer habe ich mit ihm gesprochen. Die im Test gezeigten Ergebnisse lassen schon darauf schließen, dass eine durchschnittliche Intelligenz dieses Abschlussziel auch erreichen lässt."
    Da gibt es allerdings ein Problem - die Ausbildungskapazitäten für Maurer in der geschlossenen Vollzugsanstalt Geldern sind erschöpft. Eine Möglichkeit gäbe es noch in Bochum-Langendreher - allerdings im offenen Vollzug. Die Kommission muss nun abwägen, ob der Gefangene den damit verbundenen Freiheiten gewachsen ist: das heißt konkret: ob er nicht flüchtet, bei Ausgang nicht in der Kneipe landet, ob er sich ganz einfach an die Regeln hält. Kevin Schmitz könne es schaffen, glaubt die Psychologin. Mit einem straff organisierten Ausbildungsprogramm sei er gut eingebunden. Allerdings müsse er zusätzlich Suchtberatung bekommen und an Anti-Gewalttraining teilnehmen.

    "Er ist jemand, er sagt er selber, er macht Raubüberfälle, um sich zu bereichern, um auch seine Sucht zu befriedigen, aber er hat in Konfliktsituationen auch wenig Impulskontrolle. Er rastet dann aus, wenn er angemacht wird. Das sind Dinge, die er schon bearbeiten muss noch."

    Die Kommission beschließt nach kurzer Diskussion die Verlegung in den offenen Vollzug. Anschließend wird der Gefangene von einem Wachmann herein geholt.
    Kevin Schmitz trägt blaue Anstaltskluft, die Haare hat er kurz geschoren. Er ist muskulös, ein kräftiger Typ. Doch wie ein brutaler Schläger sieht er in dem Moment nicht aus, eher schüchtern und aufgeregt. Mit gerötetem Gesicht hört er die Empfehlungen der Einweisungskommission. Anstaltsleiter Friedhelm von Meißner nutzt die Situation, ihm noch mal ins Gewissen zu reden.

    "Es ist eine Chance für Sie, dass nun schon auf langsam Mitte 25 zugehend, den Absprung schaffen, denn sonst sieht es nicht so günstig aus, wenn man den Absprung nicht schafft - man muss immer gucken, das was man früher versäumt hat aus welchen Gründen auch immer. Je später man das nachholt, desto schwieriger wird es für einen, sein Leben zu verändern."
    Für Kevin Schmitz ist die Zeit der Ungewissheit vorbei. Er hat nun eine Perspektive für seine knapp drei Jahre im Strafvollzug.

    "War ein spannender Moment. Ich wusste ja nicht, wo es hingeht, ob es nach Geldern geht oder nach Bochum-Langendreher. Bin froh, dass es nach Bochum geht.
    58 Ich freu mich drauf, weil draußen wäre ich nie auf die Idee gekommen, eine Ausbildung zu machen."

    Anstaltsleiter von Meißner ist noch ein wenig skeptisch, ob Kevin Schmitz auch die anderen Empfehlungen, wie Suchtberatung und Anti-Gewalttraining, annimmt. Dennoch ist er überzeugt, dass die Entscheidung für die Ausbildung im offenen Vollzug dem Leben des Gefangenen eine neue Wendung geben kann.

    "Man muss auch manchmal sehen, dass solche beruflichen Dinge Vehikel sind für den anderen Teil. Man muss auch beim Gefangenen den Punkt finden, wo er sagt, da kann ich jetzt Erfolge für mich vorweisen. Und über die Erfolge kann ich mit ihm über die anderen Dinge sprechen, wo er noch Veränderungen erreichen soll. Das ist ein Prozess beidseitig. Muss man abwarten."

    Mehr als 75.000 Gefangene sitzen in deutschen Gefängnissen. Die meisten ohne abgeschlossene Berufsausbildung und Schulabschluss. Der überwiegende Teil hatte vor dem Abgleiten in die Kriminalität auch keine feste Arbeitsstelle. In der Justizvollzugsanstalt Zweibrücken in Rheinland-Pfalz wurde deshalb schon vor rund 30 Jahren ein Bildungszentrum eingerichtet. In rund zwölf Berufen wird dort ausgebildet. Der 24-jährige Thomas Niggedorf - den Namen haben wird geändert - absolviert dort eine Ausbildung zum Elektroniker für Betriebstechnik.

    "Wir bauen hier Schaltungen, die simulieren im Endeffekt wirkliche Schaltungen, wie sie draußen auch vorkommen würden, für irgendwelche Maschinen zu steuern. Nur halt ohne die Maschinen. Das Ganze halt simuliert."

