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Lernen macht Spaß

Selbst bei den größten Leseratten hat Lesezwang in Kindheit und Jugend stets zu Protest, Aufstand, Verweigerung geführt. Trotzdem soll es heute ums Lernen gehen: Gebärdensprache und Zeichnen stehen im Mittelpunkt.

Von Florian Felix Weyh | 30.10.2010
    Ist es nicht so, lieber Hörerinnen und Hörer, dass fast jeder Erwachsene mit sich ein Geheimnis herumträgt?

    "Als Kind fand ich jedes Buch, was in der Schule nötig war zu lesen, fand ich ein blödes Buch! Und dann hab ich aber ringsrum in den Zeiten, die frei um die Schule herum waren, hab ich gelesen wie verrückt! Da hatte ich kein Problem mit dem Lesen. Aber im schulischen Lesen hatte ich ein Problem. Und obwohl die Bücher ... na, ich fand sie wirklich blöd! Vielleicht lag's auch an der Auswahl, und ich kann nur hoffen, dass die Lehrer heute bessere Bücher auswählen. Aber ich find alles heikel, was mit Zwang zu tun hat beim Lesen."

    ... erzählt Monika Osberghaus, Leiterin des Klett Kinderbuchverlags in Leipzig, und richtig: Selbst bei den größten Leseratten hat Lesezwang in Kindheit und Jugend stets zu Protest, Aufstand, Verweigerung geführt. Trotzdem soll es heute ums Lernen gehen, allerdings weder um stumpfe Paukerei, noch um pädagogisch ausgefeilte Konzepte, wie man Schulbücher so aufbereitet, dass sie nicht mehr nach Zwangslektüre aussehen.

    Nein, wir entfernen uns einen guten Schritt von den Bildungsinstituten und behaupten dabei fröhlich: Lernen macht Spaß! Mit selbst gewählter Lektüre nämlich, die Fähigkeiten vermittelt, von denen mancher Lehrer bislang nichts mitgekriegt hat. Hier lauert die Chance für aufgeweckte Schüler, denn Wissen schafft Überlegenheit! Das betont auch Andreas Kostrau, Berliner Gebärdensprachler und Mitwirkender bei einem ganz außerordentlichen Buchprojekt aus dem Klett-Kinderbuchverlag:

    "Wir haben auch Schüler bei uns, die ihre Klassenarbeiten viel besser machen können, weil sie im Unterricht die Gebärdensprache benutzt haben. Und der Lehrer hat das nicht mitgekriegt! War ja ne lautlose Sprache, und hilft besser als ein Spickzettel!"

    "Hand in Hand die Welt begreifen" heißt einer der Titel, denen wir uns heute widmen wollen. Doch bevor wir uns mit mangelnden Kenntnissen auf einem Gebiet beschäftigen, das nur wenige beherrschen, sei ein peinlicher Mangel eingestanden, unter dem keineswegs viele leiden. Der Rezensent gibt hiermit frank und frei zu:

    "Ich bin ein Versager."

    Genau: Ich bin ein Versager. Ein Schüler von der letzten Bank, ein vom Kindergarten bis zur Universität unbelehrbar Gebliebener, ein hoffnungsloser Fall von Inkompetenz in ... zeichnerischen Dingen. Aufgaben wie "Fertige ein Porträt deines Gegenüber an" stürzten mich zeitlebens in tiefste Verzweiflung, und ich bin heilfroh, dass man im Radio niemals etwas skizzieren muss. In der Schule allerdings wird auf solche Versager kaum Rücksicht genommen. Einmal wöchentlich öffnet der Lehrer den Mund und gibt seine Vorgaben bekannt. Oder verzichtet auf sie. Noch schlimmer!

    "Da wären wir also. Du sitzt gemütlich da. Auf dem Tisch vor dir liegt ein sauberes Blatt Papier, unberührt und schneeweiß. Du hältst einen gut gespitzten Aquarellstift in der Hand. Du bist bereit, gewappnet – und natürlich vollkommen ratlos. Warum? Leere-Seiten-Panik. Dein Hirn ist Mus. Vom gesamten Planeten mit allem, was drauf ist, fällt dir nicht eine einzige Sache ein, die du zeichnen könntest. Falls dies dein Problem sein sollte, keine Sorge. Es geht ausnahmslos jedem so, und zwar völlig zu Recht."

