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Lesen als Zeitverschwendung

Hakan Nesser gehört mit seinem Kommissar Van Veeteren, der in einem fiktiven Land mit der Hauptstadt Maardam das Böse jagt, zu den bekanntesten schwedischen Krimi-Autoren. Jetzt hat Nesser einen Band mit Erzählungen vorgelegt. "Aus Doktor Klimkes Perspektive" vereint sechs kriminalistische Novellen.

Von Antje Strubel | 24.07.2007
    Der Tatort, nachdem die Spurensicherung schon da war.
    Der Tatort, nachdem die Spurensicherung schon da war. (Stock.XCHNG / Nate Nolting)
    Die Konjunktur von Krimis in einer Gesellschaft, heißt es, weise auf steigende soziale Spannungen hin. Im ausgeglichenen, friedlichen Schweden, in dieser Utopie einer gerechten Gesellschaft, schießen seit Mitte der 90er Jahre Krimiautoren und ihre fiktiven Ermittler aus dem erzhaltigen Boden, und man hofft, diesmal möge die These von den Spannungen nicht zutreffen. Hakan Nesser gehört mit seinem Kommissar Van Veeteren, der in einem fiktiven Land mit der Hauptstadt Maardam das Böse jagt, zu den bekanntesten Autoren. Jetzt hat er einen Band mit Erzählungen vorgelegt. "Aus Doktor Klimkes Perspektive" vereint sechs unterschiedlich lange Texte, bei denen es sich laut Nachwort um kriminalistische Novellen handelt, um Geschichten also, die von unerhörten Begebenheiten berichten.

    Ein Schriftsteller, der nach Venedig fährt, weil er eine Novelle schreiben muss, eine Kriminalnovelle natürlich, wird selbst in einen Kriminalfall verwickelt. Ein Lehrer, der den letzten Aufsatz seiner Schülerin noch benotet, nachdem diese bereits bei einem Verkehrsunfall umgekommen ist, wird aus der Bahn geworfen. Ein Mann, der nach Jahren den Grund des plötzlichen Verschwindens seiner Jugendliebe erfährt, findet eine neue Liebe. Ein Sohn erfährt am Sterbebett seiner Mutter, dass sein Vater der vom Ehemann der Mutter aus Eifersucht getötete Schwager der Mutter ist und gibt dem Mörder daraufhin preis, dass die Eifersucht gerechtfertigt war.

    Ein Professor, der glaubt, seine Frau ginge fremd, findet sich selbst doppelt. In der Geschichte über den verrückten Professor wabert Paul Auster zwischen den Zeilen, in den anderen Geschichten wabert es von Mordgelüsten und niederem Gefühl, da wabern Venedigs Nebel und Schwedens Regenschleier, und häufig wird der Modewein Barolo getrunken. Es gibt pfiffige Wendungen und überraschende Handlungshaken und natürlich immer wieder Tote. Dennoch fragt man sich, wo denn nun das Unerhörte steckt. Die einen wollen offenbar einen Einblick in komplexe psychologische Vorgänge geben, was nur mäßig überzeugt, die anderen beschäftigen sich mit der Aufklärung oder der Entstehung eines Kriminalfalls, was Hakan Nesser überzeugender gelingt.

    Im Nachwort ist zu erfahren, die Erzählungen seien durchdrungen von der Vorstellung alternativer Lebensläufe. Das könnte eine interessante Voraussetzung fürs Schreiben sein: die Vorstellung von einer weiteren oder sogar von mehrfachen Existenzen, die möglicherweise parallel oder leicht verschoben neben der eigentlichen, der bewusst gelebten Existenz einherlaufen. Da jede getroffene Entscheidung im Leben mehrere andere ausschließt, ist es möglich, sich vorzustellen, jede dieser ausgeschlossenen Entscheidungen in parallelen Leben doch zu treffen. Wie sähen diese Parallelleben dann aus? Würden sie das eine, bewusste Leben beeinflussen, das dadurch am Ende vielleicht doch eine neue Richtung hinzugewinnt? Das sind alles schöne Fragen. Man bekommt in diesem Buch nur keine Antwort darauf, weder ästhetisch, noch inhaltlich.