    Hinter mehreren schweren Eisentüren befindet sich der Ausbildungsbereich. Die Lehrwerkstatt gleicht der, an einer ganz normalen Berufsschule. Nur: hier tragen die Azubis Anstaltskleidung und die Ordnung spielt eine größere Rolle:

    "Die Besonderheiten sind halt besondere Sicherheitsmaßnahmen, was den Vollzug betrifft. Die stehen an oberster Stelle. Jeder Teilnehmer, der rausgeht, wird kontrolliert, ob alle Werkzeuge da sind und muss auch von vorneherein eine Ordnung in den Schubladen sowohl als Werkzeug oder Material konkret darstellen."

    Für jede Zange, jeden Schraubenzieher gibt es in den Schubladen einen bestimmten Platz: so kann der Meister auf einen Blick feststellen, ob ein Werkzeug fehlt. Das Manko der mangelnden Praxis im Betrieb soll durch besondere Lehrmethoden aufgefangen werden, erklärt Azubi Thomas Niggedorf.

    "Die Ausbildung läuft größtenteils selbständig ab. Wir kriegen die Projekte, in schriftlicher Form, wo dann draufsteht, was die Schaltung bewirken soll - und wir bauen die dann dementsprechend auf."

    Wie Thomas Niggedorf haben rund 6.000 Häftlinge in den vergangenen 30 Jahren eine berufliche Qualifizierung in Zweibrücken durchlaufen. Neben klassischen Lehrberufen werden Fortbildungen und Kurzlehrgänge angeboten. Wenn auch nicht immer das, was sich manche Inhaftierte so wünschen:

    "Ich habe schon seit Jahren den Berufswunsch, ich wollte immer in der "Nachtbar" arbeiten und Cocktails mixen. Das ist halt mein Traumberuf, ich wollte das immer mal machen. Und ich weiß halt net - wenn ich mit meinem Aufenthalt hier fertig bin, dass ich das mal in Angriff nehme."

    "Mein Ziel ist es, Visagistin zu werden. Das passt eigentlich gut, weil ich mich gut mich mit Stylings, Schminken und Haare machen auskenne - das wäre eigentlich mein Ziel."

    Solche Jobwünsche werden derzeit in Zweibrücken allerdings nicht berücksichtigt. Als typischer Frauenberuf wird eigentlich nur eine Hauswirtschaftsausbildung angeboten. Das ist wohl auch der Tatsache geschuldet, dass nur etwa 5 Prozent der Gefangenen in ganz Deutschland weiblich sind. Der Schwerpunkt des Ausbildungsangebots liegt in Rheinland-Pfalz - wie übrigens überall im deutschen Strafvollzug - beim Handwerk. Anja Rohr, Leiterin der Berufsbildungsstätte in der JVA Zweibrücken:

    "Wenn man die Vermittlungszahlen anschaut, auch wenn man den Arbeitsmarkt betrachtet, dann ist es im Moment auf alle Fälle so, dass die größten Vermittlungschancen im gewerblich-technischen Bereich liegen - allen voran im Bereich Metall und in den Elektroberufen. Von der typisch kaufmännischen Ausbildung haben wir vor einigen Jahren Abstand genommen. Früher war es hier durchaus so, dass man hier Bürokaufleute ausgebildet hat. Jedoch war es für unsere Inhaftierten sehr schwierig, in diesen Berufen auch später eine Anstellung zu bekommen."
    Die Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt und damit die Chance auf Reintegration hat Vorrang vor dem persönlichen Wunsch. Theoretisch hat zwar jeder Gefangene die Möglichkeit, sich weiterzubilden. Praktisch aber nur, wenn er auch als förderungswürdig eingestuft wird. Grundsätzlich - so Anja Rohr - werde zwar bei jedem Inhaftierten zu Beginn geprüft, ob ein Bedarf an schulischer oder sonstiger Bildung in den so genannten "Vollzugsplan" aufgenommen wird, aber:

    "Natürlich ist es so, dass vorrangig die Inhaftierten eine Ausbildung machen, die bislang noch nicht die Chance hatten - oder bislang noch nicht dazu gekommen sind einen Ausbildungsabschluss zu erreichen."

    Bundesweit machen nur rund 14 Prozent der Gefangenen eine schulische oder berufliche Ausbildung. Ein Großteil der Gefangenen wird anders beschäftigt. Gründe sind außerdem schlechte Bildungsvoraussetzungen, mangelnde Sprachkenntnisse oder eine nicht ausreichende Haftzeit. Hinzu kommen weitere Hindernisse. Friedhelm von Meißner, Leiter der Justizvollzugsanstalt in Hagen.