    Das sind die Worte von Quentin Blake, Englands bekanntestem Kinderbuchillustrator – Stichwort: die Bücher von Roald Dahl –, der sich offensichtlich in die Seele zeichnerisch Unbegabter hineinzuversetzen vermag. In einem Gemisch aus britischem Understatement und schwarzem Humor bietet er in seinem "Zeichnen für verkannte Künstler" fortwährend Lockerungsübungen an. Denn wenn sich Geist und Seele verkrampfen, kann die Hand nicht schwungvoll ausholen. Überhaupt: Wie sieht Erfolg in der Kunst schon aus?

    "Zeichnungen gelingen natürlich auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maße. Wir würden eine Zeichnung als gelungen ansehen, wenn sie das Interessante oder Wesentliche an einer Sache einfängt (und zwar mit tödlicher Sicherheit). Das kann zufällig passieren (ist oft so), aber du darfst trotzdem die Lorbeeren dafür einheimsen. Eine Zeichnung von einem wilden Ungetüm zum Beispiel wäre nach unseren Maßstäben ziemlich geglückt, selbst wenn die Einzelheiten unsäglich verhauen sind, solange das Monsterhafte an dem Ding gut zu erkennen ist." (Blake S. 6)

    Zum Beispiel bei der "Kartoffelbrommel", dem "nervösen Segelschisser" oder dem "zehnbeinigen Gibtsdochnicht" – allesamt flüchtig hingekritzelte Geschöpfe aus Quentin Blakes Universum. Das herrliche Buch aus dem Kunstmann Verlag imitiert mit Spiralbindung und sehr festem Pappeinband äußerlich einen Skizzenblock, innerlich ist es eine Mischung aus Sudel-, Mal- und Lehrbuch. Blake hat viel Platz zwischen den eigenen Zeichnungen gelassen, und sie sind flüchtig genug, um niemanden zu entmutigen. Aber natürlich atmen sie dennoch die Genialität dieses Zeichners. Sprachlich knappe Anleitungen zielen aufs Wesentliche, den Rest demonstriert Blakes Feder- und Bleistiftstrich. Auf dass man ihm nachtue ... denn so schwer kann das ja alles nicht sein!

    "Wie man ein Schwein zeichnet. Wie der Vogel ist das Schwein im Grunde nichts weiter als ein Oval mit einigen zusätzlichen Teilen: Ringelschwanz, vier Beine, große plattgedrückte Nase, keine Flügel." (Blake S. 64)

    Die Lakonie – vermutlich aus der Feder seines Co-Autors John Cassidy – ist kein Spott, sondern der Versuch, Versagensängste klein zu halten. Und zugleich ein gewitzter Beleg dafür, dass Zeichnungen durch Verbindung mit Sprache eine Dimension gewinnen – und zwar eine, die den Zeichner entlasten kann:

    "Vordergrund-Freddy wendet der Straße, den Hügeln, einigen Bäumen, dem einen oder anderen Haus und seinem Freund, Fersengeld-Frank, den Rücken zu." (Blake S. 39)

    ... heißt es etwa auf Seite 39 und verspricht in Worten mehr als die Zeichnung in Strichen hält. Solche kleinen Mogeltricks geben dem Zeichenängstlichen Selbstvertrauen, zur Not korrigiert die Bildunterschrift, was das Bild selbst nicht hergibt. Doch wie steht es um die eingangs erwähnte, unausweichliche Porträtaufgabe? Quentin Blake kennt die missliche Lage:

    "Die meisten Leute (auch du) messen dem menschlichen Gesicht ungeheuer viel Bedeutung bei (weit mehr, als eigentlich gerechtfertigt wäre), was dazu führt, dass sie in ihrem Urteil über Bilder von Gesichtern übermäßig pingelig sein können. Das bedeutet: Wenn du Gesichter zeichnest, bewegst du dich auf dünnem Eis. Eine kleine Linie kann alles verändern und häufig wirst du mit dem Ergebnis überhaupt nicht zufrieden sein. Unsere Empfehlung lautet: Na und? Geh beherzt und experimentierfreudig ans Werk. Jedes gelungene Werk wird umso heller strahlen, und die weniger gelungenen Entwürfe – sie sind nichts weiter als notwendige Schritte auf dem Weg zum Erfolg." (Blake S. 74)

