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Lesen als hilfreiche Strafe

Seit Sommer 2012 erproben die Jugendgerichte München und Fürstenfeldbruck im Rahmen eines Modellversuches Leseweisungen als pädagogische Strafmaßnahme. Studierende des Faches Soziale Arbeit begleiten die Jugendlichen bei der gerichtlich angeordneten Lektüre.

Von Birgit Fenzel | 29.08.2013
    Sommerferien in München - während ihre Freunde an der Isar oder am See faulenzen, machen sich ein paar Jugendliche auf den Weg in die Hochschule München. Sie tun das allerdings nicht freiwillig, sondern weil sie vom Amtsgericht Fürstenfeldbruck dazu verurteilt wurden. Wegen Drogenmissbrauchs, Ladendiebstahl, Fahren ohne Führerschein oder ähnlicher Vergehen, die ihnen ansonsten mindestens Sozial- oder Arbeitsstunden eingebracht hätten, haben sie eine Leseweisung erhalten. Durch diese Strafaufgabe habe er das erste Mal seit Langem wieder in ein Buch geschaut, sagt einer von ihnen, ein 19-Jähriger aus dem Landkreis, der seinen Namen lieber nicht im Radio hören möchte.

    "Ich hab früher, bis ich 14, 15 war, viel gelesen, und dann wie ich angefangen hab, viel draußen zu hängen mit meinen Freunden und dann sich viel nur noch um die Drogen handelte, hab ich kein Buch mehr angefasst. Das war dann durch die Leseauflage das erste Mal."

    Einfach mal wieder ein Buch lesen und damit fertig - so einfach ist die Leseweisung jedoch nicht abgehakt. Das Programm, das Sozialpädagogikprofessorin Caroline Steindorff-Classen zusammen mit ihren Studierenden an der Hochschule München entwickelt hat, sieht eine intensive der richterlich verordneten Lektüre vor. Jeder Jugendliche bekommt einen Studierenden als Mentor zugeteilt, mit dem er sich bis zu sechs Mal in der Hochschule trifft. Dabei wird auch das Buch gemeinsam ausgesucht. Zwar kommt die erste Empfehlung für die Straflektüre in der Regel vom Gericht oder der Jugendgerichtshilfe und steht zumeist in direktem Bezug zur Tat. Doch manchmal stellt sich schon beim ersten Treffen mit dem Mentor heraus, dass ein anderes Buch besser geeignet wäre.

    So war es auch bei dem 19-Jährigen aus dem Landkreis. Eigentlich war er wegen Fahren ohne Führerschein verurteilt worden. Als Buch hat er sich dann allerdings mit seiner Mentorin für "Die Treppe in die Dunkelheit" entschieden - die autobiografische Geschichte einer Suchtkarriere von Steffen Flügler. Das hat er dann gleich zweimal gelesen, weil es so gut passte.

    "Das hatte ich dann noch daheim, weil ich es nicht abgeben konnte und dachte: Ich lese es noch einmal. Hab es halt Stück für Stück gelesen, auch was man beim ersten Mal nicht verstanden hat, hab ich dann noch mal die Kapitel nachgelesen und hab so ein bisschen davon eine eigene Geschichte ableiten können."

    Solche Reflexionsprozesse seien bei Sozialstunden oder Arbeitsdienst kaum zu erwarten, sagt die Sozialpädagogin Caroline Steindorff-Classen. Durch Straßenfegen oder Regale einräumen ist noch niemand ein anderer Mensch geworden. Durch Nachdenken schon.

    "Und genau dass wollen wir mit unserer Maßnahme erreichen: über das Medium Buch, das ja auch eine ganze Menge Wirkungen auslösen kann, dass die Jugendlichen zum Nachdenken gebracht werden. Über die Inhalte des Buches, aber davon ausgehend auch über sich, ihre Situation. Dass sie Anregungen bekommen, Horizont erweitern, vielleicht auch neue Ideen und Perspektiven entwickeln für sich und ihr eigenes Leben."

    Dass die Jugendlichen aus Begeisterung ein Buch gleich zweimal lesen, kommt allerdings nicht so oft vor. Aber ins Grübeln über die eigene Situation kommen die meisten von ihnen - spätestens bei den Sitzungen mit ihren Mentoren, die ihnen durch aufmerksames Nachfragen gedanklich auf die Sprünge helfen. Einer von ihnen ist Marco Gäbler, der Soziale Arbeit studiert und später vielleicht als Sozialarbeiter, Bewährungshelfer oder bei der Jugendgerichtshilfe mit ähnlichen Fällen zu tun haben wird.

    "Motivation ist immer ein riesengroßes Problem. Da versuchen wir auch immer andere Wege zu finden und diskutieren auch oft in der Gruppe, wie man die Jugendlichen motivieren kann. Wir versuchen sie zu unterstützen, ihnen nicht die Arbeit abzunehmen, zu unterstützen, Anregungen zu geben, auch auf Dinge aufmerksam zu machen, auf die sie selbst nicht gekommen wären. Bis jetzt funktioniert es sehr gut. Es ist noch keiner rausgegangen, der gesagt hat, das ist der letzte Dreck, das macht keinen Spaß, es macht keinen Sinn und man lernt auch nix - das kam noch nie, solche Aussagen."

    Tatsächlich kommt die Leseweisung bei den Jugendlichen besser an als Sozial- oder Arbeitsdienst. Das haben auch Nachbefragungen der Hochschule ergeben. Auch Jugendgerichtshelfer Werner Mesenzehl-Reichwald, der das Projekt am Amtsgericht Fürstenfeldbruck eingeführt hat, hält das Modellprojekt für einen vollen Erfolg.

    "Das wir auch sehen, dass von den 70 Leseweisungen, die bei uns durchgeführt wurden, 60 erfolgreich durchgeführt werden konnten. Die restlichen zehn sind noch in der Laufzeit, das heißt, der Erfolg liegt bei annähernd 100 Prozent"

    Das Amtsgericht Fürstenfeldbruck hat die Maßnahme deshalb gerade verlängert.