    In den Texten wird von Störfällen erzählt, kleine oder größere Ereignisse, entfernte Tote oder nahe Morde bringen das Leben der Menschen durcheinander. Hier wird von den Vorstufen berichtet, die Menschen dazu bringen können, sich aus dem gewohnten Leben auszuklinken. Mit beiden Beinen sicher auf dem Boden bleibt Nesser dabei allerdings immer in dem einen Leben. Trotz der bemühten Verflechtung fiktiver Geschichten in der Geschichte - immer wieder tauchen Manuskripte auf, wird an Texten geschrieben, finden sich Schriftsteller im misslichen Lagen - sind die Geschichten äußerst geradling, in fernsehtauglicher Einfachheit erzählt.

    Als spannender Kriminalfall liest sich immerhin die in Schweden spielende Erzählung "Die Wildorchidee aus Samaria". Der Erzähler Henry Martens bekommt eines Tages Nachricht von einer Frau, die seit 30 Jahren alle für tot hielten. Bei dieser Frau handelt es sich um Vera Kall, die Schönste des ehemaligen Abiturjahrgangs, die Wildorchidee, die alle Jungen anhimmelten, und mit der der Erzähler schließlich die Nacht nach der Abiturfeier verbrachte - oder wenigstens die halbe Nacht. Vera Kall kommt aus einem streng religiösen Elternhaus, der Vater ist Pfarrer in der Gemeinde der Aronsbrüder, einer nach alttestamentarischen Regeln lebenden Sekte. Partys, Alkohol und erst recht Sex vor der Ehe sind Vera Kall verboten. In dieser ersten Liebensnacht verlässt sie Henrys Bett früh um vier. Danach ist sie spurlos verschwunden, die Suche bleibt vergeblich, schließlich werden die Ermittlungen eingestellt. Dreißig Jahre später wird Henry von einem Freund in ein Sommerhäuschen zum Angeln eingeladen, das in der Nähe der Stadt liegt, in der die beiden Freunde damals Abitur machten.

    Mit einer überraschenden Nachricht von der tot geglaubten Vera Kall wird der Fall erneut aufgerollt. Henry Martens, der bisher niemandem von der gemeinsamen Nacht mit der Wildorchidee erzählt hatte, gerät selbst in Verdacht, Vera Kall ermordet zu haben. Die Lebensalternative, auf die der Autor hier wohl abzielt, bündelt sich in der Frage: Wie hätte ein Leben mit Vera Kall ausgesehen? Wäre der Erzähler ein anderer geworden? Da vom Leben des Erzählers nur zu erfahren ist, dass er seine Frau gerade verlassen hat und jetzt mit seinem Kumpel auf dem Steg Biere zischt und Angeln geht, ist das allerdings die am wenigsten bewegende Frage dieses Textes. Da bleibt man besser kriminalistisch auf der Suche nach dem Mörder. Ursprünglich war "Die Wildorchidee aus Samaria" für die Leser der schwedischen Zeitschrift "ICA-kurier" als Fortsetzungsroman geschrieben. Aus ihr entwickelte Hakan Nessers seinen späteren Jugendroman "Kim Novak badete nie im See von Genezareth", der mittlerweile zur Schullektüre in Schweden gehört.

    Speziell für die deutsche Ausgabe schrieb Nesser "Das unerträgliche Weiß zu Weihnachten", die unglaubwürdigste, die albernste Geschichte des Bandes. Ein zehnjähriges Mädchen vergiftet die Mutter, weil es sich einen Hund zu Weihnachten wünscht und die Mutter dagegen ist. Leider trinkt der Vater den Wein mit der giftigen Substanz, was diese Vater-Mutter-Kind-Geschichte, die unentschieden zwischen Farce, Comicstrip und realistischem Erzählen hin und herschwankt, auch nicht rettet

    "Ich mag den Tod. Er garantiert eine Geschichte", wird Hakan Nesser auf dem Bucheinband zitiert. Man wünscht sich öfter eine, die beim Lesen nicht das Gefühl auslöst, gerade die Zeit bis zum eigenen Tod zu verschwenden.


    Hakan Nesser: Aus Doktor Klimkes Perspektive
    btb 2007
    288 Seiten, 19,95 Euro