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Lesen im digitalen Zeitalter
Techniken des Buchzeitalters „sehr wohl wert, bewahrt zu werden“

Auf dem Tolino, Kindle und Co könne man genauso konzentriert und selbstvergessen lesen wie auf dem Papier, sagte Gerhard Lauer, Mitunterzeichner der „Stavanger Erklärung“, im Dlf. Das verlange allerdings Übung und eine kulturelle Anstrengung aller Teile unserer Gesellschaft.

Gerhard Lauer im Gespräch mit Miriam Zeh | 11.02.2019
    E-Book und Buch
    Wie gut wir Gelesenes behalten, hat weniger damit zu tun, ob wir auf Papier oder auf dem E-Reader lesen. Es ist vor allem eine Frage der Übung, sagt Gerhard Lauer im Dlf. (picture alliance / dpa / Simon Chavez)
    Miriam Zeh: Über 130 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben vier Jahre lang interdisziplinär erforscht, wie sich die Digitalisierung auf unsere Lesepraxis auswirkt. Ihr Fokus lag auf den Unterschieden zwischen dem Lesen auf Papier und dem Lesen auf verschiedenen Bildschirmen – vom Smartphone über E-Reader bis zu den Standbildschirmen von Computern. Vor wenigen Wochen veröffentlichten die Leseforscher ihre Ergebnisse in der "Stavanger Erklärung". Sie wird seitdem rege diskutiert. Herr Lauer, Sie haben die "Stavanger Erklärung" mitausgearbeitet und mitunterzeichnet. Wie lauten die zentralen Befunde dieser programmatischen Schrift?
    Gerhard Lauer: Die zentralen Befunde sind, dass wir so intensiv lesen sollten, indem wir lernen, einerseits mit digitalen Medien umzugehen, auf der anderen Seite aber nicht vergessen, dass die Techniken, die wir im Buchzeitalter gelernt haben, sehr wohl wert sind, bewahrt zu werden und zumindest wenn sie verändert werden sollen, sehr bedacht verändert werden sollen. Das digitale und das analoge Lesen sind nicht direkte Gegensätze, aber wir haben schon die Furcht, dass manches verloren geht bzw. sehen große Schwierigkeiten: Wie man kann eigentlich den Übergang zum digitalen Lesen verbessern?
    Kulturtechnik des tiefen Lesens im digitalen Zeitalter
    Zeh: Sie sprechen von den Errungenschaften des Buchzeitalters. Welche wären das für sie?
    Lauer: Wir haben ja über Jahrhunderte gelernt – oder genauer gesagt, die meisten von uns eigentlich erst in einer Lesekultur der letzten hundert, zweihundert Jahre – einerseits sehr intensiv zu lesen, das heißt entweder komplexe Informationen aus umfangreichen Texten herauszuziehen, zum anderen aber auch ganz selbstvergessen zu lesen. Dieses sogenannte immersive Lesen ist etwas sehr neues, das erst in den Zeiten von Rousseaus und Goethe aufgekommen ist. Und diese Leseweisen spielen eine große Rolle, weil sie uns prägen als Menschen, unsere Lesebiographien und damit unsere Lebensgeschichten sehr stark begleiten und ausmachen. Und um das eben weiterzuführen im digitalen Zeitalter, ist es wichtig, dass wir dieses sogenannte tiefe Lesen auch weiterführen können.
    Zeh: Und das funktioniert, auch ein Ergebnis ihrer Studie, auf dem Papier erfolgreicher ist als auf dem Bildschirm?
    Lauer: Ja, wobei die Unterschiede nicht ganz so groß sind, denn es hat sehr, sehr viel damit zu tun, wie geübt Sie sind. Also es gibt sehr viele Menschen, gerade übrigens auch ältere Menschen, die gerne auf dem Tolino oder auf dem Kindle lesen. Und wenn sie sehr geübt sind mit digitalen Büchern umzugehen, sind die Unterschiede zwischen dem Buchlesen und dem digitalen Lesen nicht sehr groß. Wenn sie allerdings an einem sehr großen Bildschirm sitzen und das nicht geübt haben oder nur geübt haben, im Internet schnell so oberflächlich Informationen abzuschöpfen, dann haben sie ein Problem komplexe Sachverhalte aus Texten herausziehen zu können.