    "Bei Suchtgefährdeten, die haben berufliche Abschlüsse, die sind dann oft aufgrund ihrer Sucht nicht in der Lage, das zu realisieren. Das heißt, da muss man den Schwerpunkt anders setzen. Insofern kommt nicht jeder Gefangene....in den Genuss einer beruflichen Maßnahme."
    Ähnlich verhält es sich im schulischen Bereich. Theoretisch ist alles möglich: Analphabeten können Lesen und Schreiben lernen, ausländische Inhaftierte die deutsche Sprache. Hauptschulabschlüsse können nachgeholt - und sogar das Abitur oder ein Studium absolviert werden. Die Angebotspalette ist groß, doch die Vollzugsanstalten registrieren insgesamt ein nachlassendes Interesse der Gefangenen am Erwerb von Schulabschlüssen. Das ist zumindest in Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland mit den meisten Gefangenen so. Ein Grund: viele Inhaftierte verbinden Schule mit einem Ort des Misserfolgs und des Scheiterns. Heinrich Pfläging, Lehrer der Justizvollzugsanstalt Köln.

    "Das ist fast der Normalfall, dass die Gefangenen, Männer und Frauen, junge und Erwachsene mit sehr negativen Schulerfahrungen hier bei uns eintreten. Ich gehe davon aus, dass der Absturz, den jemand in seiner Schulzeit erfährt, teilweise sogar ursächlich dafür ist, dass es später auch zu kriminellen Abstürzen kommt."
    In den Schulkursen der Justizvollzugsanstalten haben die Gefangenen die Möglichkeit, ihr negatives Bild von Schule und Lernen zu revidieren. Doch nicht alle Interessenten werden in die Kurse aufgenommen. Lehrer Heinrich Pfläging muss vorab klären wie lange der Häftling überhaupt in der Anstalt bleibt und wie es um seine schulischen Vorkenntnisse steht. Ganz wichtig ist ihm auch der persönliche Eindruck, den die Gefangenen auf ihn machen.

    "Es gibt zwei denkbare Bilder. Das eine Bild ist, dass einer sehr kaputt ist. Und dass er die Schulzeit schon sehr lange her ist und dass er - mit aller Vorsicht gesagt - dumpf wirkt. Und ich habe den anderen Gefangenen der Neugier rüberbringt, der das Gefühl rüberbringt, leistungswillig zu sein, auch wenn das mit dem Schulischen bis dahin nicht so toll gewesen ist."
    Von 60 Leuten, die sich in der Kölner Justizvollzugsanstalt für eine schulische Maßnahme melden, bleiben schließlich nur rund 20 Gefangene übrig, die dann die Kurse beginnen. Doch trotz der sorgfältigen Auswahl brechen auch immer wieder Gefangene die Schulkurse ab.

    "Ich muss mit einer gewissen Anzahl von Leuten rechnen, die zwischendurch erkennen, das schaffe ich nicht, weil einfach die intellektuellen Kapazitäten dafür nicht reichen. Oder aber dass, was an sonstigen Problemen zu lösen ist, ob das der Prozess ist, ob das familiäre Sachen sind - oder aber vielleicht auch die Drogenabhängigkeit. Das ist ein Hindernis im Kopf und im Herzen. Und dann steigt einer auch aus."

    Und wer dabei bleibt, braucht viel Hilfe und Unterstützung. Das bedeutet eine besondere Herausforderung für das pädagogische Personal im Strafvollzug. Die Lehrer müssen nicht nur Lernstoff vermitteln, sondern den Gefangenen immer wieder motivieren und fordern, ohne ihn zu frustrieren.

    "Das verlangt ein hohes Maß an Empfindsamkeit, denn jemand der Versagensangst in seinem Herzen hat, wird auch mit einem großen Vorbehalt in den Bildungsprozess eintreten. Ermutigung spielt dabei anhaltend eine ganz besondere Rolle. Ich muss jemandem vermitteln, ich halte ihn für leistungsfähig. Und das muss in seinem Herzen ankommen."

    Das oftmals angeknackste Selbstbewusstsein der Gefangenen kann so im Schulunterricht wieder aufgepäppelt werden. Mit einer besseren Allgemeinbildung fangen sie an, sich sicherer zu fühlen. Sie lernen damit auch in Konfliktsituationen anders zu handeln. Sie können argumentieren, sich immer besser sprachlich ausdrücken.

    "Früher konnte ich mit manchen Leuten, wenn die sich unterhalten haben über gewisse Sachen, gar nicht mitreden und kam mir dann immer klein vor, schlecht vor. Heute, wenn es um irgendwelche Sachen geht, wer weiß Geschichte, ich kann mitreden, ich habe Ahnung."

    "Dadurch, dass ich das hier auch im Unterricht lerne, mit Wörtern umzugehen, habe ich schon ein großes Ansehen."
    Der 25-jährige Mustafa Tukic - seinen Namen haben wir zu seinem Schutz geändert - ist verurteilt zu fast fünf Jahren Haft. Über die Hintergründe seiner Freiheitsstrafe will er nicht sprechen.