    Dies zu Herzen genommen, sei das Buch nachdrücklich all jenen empfohlen, die sich oder ihre Kinder als unfähig erachten, eine Maus, eine Blume, ein Auto oder wenigstens den Buckingham Palace zu zeichnen. Auch der nächste Tipp enthält kaum Lesestoff. Eigentlich nur ein paar Hundert Worte und sehr viele Bilder – die meisten wiederum Zeichnungen, allerdings nüchtern sachlicher Natur. Ganz nahe liegt die Verlockung, von der Zeichnung aufs Zeichen zu schließen. Doch das wäre ein Fauxpas:

    "Ne Weile lang lief das bei mir unter dem Arbeitstitel 'Zeichentricks'. Das fand ich schön, so doppeldeutig und so! Und das geht überhaupt nicht! Weil das ist keine Zeichensprache! Das ist die Gebärdensprache. Damit beleidigt man die Gehörlosen, mit ihrer Sprache, mit ihrem Gefühl für ihre Sprache, wenn man sagt, das sind Zeichen."

    "Hand in Hand die Welt begreifen" verrät im Untertitel, was es ist: "Ein Bildwörterbuch der Gebärdensprache".

    "Ich hab das Buch auf der Kinderbuchmesse in Bologna an einem norwegischen Stand entdeckt. Und das hat mich sofort so fasziniert. Und wenn man das aufschlägt und sich anguckt, das ist ein ganz prall-buntes, schönes, quirliges Buch, dann macht das sofort unmittelbar Laune dazu das auszuprobieren. Und das war eigentlich der erste Impuls. Ich hab da nicht weiter drüber nachgedacht: "Ja braucht man das? Ist es vielleicht nur für Gehörlose?" Als ich das Buch in der Hand hatte, habe ich darüber überhaupt nicht nachgedacht. Weil ich gemerkt habe, das macht Spaß, und das bereichert einen."

    Mit ziemlichem Aufwand ließ Monika Osberghaus das norwegische Buch auf Deutsch komplett neu entstehen – denn eine Übersetzung im einfachen Sinne schied aus:

    "Die Norweger gebärden ja ganz anders als die Deutschen. Die Deutschen gebärden wiederum anders als die Italiener. Da es so körperlich ist, ist es ja auch emotional, und deswegen hat es dann auch was mit den Temperamenten zu tun. Und da sind die Norweger möglicherweise tatsächlich ein bisschen zurückhaltender als zum Beispiel die Süditaliener. Und auch bei uns in Deutschland ist es so, dass die Gebärdensprache in Hamburg anders ist als in München. Dass die Hamburger zum Beispiel ein ganz anderes Wort für Sonntag haben als die Bayern. Die Hamburger machen so ein Zeichen, wo sie sich so ein imaginäres Stäubchen vom Kragen wischen – also es sieht so sehr fein aus – und die Bayern machen ein Kreuzzeichen für Sonntag."

    Eine echte Herausforderung auch über die regionalen Besonderheiten hinaus, denn Gebärden sind räumlich orientiert, während das Buch, wie man es auch dreht und wendet, ein flaches Medium bleibt. Jeder Gebärdensprachzeichnung ging daher eine Videoaufnahme voraus, auf der Andreas Kostrau, Berliner Gebärdensprachlehrer, den Bewegungsvorgang so demonstrierte, dass die Zeichnerin Ulrike Jentzsch sie in eine passende Anleitungsskizze umsetzen konnte. Kostrau erläutert:

    "Dieser gebogene Pfeil, der sagt mir dann, wie ich meine Handrichtung zu bewegen habe. So wie's draufsteht halt! Es ist ein bisschen schwierig, dreidimensional auf einem 2D-Papier wiederzugeben. Und deswegen haben wir auch gesagt, dass wir diese ganzen Vokabeln auch im Film wiedergeben. Das wird dann auf unserer Homepage unter gebaerdenservice.de anschaulich dargestellt. Und dann können Sie noch mal nachschauen unter "Podcast". Und wenn man jetzt zum Beispiel Seite 107 hat, und da steht 'Firewall', und es gibt Menschen, die sagen: 'Mh, ganz komisch, guckst du noch mal nach im Podcast!' Dann kann man 107 anklicken, und dann kann man genau sehen: 'Firewall – ach, so wird's gebärdet!'"