    Methoden empirischer Leseforschung
    Zeh: Mit Methoden kommen Sie denn zu diesen Ergebnissen?
    Lauer: Da gibt's eigentlich ein ganzes Set von Methoden. Das sind einmal Methoden, in denen man die Behaltensleistung von Menschen misst, also: Wie viele Details einer Geschichte oder eines Sachverhaltes konnte sich jemand merken? Und da gibt es kleine Unterschiede, die aber sehr viel mit Übung zu tun haben. Ein weiteres Verfahren sind Blickbewegungsstudien. Mit Blickbewegungsstudien können wir relativ gut sehen, wie konzentriert jemand liest. Wir lesen nicht Wort für Wort, sondern in Wirklichkeit wandern unsere Augen beim Lesen immer wieder auch zurück. Wir korrigieren uns schon beim syntaktischen Verständnis, welches Wort wir erwarten, welchen Kasus wir erwarten, aber auch natürlich wie die Geschichte weitergeht.
    Und das dritte Verfahren sind dann eher qualitative Verfahren. Hier fragen wir danach, wie positiv jemand eine Lektüre empfunden hat, wie intensiv es vielleicht auch die eigenen Überzeugungen bewegt hat, auch den Wissensstand verändert hat. Das empfinden Leserinnen und Leser normalerweise sehr gut und wenn man sie ungefähr 20 Minuten nach ihrer Lektüre noch fragt, kann man sehr viele auch qualitative Effekte direkt beobachten und Menschen sind sich dessen auch sehr gut bewusst.
    Also mit einer solchen Kombination von Methoden kann man relativ gut im Vergleich dann sehen, wenn sie ein Buch lesen oder an einem Bildschirm lesen, wie die Unterschiede sind.
    Digitale Leseplattformen als neue Orte des tiefen Lesens
    Zeh: Zwar kann man natürlich auch eine Zeitung als E-Paper am Bildschirm lesen, aber einen immer wichtigeren Stellenwert nehmen mittlerweile genuin digitale, sogenannte soziale Leseplattformen ein. Im angloamerikanischen Kontext ist das vor allem Wattpad. Welche Lesepraktiken beobachten Sie auf solchen Plattformen? Wie wird da gelesen?
    Lauer: Da wird sehr intensiv gelesen. Es wird sehr intensiv auch diskutiert, es wird rezensiert, es wird besprochen, was eine gute Geschichte ausmacht und was eine nicht so gute Geschichte ist. Man korrigiert sich bzw. eigentlich sind es vor allem junge Leserinnen, Autorinnen, die sind etwa zwischen 12 und 25 Jahre alt. Auf Wattpad sind weltweit etwa 70 Millionen Menschen zusammen, meist junge Menschen, und die beschäftigen sich mit allen Formen von Literatur. Das können Krimigenres sein, das kann die Romanze sein oder der Fantasyroman.
    Da werden jeden Tag etwa 100.000 Geschichten geschrieben – das ist also eine sehr, sehr große Welt! Und die Lesebiographien von jungen Menschen werden immer stärker von solchen Leseformaten geprägt, die im Feuilleton fast keine Aufmerksamkeit finden. Das ist, glaube ich, vielleicht der größere Wechsel als die Frage, ob wir auf einem Bildschirm lesen oder dem Papier lesen, dass wir so selbstverständlich in digitalen Umwelten lesen.
    "Middlebrow literature" spielt für Leser eine große Rolle
    Zeh: Sie haben schon angedeutet, diese Art von Literatur wird kaum abgebildet. Man könnte ja aber das historische Argument machen, dass es eigentlich seit es das Feuilleton gibt, eine Art von Trivialliteratur daneben gibt, die von der Kritik kaum wahrgenommen wird. Sind vielleicht diese Geschichten aus diesen Plattformen einfach mit den Wertmaßstäben des Feuilletons gar nicht satisfaktionsfähig?