    "Ich habe eine Tat begangen, worauf ich nicht sehr stolz bin. Aber ich wusste, dass ich dafür die Schuld tragen muss, dass ich dafür bestraft werde und ich habe mich damit abgefunden irgendwie."

    Mustafa Tukic versucht das Beste aus der Haftzeit zu machen. An jedem Wochentag macht er sich nach Weckappell und Morgenaufschluss fertig für den Schulunterricht. Diese Routine hilft ihm, den oft tristen Gefängnisalltag zu überstehen

    "Mit der Zeit gewöhnt man sich an die Zeit, man versucht das zu überspielen und sagt: Ich habe mir jetzt einen Alltag aufgebaut, einen Rhythmus aufgebaut. Mein Rhythmus ist es seit 18 Monaten fast, jeden Morgen aufzustehen und in die Schule zu gehen."

    Zu Beginn seiner Haftzeit machte ihm besonders die räumliche Enge seiner Zelle zu schaffen. Ein Schrank, ein Bett, ein Tisch, eine Toilette - das alles auf rund acht Quadratmetern. Inzwischen hat er es sich halbwegs gemütlich gemacht.

    "Ich habe jetzt wirklich soweit die Nase voll von meiner Zelle, dass ich meine Wände schon irgendwie mit Postern oder Tüchern bedeckt habe, so dass ich denke, ich bin nicht in einer Knastzelle, sondern ich bin irgendwie in meinem Zimmer - ja und diese Atmosphäre bringt mich auch ganz woanders hin."
    Auch das Lernen entführt Mustafa Tukic in andere Welten. Pro Tag verbringt er in seiner Zelle mindestens zwei Stunden über seinen Büchern - sagt er.

    "Aber ob ich das richtige lerne? Wir haben keine Bücherei, wir müssen mit dem auskommen, was wir hier haben. Und ob es reicht sehen wir immer wieder im Unterricht und den Klausuren, die wir hier machen."

    Bisher hat es gereicht. Den Realschulabschluss hat er bereits geschafft - das Fachabitur ist in greifbarer Nähe. Danach strebt er eine Ausbildung zum Industriemechaniker an. Weiter denkt er noch nicht - er will kleine Schritte machen. Einen nach dem anderen. Hauptsache vorwärts.

    "Weil ich realistische Ziele habe und nicht von Träumen ausgehe. Meine Ziele sind nicht zu hoch gesetzt und auch nicht zu niedrig - und die Bildung hilft mir dabei, diese Ziele zu erreichen."

    Mit einer Aus- oder Weiterbildung können sich Gefangene in Deutschland die Basis für ein straffreies Leben nach der Haft erarbeiten. Auch in der Metallwerkstatt der JVA Zweibrücken feilen viele Gefangene an einer solchen Perspektive. Der 38-jährige Wolfgang Hemmersburg - auch seinen Namen haben wir geändert - hat eine gute Ausgangsbasis. Als einer der wenigen Insassen hat er bereits eine fertige Berufsausbildung als Schlosser. Die Haftzeit hat er genutzt, noch weitere Qualifikationen zu erwerben.

    "Ich habe eine normale Schweißerausbildung gemacht. Da hat man ein paar schöne Prüfbescheinigungen in der Hand, wenn man entlassen wird, da findet man besser Arbeit, das ist schon gut so."

    Wolfgang Hemmersburg sitzt wegen Betrugs. Als er festgenommen wurde, war er noch Inhaber einer kleinen florierenden Firma. Nach vier Jahren Haft ist von der Selbständigkeit nichts mehr übrig, aber immerhin - er hat nach seiner bevorstehenden Entlassung schon eine Anstellung in Aussicht.

    Zwar ist es erst mal nur eine Stelle bei einer Zeitarbeitsfirma, aber Wolfgang Hemmersburg will auf jeden Fall seine Chance nutzen. Denn zurück in den Knast will er auf keinen Fall - zu viel haben ihn die vergangenen Jahre gekostet.

    "Es geht doch einiges kaputt. Meine Kinder wohnen in Berlin, die habe ich jetzt vier Jahre gar nicht gesehen, da geht es nur über Briefe und Telefonate. Meine Eltern können mich nicht besuchen, die sind beide schwer krank, 600 Kilometer weg. Die einzige, die kommen kann ist meine Frau: und es reicht doch irgendwie nicht."

    Vier Jahre Gefängnis: Wolfgang Hemmersburg will das nicht noch mal durchmachen. Sein Wunsch für die Zukunft: ein ganz einfaches, normales Leben.