    Tatsächlich enthält das Wörterbuch solch lebensnahe, doch abstrakte Termini wie "Firewall", "E-Mail" oder "Ebay" ... und Andreas Kostrau erzählt, wie zu einem neuen Wort die passende Gebärde entsteht:

    "Ich kann mich noch gut erinnern, wo Ebay ganz neu rauskam, da gab's so fünf, sechs verschiedene Gebärden dafür. Und das Volk hat sich dann für 'Versteigerung' entschieden. Das heißt, Ebay mit dem Hammeraufschlag. Eins, zwei, drei – bumm! Da haben wir gesagt: Ebay."

    Er schlägt mit der geballten Faust auf die flache Hand.

    Den gehörlosen Andreas Kostrau als Mittler zwischen den Welten zu erleben, macht großen Spaß, aber es macht auch schon Spaß, in diesem Buch zu blättern und sich dem Sog der fremden Sprache auszuliefern. Sehr rasch beginnt man mit zaghaften Arm- und Handbewegungen, um die Gebärde auf ihre Praktikabilität und Plausibilität hin zu erproben. Das ist ein Erlebnis, denn hinter jeder Gebärde steckt ein manchmal verschüttetes, manchmal archaisches, manchmal hoch modernes Bild. So führt das Erlernen dieser Sprache zugleich in die Etymologie von Sprache insgesamt hinein, weil sich – gerade bei abstrakten Begriffen – die Frage nach der Rückübersetzung in einen gestisch darstellbaren Sachverhalt stellt.

    "Es gibt manche Gebärden, wo ich sage: 'Öh? Versteh ich nicht!' Man muss das Wort dann kennen, um zu sagen: 'Ach, jetzt versteh ich!' Motivation, Motivation ... man reibt sich die Hände. In Wirklichkeit ist Motivation ein Produkt, das der Körper ausdrückt, also brodelt im Körper. Das hat man versucht einzuführen. Aber kam nicht! Wir haben Motivation mit Händereiben, weil das kommt besser an. Man reibt sich die Hände."

    "Die Gebärden sind ja oft so sinnvoll! Also die sagen ja so viel aus, die drücken ja noch mal den Inhalt des Wortes noch mal so schön aus. Und deswegen, glaub ich, ist es auch wirklich was, was Kinder ganz schnell begreifen im wahrsten Wortsinn! Und ganz schnell lernen. Schneller auch als wir Erwachsenen können die sich das aneignen. Und das war eigentlich für mich das Spannende da dran, dass es eine Sprache gibt, die man so körperlich ausübt geradezu, und die einem noch einmal ganz andere Ausdrucksmöglichkeiten gibt."

    "Also am Anfang, da hab ich 'Alexanderplatz' blöd gefunden! Also "Alexanderplatz", die alte Gebärde, ist so ... "

    Andreas Kostrau deutet dezent auf eine nicht vorhandene Brusttasche in seinem Hemd.

    "Weil damals Alexanderplatz war ja ein großer Schwarzmarkt gewesen. Und das ist Detektiv, Kripo und Kriminelle. Wahrscheinlich wegen dem Ausweis, den man zeigen konnte. Aber jetzt ist es ja nicht mehr so, jetzt ist kein Schwarzmarkt mehr da, und jetzt ist "Alexanderplatz" so. Sieht so aus wie ein Stinkefinger – also das ist eure Sprache, Stinkefinger! – bei uns ist es nicht so. Bei uns ist es identisch mit dem Fernsehturm. Hundertprozentig Alexanderplatz. Am Anfang hab ich das so n bisschen komisch gefunden, aber hab gesagt: Warum nicht mit der Zeit gehen? Find ich super!"