    Lauer: Das trifft sicherlich auf den größten Teil zu, denn es sind überwiegend junge Autorinnen, die erst einmal Genre ausprobieren, rekombinieren, weiterschreiben. Aber aus diesem Meer von Literatur entstehen schon Texte, die dann etwas bilden, was man im Englischen so schön mit "middlebrow literature" bezeichnet, wofür es im Deutschen eigentlich keinen richtigen Ausdruck gibt. Wir haben ja eine sehr breite Form der Literatur, die nicht Trivialliteratur ist, und die auch nicht so recht – zumindest in den deutschen Zeitungen und Feuilletons Berücksichtigung findet - die aber eine große Rolle für das Lesen von Menschen spielt.
    Das kann Kinder- und Jugendbuchliteratur, All-Age-Literatur wie z.B. Harry Potter sein. Das können aber natürlich auch trivialere Formen sein wie "Fifty Shades of Grey". Und die Verlage haben inzwischen natürlich Scouts, zumindest die großen Häuser haben Scouts, die in diesen sozialen Lese- und Schreibwelten unterwegs sind und gucken, welche Titel interessant sind, welche Autoren vielleicht erfolgreich sein könnten. Und diese Autoren werden dann auch gedruckt.
    Natürlich ist das so ein mittleres Segment. Dann gibt es aber auch im digitalen Bereich hochkulturelle Formen der Literatur, also sehr avancierte Lyrikexperimentalliteratur, sodass die Übergänge zwischen dem Trivialen, dem Mittleren und den sehr gehobenen Formen der Literatur nicht so klar anzugeben sind und die Welt nicht so schön sortiert ist, wie sie vielleicht im klassischen Feuilleton sortiert zu sein scheint.
    "Stavanger Erklärung" hat sentimentalischen Duktus
    Zeh: Wenn man nun aber vielleicht auch neben diese ihre Forschung zu den digitalen Leseplattformen die "Stavanger Erklärung" legt. Im Zusammenhang mit der haben sie öfter auch von Techniken aus dem Buchzeitalter gesprochen, die verloren gehen. Hat dann diese Erklärung nicht vielleicht doch einen etwas technikskeptischen Touch bekommen?
    Lauer: Ja, das ist sie. Wenn 130 Menschen sich auf eine Erklärung einigen müssen, gehen alle Kompromisse ein. Die "Stavanger Erklärung" hat sicherlich einen gewissen skeptischen, wenn nicht auch sentimentalischen Duktus. Was wir ja erreichen wollen, ist eigentlich, dass diese wunderbare Lesekultur nicht verloren geht. Und jetzt kommt es darauf an, dass wir in Familien, unter Freunden und aber auch in der Schule lernen, dass Literatur diesen Wert hat, uns über uns selbst klar zu werden. Und das können wir natürlich in Schulen z.B. machen, indem wir nicht diese Medien nur verteufeln oder sagen, das ist nur was mit Freizeit, sondern uns überlegen, wie gehört sie eigentlich zu dem Deutschunterricht dazu?
    Also wie lernen wir, dass das Handy nicht nur ein Gerät ist, um uns abzulenken und uns nur in sozialen Vergleichen ständig mit anderen zu messen, sondern dass es ein Medium wird, in dem ich mehr über mir über mich selbst klar werde? Das ist ein sehr langwieriger Prozess. Der kann auch nicht nur an einer Stelle korrigiert werden. Das kann man nicht von Politik, von einer Stelle her definieren, sondern das fängt schon an, indem uns als Kindern vorgelesen wurde. Das ist vielleicht schon der wichtigste Schritt in die Lesesozialisation.
    Deshalb fängt's beim Vorlesen an, geht aber auch dann dorthin, dass Kinder lernen: Ich habe Freunde, die z.B. den gerade großen Erfolg "Ein Lied von Eis und Feuer –Game of Thrones" lesen. Das kann auch eine Form sein, in der vor allem junge Leser über sich ins Nachdenken kommen. Was wollen sie eigentlich von dieser Welt? Was ist gut? Was ist schlecht? Und diese Form zu kultivieren, das braucht tatsächlich eine kulturelle Anstrengung fast aller Teile der Gesellschaft. Das ist keine Selbstverständlichkeit.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassung wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.