    "Und es wird normal bleiben. Man zieht eine Lehre aus so was!
    "

    Zu wünschen wäre es ihm jedenfalls. Die Statistiken sprechen nicht uneingeschränkt zu seinen Gunsten. Mehr als die Hälfte der erwachsenen Haftentlassenen wird nach einer Studie des Bundesjustizministeriums wieder straffällig. Bei Jugendlichen Inhaftierten liegt die Rückfallquote bundesweit sogar bei knapp 80 Prozent. Das Problematische an der Situation: selbst dann, wenn eine berufliche Qualifikation in der Haft erfolgreich abgeschlossen wurde, ist das Rückfallrisiko groß. Wolfgang Wirth, Leiter des Kriminologischen Dienstes Nordrhein-Westfalen, hat das Phänomen im nordrhein-westfälischen Jugendstrafvollzug untersucht.

    "Wir sehen, dass berufliche Ausbildung dazu beiträgt, dass Leute in Arbeit kommen. Aber wir sehen, wenn sie nicht in Arbeit kommen, dass dann auch die berufliche Ausbildung nichts mehr bringt."

    Das ernüchternde Ergebnis der NRW-Studie: etwa 80 Prozent ehemaliger Jugendstraftäter geraten innerhalb von vier Jahren wieder auf die schiefe Bahn, wenn sie keine Anschlussbeschäftigung finden. Gelingt der Übergang fließend, vermindert sich diese Rückfallquote auf 33 Prozent. Nur, wenn Ausbilder und Berater innerhalb und außerhalb des Vollzugs gemeinsam an einem Strang ziehen können die Chancen für alle Haftentlassenen verbessert werden - so die einhellige Meinung der Experten.

    "Da sind dem Strafvollzug die Hände gebunden. Im Prinzip heißt es, wenn der Gefangene entlassen wird, dann ist die Zuständigkeit vorbei. Und da bräuchte es eine vermehrte Zusammenarbeit mit externen Einrichtungen, nicht nur der Bewährungshilfe, sondern auch der Straffälligenhilfe, also mit einer ganzen Reihe von Sozialämtern, Arbeitsagenturen, die in konzertierter Aktion diese Probleme lösen müssen, dann gibt es eine Chance."

    In Nordrhein-Westfalen wurde deshalb das Netzwerk MABIS.NET gegründet. MABIS steht für "Marktorientierte Ausbildungs- und Beschäftigungsintegration für Strafentlassene". In insgesamt elf nordrhein-westfälischen Haftanstalten helfen die MABIS-Mitarbeiter bei der Suche nach Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Das Netzwerk stellt damit ein wichtiges Bindeglied zwischen Strafvollzug und der Berufswelt außerhalb dar. Beate Schmitz, Koordinatorin der MABIS-Net-Entlassungsvorbereitung.

    "Diese Verzahnung ist insofern wichtig, als dass sich 98 im Modellprojekt MABIS herausgestellt hat, dass die positiven Wirkungen der beruflichen Bildungsmaßnahmen vollständig verpuffen, sofern sich keine adäquate Anschlussqualifizierung für die Gefangenen ergibt."
    Nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch bundesweit soll deshalb der Übergang von der Gefangenschaft in die Freiheit verbessert werden. Die Zauberworte dabei heißen: Übergangsmanagement und Kompetenzermittlung. Ein Praxisbeispiel dazu hören wir gleich

    Elisabeth Döbbelin: "Wer wäre denn mal bereit, etwas aus seinem Leben anzuschauen? Genauer anzuschauen? Eine Situation, eine Arbeitssituation, eine Schulsituation, eine Hobbysituation, was auch immer."
    Spurensuche nach persönlichen Stärken und Schwächen: so funktioniert die so genannte Kompetenzermittlung bei Gefangenen bei "Step On". Elisabeth Döbbelin arbeitet normalerweise in der gleichnamigen externen Bildungsberatungsstelle in Mainz. Dort hilft sie Menschen ihr persönliches Profil zu erkennen und den passenden Berufs- und Bildungsweg einzuschlagen. Das Gleiche bietet sie nun jungen Frauen in der JVA Zweibrücken an, die kurz vor der Entlassung stehen. Dabei will Elisabeth Döbbelin den jungen Frauen helfen, eine Perspektive zu entwickeln und ihre so genannten informellen Kompetenzen kennen zu lernen.

    "Informelle Kompetenzen sind ja die Fähigkeiten, die man egal in welchem Beruf man ist, überall braucht. Sei das Selbstdisziplin, Disziplin überhaupt, Durchhaltevermögen - das wären so informelle Kompetenzen."