    Super ist – um gleich anzuknüpfen – das ganze Buch, wenn man es als Chance betrachtet, schlafende Gehirnzellen zu wecken, und dabei auch noch etwas Nützliches zu lernen. Eine Fremdsprache nämlich, die ein bisschen anders funktioniert als unsere akustischen Verständigungsarten.

    "Zeit - Subjekt – Objekt – Verb! Der Satzbau ist anders. Und bei Verbgebärden benutzen wir die Manipulatorgebärden. Das heißt, wenn ich sage: 'Ich fahre mit dem Auto", dann benutze ich nur das Auto. Autofahren ist, man hat ein Lenkrad in der Hand und schiebt es nach vorne, das nennt man Autofahren. Das ist so eine Manipulatorgebärde: Gestern – ich – Hamburg – Auto. Also Auto ist eigentlich kein Verb, aber das ist ein Verb, weil die Gebärde ein Verb ist."
    "Während Substantive wie Türme gerne in der Gegend herumstehen, steif und aufrecht und nicht zu übersehen, wirken Verben auf den ersten Blick eher bescheiden. Sie sind keine Hauptdarsteller, sondern scheinen in Texten eher eine Nebenrolle zu spielen. Das ist aber in Wirklichkeit nicht so. Ohne Verben geht nämlich gar nichts. Sie sind es, die Bewegung in eine Geschichte bringen, die den etwas steifen Substantiven Beine machen." (Boëtius/Hein S. 62)

    Das ist ein Zitat aus unserem dritten Buch. Nahtlos schließt es an die beiden Vorgänger an, indem es ebenfalls eine kommunikative Fertigkeit vermittelt. "Die ganze Welt in einem Satz" nennt das Autorenpaar Hennig Boëtius und Christa Hein seine "Sprach- und Schreibwerkstatt für junge Dichter", erschienen bei Beltz&Gelberg. In einem Satz? Vielleicht diesem:

    "Eine Schraube ist ein Nagel mit einem Mittelscheitel." (Boëtius/Hein S. 82)

    Okay, das wäre zu kurz gegriffen, handelt es sich doch hier um eine Spezialform des Aphorismus, die Greguería. Verblüfft muss der Rezensent einräumen, davon in seinem langen Leserleben noch nie etwas gehört zu haben, was beweist, dass Jugendsachbücher auch Erwachsenen noch auf die Sprünge helfen können. Witzige Metaphern mit Verblüffungseffekt und einer leichten Tendenz zum Kalauer wurden vom spanischen Dichter Ramón Gómez de la Serna Greguerías getauft und eignen sich wegen ihrer Kürze und ihrer Frechheit ganz vorzüglich als Einstieg ins Sprachexperimentierleben. Zum Beispiel:

    "Ein Auto entsteht, wenn zwei Fahrräder lange genug nebeneinanderher fahren. / Er war so aufgeblasen, dass er in keinem Nadelwald spazieren gehen konnte. / Der Tyrann rannte zur Tür. / Es muss für einen Singvogel etwas Schönes sein, vom eigenen Flügel begleitet zu werden. / Mein Unstern ist mir schnuppe. – Lege jetzt los und mache deine eigenen Greguerías, aber Vorsicht: Es besteht Suchtgefahr!" (Boëtius/Hein S. 83)

    ... warnt das zweifarbig gedruckte, schön anzusehende Buch auf Seite 83. Nämliches dürfte auch für etliche andere Anstiftungsversuche gelten, sich unserer Sprache aus der Perspektive des Klang- und Sinnbastlers zu nähern. Material stellen Hennig Boëtius und Christa Hein reichlich zur Verfügung, von der "Konsonantenmulde" über "Kofferworte" und "Farbelfchen" bis hin zum "Wortsparschwein". Suchtgefahr besteht auch beim folgenden, leicht angeschrägten Blick auf die uns umgebende Buchstabenwelt:

    "Wortverstecke. In vielen Substantiven stecken noch andere, meist kürzere Wörter. Mit ein bisschen Übung gelingt es einem, sie aufzuspüren und schließlich auf einen Blick zu sehen. Hier ein paar Beispiele:
    Kinoleinwand: in / ein / ei / wand / ole / an / einwand
    Schlaufe: Schlau / lau / laufe / auf
    Taubenschlag: Tau / taub / lag / Ben
    Konditormeister: Tor / meist / ei / ist
    Versteigerung: Vers / erst / Teig / ei / er
    Kommandant: Komm / man / da / an / Komma
    Misthaufen: ist / hau / auf"
    (Boëtius/Hein S. 52)

    Wer zum Zählzwang neigt, sollte sich dieser verwandten Wortzergliederungsleidenschaft lieber nicht hingeben, sonst sieht er vor lauter Wortverstecken irgendwann die eigentliche Botschaft nicht mehr. Besser wendet er sich vom kleinteiligen Puzzlespiel ab und dem großen Ganzen zu. Hennig Boëtius und Christa Hein vergleichen Texte mit Häusern, bei denen der Autor als Architekt wirkt und sich, wie ein Architekt, an ein paar Grundregeln halten sollte.

    "Zu den wichtigsten Bauelementen eines Hauses gehören die Fenster und die Türen. Die Türen verbinden die einzelnen Räume miteinander. Die Fenster dienen einem doppelten Zweck. Sie sollen Licht in die Räume lassen, und sie sollen es den Bewohnern erlauben, hinauszusehen in die Welt. Bei Texten gibt es all das auch. Es gibt Passagen, die mehr der Information dienen (Zweckräume), und solche, die hauptsächlich dem Wohlbefinden der Bewohner dienen (Wohnräume). Es gibt dunkle Ecken, geheimnisvolle Dachböden, finstere Keller. Es gibt helle Räume mit großen Fenstern nach draußen, und es gibt Räume, in denen man besonders gut nachdenken kann, weil es keine Ablenkung gibt. Eine gute Geschichte hat viele solcher verschiedenen Räume. Und die Türen dazwischen sind kleine Überleitungen, die es erlauben, von einem Raum in den nächsten zu gehen. ( ... ) Es gibt Bücher, die gewissermaßen sehr hell sind, weil sie große Fenster haben. Wenn man sie liest, sieht man Landschaften, Menschen, andere Häuser." (Boëtius/Hein S. 190-191)

    Auch wenn das Buch die "Werkstatt" im Untertitel trägt, darf man "Die ganze Welt in einem Satz" nicht mit den üblichen Schreibkursbrevieren in einen Topf werfen, die aus Lesern im Schnelldurchlauf Autoren zu machen versprechen. Hier geht es um die Annäherung an ein Universum, das all jenen, die sich darin bewegen, ein Leben lang Freude und Lebenssinn beschert – ob man nun zum Autor wird oder Leser bleibt. Vielleicht braucht dieses Buch ein Gran mehr an Interesse fürs Thema als die beiden vorangegangenen, aber man kann ja nicht immer bei Null anfangen. Beziehungsweise: Wer bei Null anfängt – im Vorschulalter etwa –, hat eine ganz neue Lernoption:

    "Willkommen im Bauernhofbuch. Du bist jetzt angemeldet. Gehe auf die Maus. Sie erklärt dir, wie das Buch funktioniert. Dann kann es losgehen."

    Jetzt wollen die Bücher schon, dass man sich bei ihnen "anmeldet" – Sitten sind das! Und braucht man dazu eine Computermaus? Nein, es ist eine Maus, wie sie immer schon in Kinderbüchern hauste, gänzlich untechnisch, bunt gezeichnet. Allerdings spricht sie. Aus dem Buch heraus, vielmehr: Aus dem Instrument, mit dem man das Buch liest, dem möhrendicken, orangenen Lesestift "Tiptoi".

    "Hallo! Ich erkläre dir, was du alles mit diesem Buch machen und erleben kannst! Also, los geht's! Unten rechts auf der Seite findest du verschiedene Zeichen. Das, was du im Buch erlebst und erfährst, verändert sich, je nachdem, welches Zeichen du vorher berührt hast. Das Zeichen mit dem Auge steht für "Entdecken". Die Glühbirne steht für "Wissen". Die Sprechblase steht für "Erzählen". Die Sprechblase steht für "Spielen"."

