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Lesen statt Klettern

Die Stärke des schweizerischen Schriftstellers Hugo Loetscher war schon immer sein vielstimmig sich zur Geltung bringender Erfahrungsschatz. Der philosophisch, soziologisch, politisch und ökonomisch Gebildete, der in Europa, Asien und vor allem Südamerika viel Gereiste, der als Redakteur, Kritiker und Publizist für Radio und Fernsehen Erfahrene – dieser seit 1969 freiberuflich lebende Schriftsteller hat als Erzähler in seinen wichtigsten Büchern (Der Immune , Die Papiere des Immunen, Herbst in der großen Orange , Die Augen des Mandarin) fast nie ungebrochen fabuliert, sondern sein Erzählen oft essayistisch durchsetzt, berichtend, philosophierend, analysierend. Darin ist er seinem großen älteren Freund Friedrich Dürrenmatt ähnlich, der diese multiperspektivische Erzählweise in seinem Spätwerk zur Meisterschaft brachte.

14.01.2004
    Andererseits gewinnen Loetschers große essayistischen Arbeiten - die Poetikvorlesungen Vom Erzählen erzählen und seine vielen literaturkritischen Arbeiten – dadurch, dass sie sich nicht in Abstraktionen verlieren, sondern selbst abstrakte Themen und Stoffe in Erzählung verwandeln, erzählend vermitteln. Was er für dieses Schreiben von dem Schweizer Kritiker Max Rychner früh lernte, ist in seinem jüngsten Buch zu lesen, das, versehen mit dem schönen Titel Lesen statt klettern , neue und alte Aufsätze zur literarischen Schweiz aus 30 Jahren vereint und ein anschauliches Bild vom gipfel- und kluftenreichen Zentralmassiv der vor allem deutschschweizerischen Literatur vermittelt. Und die, so Loetscher, beginne nicht mit dem hinreichend bekannten "Alpen"-Sänger Albrecht von Haller im frühen 18. Jahrhundert, sondern bereits im 16. Jahrhundert mit den Lebenserinnerungen des "Walliser Geißbub" Thomas Platter.

    Damit baut Loetscher seine kleine Schweizer Literaturgeschichte, die diese Aufsatzsammlung durchaus hergibt (freilich als klassisches Schweizer Produkt mit einigen Löchern durchsetzt), gegen von Hallers Symbolismus auf einem festen materialistischen Grund. Denn Platter, 1499 geboren und 83jährig gestorben, schrieb seine Lebenserinnerungen auf, "um seinem Sohn Felix darzulegen, welche Mühsal ihm widerfahren war, aber auch, wie er all die Mühsal meisterte – ‚durch gottes gnadt‘". Platter hatte die Berge verlassen und war in die Stadt gegangen, um lesen und schreiben zu lernen, um sich zu bilden. Und er lernte dann in München und Dresden, Naumburg und Breslau und wurde schließlich "Leiter eines Internats, Rektor der Münsterschule in Basel, ein erfolgreicher Drucker und angesehener Wissenschaftler".

    Der erste Autobiograph der deutschschweizer Literatur hinterließ mit der Darstellung seines Bildungswegs ein einmaliges "Zeugnis der Neuzeit, in der das Individuum beginnt, von sich Kenntnis zu nehmen". Platter, der davon träumte, "fliegen zu können, um über die Berge hinweg in die Welt hinauszugelangen", um also "urban" und "kultiviert" zu werden, begründete damit für Loetscher jenen Topos vom "lesen statt klettern", der handfester ist als Hallers "Alpen"-Dichtung, die die bäuerliche Bergwelt idyllisiert und in deren Gefolge aus den Alpen ein Bekenntnis wird: ein symbolisch grundiertes und später ideologisiertes schweizerisches Selbstverständnis.

    Mit Haller, der auch lange in Deutschland, als Professor der Medizin und der Botanik in Göttingen, gelebt hat, setzt sich Loetscher in einem großen imaginierten Dialog auseinander, der aus der Gegenwart heraus argumentiert und immer wieder Bezüge herstellt zwischen Haller und sich und einer Handvoll jener Autoren, über die noch mehr in diesem Band zu lesen ist.

    Vor allem die Arbeiten über die älteren Schweizer Autoren machen diesen Band gewichtig: So erzählt der Aufsatz über den Idylliker Salomon Geßner die Geschichte von der Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit des schweizerischen Selbstbildes – in Geßners Jahrhundert, dem achtzehnten, und in seinen berühmten Idyllen entstand, was "bis in unsere Jahrzehnte Aktualität behält". Man identifizierte, so Loetscher, das Land mit den "glatten" und "abstaubbaren" Idyllen Geßners; in ihnen spiegelt sich der "Konflikt, der unser Selbstverständnis bestimmt": die "Diskrepanz zwischen dem Bild, das wir von uns pflegen, und der Wirklichkeit, in der wir leben".

    Auch das Porträt des 1728 in Brugg geborenen Arztes und Schülers von Hallers, Johann Georg Zimmermann, erzählt von unverwüstlichen Klischees. Seine Schrift "Vom Nationalstolz" wurde um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein Bestseller, obwohl sie von den "Vorurteilen gegenüber andern Menschen und andern Völkern" handelte und schon damals solche hellen Sätze enthielt: "Die Liebe des Vaterlandes ist freilich in vielen Fällen nicht mehr als die Liebe des Esels für seinen Stall." Gedanken wie diese wurden noch in Brugg gedacht, dort auch entstanden die Vorarbeiten zu der Schrift "Über die Einsamkeit"; doch weil Zimmermann dort verachtet und verfolgt wurde, verschlug es auch ihn nach Deutschland; er ging 1768 als "königlicher großbritannischer Leibarzt" nach Hannover. Und aus dem frühen Aufklärer wurde ein Kämpfer für die Überwindung der Aufklärung, aus dem Verteidiger der Gleichheit aller Menschen ein Anhänger der Aristokratie, der in der französischen Revolution ein "gefährliches Fieber" fürchtete.