    Das Projekt der externen Einrichtung "Step On" ist eines von vielen, das versucht, Beratungsangebote innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern besser zu verzahnen. Übergangsmanagement heißt das Schlagwort, von dem sich die Akteure im Strafvollzug einiges versprechen: zum Beispiel eine bessere Reintegration der Entlassenen - und vor allem eine Minimierung des Rückfallrisikos. Vieles von dem, was bereits erprobt wird, soll nun auch eine gesetzliche Grundlage bekommen - zumindest in den neuen Jugendstrafvollzugsgesetzen der Länder.

    "Man hat eine ganze Menge positive Dinge aufgenommen, ganz bewusst dort eingesetzt. Ich will nennen das Thema Kompetenzfeststellung oder auch Eignungsanalyse genannt. Man hat eine stärkere Betonung von Bildung bis hin zum Vorrang von Bildung vor Arbeit im Strafvollzug definiert. Und man hat das Thema Übergangsmanagement in die Gesetzgebung aufgenommen. Also damit zum ersten Mal sehr bewusst den Schritt gemacht, die Arbeit des Vollzugs geht über das Tor hinaus. Das halte ich für ein Kernelement der Gesetzgebung."
    Erklärt Josef Schömann vom Berufsfortbildungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Er organisiert die beruflichen Qualifizierungsangebote in der rheinland-pfälzischen Justizvollzugsanstalt Zweibrücken. Seiner Meinung nach kann das Übergangsmanagement noch verbessert werden, auch wenn es schon erfolgreiche Ansätze gibt. So sind in der JVA Zweibrücken - wie in vielen anderen Anstalten auch - so genannte Resozialisierungsberater tätig, die sich um einen möglichst reibungslosen Übergang von der Haft in die Freiheit bemühen. Sie haben unter anderem Wolfgang Hemmersburg bei der Stellensuche geholfen.

    "Da gibt es eine zuständige Frau, das ist die Frau Graf. Die kümmert sich darum, dass man Vorstellungsgespräche bekommt. Habe ich auch schon gehabt bei zwei Firmen und jetzt habe ich auch schon den Arbeitsvertrag sicher, der wird jetzt noch unterschrieben - und das alles vor der Entlassung."

    Doch vor der Entlassung geht es für viele Inhaftierte nicht nur um eine Stellensuche, für manche geht es vielmehr darum, überhaupt einmal so etwas wie eine Zukunftsplanung zu machen - eine Perspektive zu entwickeln. In einem Pilotprojekt der JVA Zweibrücken hilft dabei die Beratungsstelle "Step On".

    "Sucht Euch einfach mal eine Situation raus, wo ihr sagt - die war superwichtig in meinem Leben."

    Es ist das 3. Treffen der Arbeitsgruppe: An den Wänden hängen große Plakate. Die haben die Gefangenen schon beim vorigen Mal angefertigt. Darauf haben sie ihre bisherigen Lebensstationen festgehalten. Eine 21-jährige Gefangene, nennen wir sie Nicole Müller, erzählt von einer Situation, die sie besonders geprägt hat.

    "Meine wichtigste war, als ich mich vom Vater meiner Tochter getrennt habe, da habe ich ja mit nix dagestanden. Habe bei Null anfangen müssen."
    Von heute auf morgen stand Nicole Müller damals vor verschlossenen Türen. Aber irgendwie hat sie die Krise gemeistert: eine eigene Wohnung gefunden, Möbel besorgt, die Finanzen geregelt und Ämtergänge erledigt.

    "Das war die schwierigste Zeit, mit Kind dazusitzen und nicht wissen wie und wo....in der Zeit bin ich ziemlich reif geworden und vernünftig. Das war eine harte aber gute Zeit, wenn ich jetzt so drüber nachdenke."

    Mit Hilfe der Bildungsberaterin von "Step On" hat sie die Krisensituation analysiert und daraus Rückschlüsse auf ihre positiven Fähigkeiten gezogen.

    "Willensstärke, Verantwortungsbewusstsein, Kraft, der Umgang mit Menschen liegt mir gut. Das sind alles Sachen, die wo halt ich jetzt als Stärken sehe und jetzt auch nutzen kann."

    Nicole Müller hat einiges vor, wenn sie aus der Haft kommt: ihren ursprünglichen Berufswunsch, Arzthelferin, will sie nicht mehr verfolgen. Sie hat höhere Ziele: Sozialpädagogin, so wie Elisabeth Döbbelin von "Step On" eine ist, das wäre ihr Traum. Konkret würde das noch viele Schritte bedeuten: Abi nachholen, Ausbildung zur Sozialassistentin, dann Studium. So eine konkrete Vision haben die anderen Teilnehmer nach den Beratungstagen nicht vor Augen, doch alle haben von der Bildungsberaterin etwas mit auf den Weg bekommen.

    "Ihr bringt was mit, egal wie bunt Euer Leben war. Steht hinter dem, wie ihr Euer Leben bisher gemeistert habt. Da stehen ja Fähigkeiten dahinter. Und dann zu schauen, kann ich die vielleicht beruflich nutzen."