    Definiert man den Computer auf einer imaginären Zeitachse als steinzeitlichen Nullpunkt, dann entspricht das System von Ravensburger unter dem Namen "Tiptoi" in etwa der Erfindung der Dampfmaschine, während wir längst im Solarzeitalter leben. Will heißen: Man kann diese Hybriderfindung aus Buch und Elektronik von zwei Seiten aus gleich heftig kritisieren: Als furchtbar rückständig – wir schreiben das Jahr 2010, das Jahr des ersten echten E-Book-Booms –, oder als entsetzlich technikversessen: Wozu brauchen Bücher batteriefressende Begleitinstrumente? "Tiptoi" passt eigentlich längst nicht mehr in die Zeit und immer noch nicht zum Medium Buch, aber der Stift passt zur Zielgruppe. Was ist "Tiptoi"?

    Das "audiodigitale Lernsystem" besteht aus vorhandenen Verlagsinhalten, die in mit unsichtbaren Steuerungsmustern präparierten Bilderbüchern neu aufbereitet werden. Ihre elektronische Potenz – Geräusche, Lieder, Vorlesetexte –, kann man den Büchern nicht ansehen, denn sie steckt nicht im Buch, sondern im optischen Lesestift, der einen kleinen Lautsprecher enthält. Berührt man – wie auf einem Touchscreen – bestimmte Teile der aufgeklappten Buchseite mit der Stiftspitze, liest der Stift etwas vor, stellt Fragen, erklärt etwas. Das Buch wird dialogisch.

    "Jetzt spielen wir ein Geräuschespiel. Hör genau zu! Wenn du weißt, woher das Geräusch kommt, berühre es im Bild. Achtung, es geht los!"

    Das funktioniert bei der Zielgruppe der Vier- bis Achtjährigen ganz ausgezeichnet, und das kinderleicht zu bedienende System ist abwechslungsreicher, als man zu Beginn befürchtet. Allerdings hat es einen – Technikskeptikern geläufigen – systematischen Nachteil: Es ist nicht autonom. Die Sounddateien stecken nicht im Buch (wie sollten sie von dort aus auch auf den Stift gelangen?), sondern müssen aus dem Internet geladen werden. Zwar gehört keine Prophetie dazu, die "Tiptoi"-Bücher bald im elektronischen Buch aufgehen zu sehen, aber bis dahin vermag das System durchaus unsere heutige Vorgabe genussvollen Lernens zu erfüllen. Vor allem der Fremdsprachenerwerb im Grundschulalter dürfte damit richtig Spaß machen. So lange sich die Macher ihrer wackligen musikalischen Darbietungen enthalten, schon um die Elternohren zu schützen ...

    Bleibt zum Schluss die Frage aller Fragen: Hat sich der Rezensent getraut, in Quentin Blakes famosem Zeichenlehrbuch wirklich herumzumalen? Um ehrlich zu sein ... nein! Aber er ist auch ein ganz besonderer Fall von Talentlosigkeit.

    In der Sendung empfohlene Bücher:

    Quentin Blake, John Cassidy: "Zeichnen für verkannte Künstler"
    Aus dem Englischen von Ruth Keen
    Lettering: Axel Scheffler
    Kunstmann Verlag, 104 Seiten, 14,90 Euro

    Hennig Boëtius, Christa Hein: "Die ganze Welt in einem Satz"
    Mit Illustrationen von Karoline Kehr
    Beltz&Gelberg, 210 Seiten, 16,95 Euro

    Sigrun Nygaard Moriggi: "Hand in Hand die Welt begreifen"
    Gebärdenauswahl: Andreas Kostrau
    Illustrationen: Susann Hesselbarth
    Gebärdenzeichnungen: Ulrike Jentzsch
    Klett Kinderbuch, 176 Seiten, 19,90 Euro

    www.gebaerdenservice.de

    Tiptoi-System
    Ravensburger Verlag
    Starterset mit Buch "Entdecke den Bauernhof" ca. 50,- Euro
    Jedes weitere Buch 19,95 Euro