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Lernen mit Flüchtlingen

Professorin Nivedita Prassad unterrichtet soziale Arbeit in einem Hellersdorfer Plattenbau: einem Flüchtlingsheim für 200 Menschen aus 19 Ländern. Genau jenes Flüchtlingsheim war durch Proteste von Rechtradikalen in die Schlagzeilen geraten. Die Hochschule will mit ihrer Aktion ein Zeichen setzen.

Von Anja Nehls | 14.11.2013
    Zwei Dutzend Studenten sitzen auf blauen Stühlen in einem freundlichen und etwas behelfsmäßig hergerichteten Raum. Die Wände sind noch kahl, Computer gibt es nicht. Unterrichtsbeginn in einem Plattenbau in Berlin-Hellersdorf. Es ist Viertel nach zehn.

    "Wir haben heute viel vor, erst mal herzlich willkommen. Es sind einige Bewohner des Hauses hier, die gerne mit uns sprechen wollen, das machen wir gleich zu Beginn."

    Die Professorin Nivedita Prassad ist eine resolute Dame und stammt aus Indien. Seit drei Wochen unterrichtet sie soziale Arbeit nicht in der nahen Alice-Salomon-Hochschule, sondern in diesem Hellersdorfer Plattenbau. In einem Flüchtlingsheim für 200 Menschen aus 19 Ländern. In genau jenem Flüchtlingsheim, das durch Proteste von Rechtradikalen in die Schlagzeilen geraten war. Die Hochschule will mit ihrer Aktion ein Zeichen setzen. Im Unterricht sind Flüchtlinge herzlich willkommen. Heute haben sich erstmals Bewohner des Heims in die Hochschulveranstaltung gewagt.

    "We never want to live with Pakistan, because we belong right now to Pakistan, people call us Pakistani."

    Ein schmächtiger junger Mann erzählt von seiner Heimat. Belutschistan. Eine Provinz in Pakistan. Er kämpfte dort für die Unabhängigkeit, erzählt von Verfolgung und Folter. Die Studenten hören konzentriert zu. Ein junger Mann mit raspelkurzen Haaren kann sich vorstellen, später mal mit Flüchtlingen zu arbeiten:

    "Ich finde es sehr gut, dass wir hier reinkommen und dass man überhaupt erst mal so ein Asylheim wahrnimmt... Es ist eine interessante Abwechslung und dadurch bekommt man eigentlich auch etwas von dem Leben im Asylheim und von den Bewohnern mit. Wenn sie sich denn trauen sich hier reinzusetzen."

    Die meisten trauen sich nicht. Fast niemand spricht deutsch, kaum jemand Englisch, manche sind Akademiker, andere Analphabeten. Die meisten haben zurzeit andere Sorgen als an einer abstrakten Lehrveranstaltung teilzunehmen. Professorin Nivedita Prassad freut sich aber über jeden, mit dem die Studenten ins Gespräch kommen können. Sie ist von der neuen Idee überzeugt.

    "Das Thema hat ja Grenzen und Möglichkeiten der sozialen Arbeit im Rahmen restriktiver Asylpolitik. Das hat ja mit der sozialen Arbeit sehr viel zu tun, dass wir dorthin gehen, wo die Leute sind."

    Nämlich in Berlin-Hellersdorf. Das Heim dort für die Flüchtlinge wurde bisher vor allem durch die Proteste von Rechtsradikalen, durch Nazi-Demos, Gegenkundgebungen und Polizeieinsätze bekannt. Nun finden hier Vorlesungen der nur wenige hundert Meter entfernten Alice-Salomon-Hochschule für soziale Arbeit statt. Eine Idee der Rektorin Theda Borde. Sie will die Flüchtlinge aus der Isolation herausholen und mit toleranten Menschen in Kontakt bringen. Rechte Pöbler sind ihr zuwider:

    "Das Wichtigste erschien mir, dass wir als Hochschule natürlich auch eine gewisse Verantwortung haben, insbesondere weil wir ja auch Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen ausbilden. Wir benutzen den Raum hier, um diese Trutzburg Flüchtlingsheim aufzulösen und das zu einem ganz normalen Ort zu machen, wo auch andere Dinge stattfinden, wo sie auch anderen Menschen begegnen als den Uniformierten und der Heimleitung."

    So ganz normal ist der Ort für eine Lehrveranstaltung dann doch nicht. Ohne Ausweiskontrolle kommt niemand ins Gebäude. Der Wachschutz passt auf. Viele der Studenten haben auch Migrationshintergrund, von den Flüchtlingen kann man sie kaum unterscheiden. Deshalb fühlen sich auch die Studenten unsicher. Jede Woche treffen sie sich auf dem U-Bahnhof und laufen bis zum Heim gemeinsam in geschlossenen Gruppen:

    "Weil hier sind auch viele Menschen von Rassismus betroffen sind, und es ist eben eine schwierige Gegend dafür. Einfach, dass man da ein bisschen geschützter rumläuft, lieber in Gruppen."

    Von den Studenten und der Hochschule sollen auch die Flüchtlinge profitieren, so die Idee. Bereits jetzt nutzen einige von ihnen Internet und Skype in der nahen Hochschule, um mit der Heimat in Kontakt zu kommen. Die Lehrveranstaltungen im Heim sind – theoretisch - für alle offen. Ab und an kommt die Sozialarbeiterin des Heims in die Vorlesung. Die Wissenschaft interessiert sie wenig, sie hat eine bessere Idee:

    "Hilfreich wäre, wenn Studenten unter Euch sind, die eventuell Zeit haben und die Sprachen sprechen, die unsere Bewohner hier sind, zum Beispiel Persisch, Kurdisch, Vietnamesisch, Arabisch, Russisch, Begleitung bei Ärzten, bei Ämtern, Arbeitsamt, Anmeldung Aufenthaltsrecht, Sozialamt, ja solche Fragen."

    Praktische Sozialarbeit statt theoretischer Betrachtungen. Niemand duckt sich weg, eine Studentin aus dem ersten Semester meldet sich sofort. Die meisten wollen helfen:

    "Selbstverständlich. Es ist eine gute Möglichkeit, die Leute kennenzulernen. Es ist bei mir eben so, dass ich selbst auch Verwandtschaft habe in Syrien, in Damaskus, und deswegen auch persönlich betroffen bin. Was soziales Engagement angeht, die Studierenden probieren schon, sich zu beteiligen und so."

    Die Studierenden der Alice-Salomon-Hochschule stammen aus vielen Ländern - alle Sprachen sind vorhanden. So kann eine Studentin sofort übersetzen, als ein Flüchtling – zögernd - aus Syrien erzählt:

    "… er sagt, er musste alleine flüchten und seine Frau und seine Kinder sind noch dort, und er versucht, sie jetzt hierherzuholen... Er sagt, das dauert alles sehr lange."

    Genauso lange wird es dauern, bis das Heim in Hellersdorf wirklich ein ganz normaler friedlicher Ort geworden ist. Zwar sind immer noch viele nicht damit einverstanden, dass die Flüchtlinge nun in Hellersdorf leben, doch die Zahl derjenigen, die ihnen einen guten Start in Deutschland ermöglichen wollen, wächst von Tag zu Tag. Und die Studenten der Alice-Salomon-Hochschule sind dafür der beste Beweis.