    Das Modellprojekt "Step On im Strafvollzug" wird derzeit evaluiert. Nach Ansicht von Bildungsberaterin Elisabeth Döbbelin würde es durchaus Sinn machen, solche Beratungsangebote regelmäßig und mehrmals, nicht nur kurz vor der Entlassung, durchzuführen. Aufgabe der Politik wird es sein, zu prüfen, inwiefern sie solche innovativen Ansätze unterstützen will.

    Vom Alphabetisierungskurs über das Abitur bis zur Ausbildung. Die Bildungspalette im Strafvollzug ist vielfältig. Dennoch reicht das vielen Experten und Kritikern nicht. Insbesondere im Jugendstrafvollzug werden Mindeststandards gefordert, die es bislang nicht gab. Das ändert sich gerade: bis Ende des Jahres werden nach Weisung des Bundesverfassungsgerichts in allen 16 Bundesländern Gesetze für den Jugendstrafvollzug verabschiedet. Kriminologe Michael Walter von der Universität Köln begrüßt die Entwicklung.

    "Was sicherlich eine Chance darstellt, ist sicherlich das Urteil das Bundesverfassungsgerichts, das ja Vorgaben gerade im Hinblick auf die Erziehung liefert - und was Erziehung heißt. Und was damit im Sanktionenrecht - also im Jugendgerichtsgesetz - angelegt ist, das muss jetzt richtigerweise umgeformt werden und muss auch im Jugendstrafvollzugsgesetz aufgegriffen und konkretisiert werden - dass diese verfassungsrechtliche Verpflichtung besteht ist etwas Gutes!"
    Problematisch ist aus seiner Sicht die oftmals unverbindliche Gestaltung der Gesetzestexte. Das könne dazu führen, dass sich in der Praxis erst mal nicht wirklich viel ändert in den 27 deutschen Jugendknästen.

    "Es müsste möglichst so sein, dass das was im Gesetz entworfen wird, auch dann in die Praxis umgesetzt wird. Da denke ich wird es in einzelnen Bundesländern auch deutliche Abstriche geben."
    Vor allem ein Gedanke werde immer noch nicht genügend von Politik und Strafvollzug vertreten, meint auch Josef Schömann vom Berufsfortbildungswerk des DGB.

    "Und immer wieder die Frage zu stellen, was ist danach, denn jedem muss bewusst sein: morgen begegnet mir der Gefangene, der gestern im Vollzug gesessen hat, auf der Straße. Wirklich bei allen Akteuren das Bewusstsein: der erste Tag im Vollzug ist der erste Tag der Vorbereitung auf die Entlassung."

    Der Kölner Kriminologe Michael Walter fordert deshalb den Ausbau flexibler Fortbildungsangebote, die sich an den Bedürfnissen der Gefangenen orientieren.

    "Ich denke, dass wir noch vieles verbessern können in diesem Bereich und auch verbessern müssen. Und das muss in der Weise geschehen, dass man sich den Bedingungen dieser Gefangenen noch stärker annähert. Das heißt vor allen Dingen, das wir kurzzeitige und wirkungsvolle Programme entwickeln müssen, um Gefangenen, die nur begrenzte Zeit, oft ja nicht mal ein ganzes Jahr im Gefängnis verweilen, die Chance geben, bei Verlassen des Gefängnisses mit besseren Startbedingungen heraus zu kommen als den Lebensbedingungen, unter denen sie seinerzeit inhaftiert worden sind."

    Michael Walter fordert, dass die jeweilige Haftzeit vom 1. Tag an genutzt wird. Denn bei mehr als 40 Prozent der Gefangenen dauert die Freiheits- beziehungsweise Jugendstrafe maximal ein Jahr.

    "Es wird häufiger Zeit vertan. Einerseits Zeit vertan durch Verschubungen, bis die Gefangenen letztlich in der Anstalt angekommen sind, in der sie die Straße verbüßen sollen. Dann gibt es Wartezeiten bis sie dann in einen Kurs oder ein Förderprogramm integriert werden können. Und diese Zeiten müssen noch stärker verkürzt werden, dass man die Haft wirklich nutzt, um den Gefangenen ein besseres Rüstzeug zu geben."
    Das Problem ist der Politik bekannt. In Nordrhein-Westfalen wurde die Entwicklungspartnerschaft "ZUBILIS" ins Leben gerufen, die Visionen für die Zukunft der Bildung im Strafvollzug erarbeiten soll. Und die soll auf jeden Fall flexibler und modularer gestaltet sein als bisher. So wurde in NRW bereits begonnen, Ausbildungsinhalte in kleine Häppchen aufzugliedern. Die so genannten Qualifizierungsbausteine werden auf E-Learning-Plattformen zur Verfügung gestellt und derzeit erprobt. Je nach den individuellen Bedürfnissen können die Gefangenen Grundrechenarten auffrischen, EDV- oder Fremdsprachenkenntnisse erwerben oder sich sogar zum Call-Center-Agenten ausbilden lassen.