    Loetscher wertet Zimmermann, der sowohl dem entstehenden Nationalismus als auch mit seinem Buch "Über die Einsamkeit" einem rousseauistischen Biedermeier Vorlagen lieferte, als "eine Figur, an der sich Verhaltensmuster ablesen lassen, die...die intellektuelle Schweiz bestimmen": also Paul Nizon mit seinem "Leiden an der Enge"; Ludwig Hohl mit seinen "Notizen" im Abseits:"Einsam ist man zuweilen auch da, wo man nicht allein ist."

    So dekliniert Loetscher die Schweizer Literatur durch die Zeiten und erzählt dem Leser die typischen Schweizer Problemfälle: von des Pädagogen Jeremias Gotthelf Erkenntnis: "Im Hause muß beginnen, was leuchten soll im Vaterland"; und von dem Sonderling und "nationalen Schriftsteller" Gottfried Keller, in dessen Seldwyla "die Herzen ihre Bilanzen (haben), und die Gefühle Buch führen" und der mit dem "Grünen Heinrich", jedenfalls in seiner zweiten Fassung, dem Schweizer vorführte, wie man ein "brauchbarer Bürger" wird.

    Lakonisch berichtet Loetscher von einer Gemeinsamkeit mit dem kosmopolitischen Exzentriker Frédéric Sauser alias Blaise Cendrars: Beide können "stundenlang zuschauen, wie andere Leute arbeiten". Ausführlicher erklärt er uns den nahezu unbekannt gebliebenen Adrien Turel, diesen "Meister der Querelen" und "Liebhaber der Versöhnung", der, auch das eine Loetscher verwandte Seite, die Lust an der Darstellung immer wieder mit der Versuchung zur Reflexion verdränge.

    Intensiv gelingt Loetscher der Versuch über den Kriminalschriftsteller Friedrich Glauser, dessen Vater ein Mann "von gnadenloser Korrektheit" war und der ein gesellschaftlicher Störenfried wurde, indem er mit seinen Büchern, so Loetschers Formulierung, jene bürgerliche Wohlanständigkeit kriminalisierte, die ihn selbst kriminalisiert hatte. Etwas merkwürdig veraltet hingegen mutet einen heute die freilich sympathische Arbeit über den marxistischen Kunsthistoriker Konrad Farner an, die leider nicht Farners dialektischem Grundsatz "Setzen und Gegensetzen" folgt; sonst hätte Loetscher diesen 1973 entstandenen "ungewöhnlichen Stichwörtern zu einem ungewöhnlichen Menschen" gewiß einige aktuellere und Farners Erkenntnisse überprüfende Nachgedanken folgen lassen.

    Von der kritischen Art vielleicht, wie Loetscher sie den Schriftstellern Ludwig Hohl, Max Frisch und im "Helvetischen Chatroom" auch Adolf Muschg zugedacht hat: Hohl sei zu einem Schriftsteller nur für Schriftsteller ideologisiert worden; Frischs Ironie sei leider ohne Selbstironie ausgekommen und habe deshalb oft etwas Verbissenes gehabt; und Muschg fühle sich wie kaum ein Autor nach Frisch und Dürrenmatt verpflichtet, "ein Gewissen von nationaler Verantwortung" zu sein, dem freilich immer wieder "der eigene Eifer im Weg" stehe.

    Bevor sich Loetscher in diesen Chatroom begibt, um über die jüngsten Erhebungen des Schweizer Literaturgebirges, unter anderem zu Peter Bichsel, Thomas Hürlimann und Paul Nizon zu räsonieren – die Tendenz seiner kritischen Anmerkungen: "Provinz ist nicht eine Gegebenheit, sondern eine Entscheidung" -, vorher also ist noch ein höheres und breiteres Gebirge zu durchqueren, das "Dürrenmatt" heißt und "Labyrinthische Erinnerungen" verheißt.

    Da erzählt Loetscher, wie er von Dürrenmatts Tod erfahren hat, mit dem er gerade noch gesprochen hatte, und versammelt auf knapp hundert Seiten seine Notate, Reden, Gespräche und Aufsätze über einen Freund, dem er in kritischer Zuneigung lange Jahre verbunden war. Und berichtet auf zehn Seiten auch davon, wie Dürrenmatts Witwe, als Schauspielerin einst die Admiralin in der SF-Serie "Raumschiff Orion", privat und öffentlich den Tod des großen Schriftstellers inszenierte.

    Diese Seiten entlarven auf zugleich ernüchternste und konkret bizarrste Weise, wie ein großer Mann noch im Tode um sein Eigentlichstes betrogen wurde: seine Würde, die gerade er sein Leben lang sich um jeden Preis bewahrt hat. Da aber war er nur noch das wehrlose Objekt einer ehrgeizigen Selbstdarstellerin, die der gutmütige Regisseur, der nach dem Tode seiner ersten Frau nicht allein zu sein verstand, für seine letzte Arbeit engagiert hatte. Es war, wie er selbst noch erkannte, leider eine Fehlbesetzung.

    Hugo Loetscher
    Lesen statt klettern. Aufsätze zur literarischen Schweiz
    Diogenes 2003, 436 S., EUR 22,90