    "Es bietet zeitliche Flexibilität im Alltag der Vollzugsanstalt. Man kann zu unterschiedlichen Zeiten, Unterschiedliches machen. Es bietet vor allem aber auch eine zeitliche Flexibilität, die über den Zeitraum der Entlassung hinaus guckt. Das heißt, wir sind in der Lage im Vollzug etwas anzufangen - und wenn man bildlich spricht - mit einer Diskette in der Hemdtasche könnte der Gefangene dann rausgehen in ein Berufskolleg und das da fortsetzen."

    "Unser Ziel ist es, dass keine Lernzeit verloren geht. Und das heißt: all das, was die Jugendlichen in der kurzen Zeit geschafft haben, das müssen wir ihnen bescheinigen, bestätigen, damit sie später in der Freiheit auch weiter daran arbeiten können,"

    sagt auch Beate Scheffler aus dem Schulministerium NRW. Doch trotz aller guten Absichten seien dem Modellprojekt "ZUBILIS" auch Grenzen gesetzt. Nicht alles, was aus Bildungssicht sinnvoll sei, könne im Strafvollzug umgesetzt werden.

    "Und es gibt auch Probleme, die wir nicht umgehen können. Sicherheitsprobleme. Wenn es sich um Inhaftierte handelt werden sie die nicht völlig ausschalten können. Die Frage, ob man im Internet surfen kann oder nicht, die können sie nicht so einfach beantworten. Das ist eben etwas anderes als wenn sie in der normalen Schule sind."

    Trotz aller Widrigkeiten. Aus Sicht des Kriminologischen Dienstes Nordrhein-Westfalen hat die Entwicklungspartnerschaft "ZUBILIS viel erreicht. Die erste Projektphase wird Ende des Jahres abgeschlossen. Aber es sollen nicht die letzten Schritte gewesen sein, um die Chancen auf Reintegration der Gefangenen zu verbessern. Denn bisher sei vor allem bei den kurzzeitigen Qualifizierungsangeboten nur ein Bruchteil dessen erreicht, was der Arbeitsmarkt erfordere. Wolfgang Wirth vom Kriminologischen Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen.

    "Und der Arbeitsmarkt wird sich auch in Zukunft weiter wandeln. Da ist es aus meiner Sicht erforderlich, dass wir ein bisschen über die Landesgrenzen hinweg gucken, dass wir sehen, wie gehen andere Bundesländer mit dem Thema um. Da wäre es unverantwortlich Geld auszugeben und dasselbe noch mal zu machen. Da muss es zu einer Vernetzung über die Landesgrenzen hinaus kommen, vielleicht auch mit anderen europäischen Ländern."

    Da nach der Föderalismusreform, die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug jetzt bei den Ländern liegt, wird Vernetzung und Zusammenarbeit in Zukunft nicht eben leichter. Aber nicht nur das befürchtet Professor Michael Walter, Kriminologe der Universität Köln.

    "Ich fürchte eher, dass die Länder, jedenfalls teilweise, der Versuchung erliegen, den Vollzug preisgünstig zu gestalten. Dass sie also hier diese Angebote zurücknehmen werden oder auf eine kleine Gruppe von Gefangenen begrenzen werden - und das wäre der Gesamtentwicklung sehr abträglich."

    Abträglich wäre dies vor allem auch der Motivation vieler Gefangener, die Haft für einen Gesinnungswandel zu nutzen und künftig straffrei zu bleiben.

    "Jetzt nach der Zeit kann ich sagen - das war schon eine gute Lehre für mich. Hier sieht man einiges, was man draußen nicht gesehen hat. Einfach weil man draußen nicht die Chance oder Zeit dazu hatte zum Nachdenken. Hat man hier doch ganz schön viel Zeit zum Nachdenken, um die Fehler zu sehen und sich auch bessere Ziele hier aufzubauen und draußen etwas auf die Reihe zu bekommen. Ein geregeltes Leben zu führen."

    Links zum Thema:
    www.zubilis.de
    Zukunft der Bildung im Strafvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen

    www.mabis-net.de
    Entlassungsvorbereitung in Nordrhein-Westfalen

    www.justiz.nrw.de
    Strafvollzug in NRW

    Hinweis:
    Alle Namen von Strafgefangenen, die in dieser Sendung zu Wort kommen, wurden zu deren Schutz geändert. Eine mögliche, zufällige Namensgleichheit mit anderen Personen ist nicht beabsichtigt!