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"Let's talk about sex, baby!"

Verhinderten früher gesellschaftliche Tabus eine ungezwungene Entwicklung der Sexualität, so sind es heute die Medien, die falsche Vorstellungen wecken. In zwei neuen Sachbüchern für Jugendliche werden die Fragen, die jungen Menschen unter den Nägeln brennen, unverkrampft und erfreulich offen angepackt. Auch Randthemen wie das Simsen als neue Form der Kommunikation zum Anbändeln und Schluss kommen vor.

Von Sylvia Schwab |
    Aufklärungsbücher sollten mehr tun als nur aufklären. Es reicht schon lange nicht mehr, alle anstehenden medizinischen Fragen zu beantworten, über Verhütungsmittel und Schwangerschaft zu informieren und den Liebesakt selbst zu beschreiben. Jede Neuerscheinung muss sich messen lassen - nicht nur an den Büchern, die schon auf dem Markt sind, sondern auch an den rapide sich verändernden Bedürfnissen unserer Jugendlichen. Wenn Eltern ihren Kindern - oder Tanten ihren Nichten und Neffen - ein Buch zum Thema "Liebe und Sex" dezent auf den Nachttisch legen, dann geht es heute weniger um Fakten und Informationen. Die haben die Jugendlichen längst. Es geht viel mehr darum, ihnen den Umgang mit den verstörenden körperlichen und seelischen Veränderungen zu erleichtern, die die Pubertät ihnen zumutet.

    "Da passiert ja plötzlich so viel. Also ein Jugendlicher wächst zwölf Zentimeter im Jahr, das Gehirn funktioniert plötzlich ganz anders. Der Körper sieht anders aus. Und dann ist es auch noch so, dass die Gefühle völlig Kapriolen schlagen. Das Gehirn eines Jugendlichen ist für ihn selbst Terra incognita und unbekanntes Land. Und für die Eltern noch viel mehr, meistens."

    Christine Wolfrum veröffentlichte schon 1996 mit ihrem Co-Autor Peter Süß das Aufklärungsbuch "So wild nach deinem Erdbeermund". Es wurde prompt für den Deutschen Jugendliteraturpreis - Sparte Sachbuch - vorgeschlagen. In diesem Frühjahr kam das Standardwerk aktualisiert und mit dem frischen Titel "Liebe, Sex und mehr" wieder in die Buchhandlungen. In klassischer Arbeitsteilung - Christine Wolfrum recherchierte und schrieb über Mädchen, Peter Süß über Jungen - sprach das Autorenteam mit Jugendlichen zwischen zwölf und 18 Jahren aus allen gesellschaftlichen Gruppen. Ihre Fragen, Bedürfnisse, Gefühle, Wünsche und Ideen bilden die Grundlage des Buches. Und ihre unverkrampften Erfahrungsberichte und Tagebucheintragungen färben den ohnehin locker geschriebenen Text zusätzlich bunt.

    Sicherlich findet man auch die meisten Themen, die über die reine Aufklärung hinausgehen, nicht zum ersten Mal zwischen zwei Buchdeckeln: von den Tipps fürs erste Kennen lernen bis zur ersten gemeinsamen Nacht, von der Selbstbefriedigung bis zum vorgetäuschten Orgasmus, von Untreue und Eifersucht bis zur Homosexualität. Zusätzlich aber haben die Autoren interessante Randthemen angepackt. In eigenen Kapiteln geht es um die speziellen Probleme türkischer Mädchen, um unglückliche Liebe und Selbstmordgefahr oder um das Simsen als neue Form der Kommunikation zum Anbändeln und Schluss machen. Der Ratgeber "Liebe, Sex und mehr" bietet wirklich weitaus mehr als die üblichen Aufklärungsbücher, schneidet alle wichtigen Fragen an, hütet sich aber davor, immer eindeutige Antworten zu geben. Er macht Jugendlichen vor allem Mut, sich selbst, den eigenen Körper und die eigenen Gefühle zu akzeptieren, ihre individuellen Bedürfnisse und Grenzen auszuprobieren und ihren eigenen Weg in der Liebe zu suchen - natürlich gemeinsam mit ihrem Partner. Aber auch Mut durchzuhalten, wenn man mal unsanft abstürzt von der rosa Wolke Nummer.

    "Und das, was wir versucht haben, ist es, einen kleinen roten Faden durch diese doch eher chaotische Zeit zu bieten. Und dass sie Mut haben zu sagen, "okay, es geht mir jetzt vielleicht gerade mies, und trotzdem ist das nicht das Ende der Welt, das Ende des Lebens, sondern es gibt Dinge die kommen noch und sind auch interessant und es geht wieder aufwärts"."

    Was Jugendliche zusätzlich anspricht, sind die sprachlich flotte Verpackung auch der ernsten Themen, der zweifarbige Druck, das spritzige Layout und viele ausdrucksvolle Fotos.

    Ein ganz ungewöhnliches Liebesbuch - beim Begriff "Aufklärungsbuch" sträubt sich hier die Tastatur - hat die schwedische Journalistin Emma Hamberg mit ihrem Titel "Liebe und Sex" geschrieben. Ein Buch aus der Perspektive von Mädchen und ausdrücklich für Mädchen, mit vielen Erzählungen und Erfahrungsberichten von Mädchen. Ein Buch, das weitaus weniger Informationen bietet als das von Christine Wolfrum und Peter Süß. Das dafür aber emotionale und auch körperliche Erlebnisse junger Mädchen, Liebe und Sex noch sehr viel intensiver betrachtet und begleitet. Lud jenes Buch mehr zum Voraus- und Zurückblättern ein, zum Schmökern, so folgt dieses in seinen zwei Hauptkapiteln einem Erzählfaden, dem die Leserinnen sich mit Spaß und Spannung gerne anvertrauen werden. Übrigens soll auch schon der eine oder andere Junge bei der Lektüre von "Liebe und Sex" gesichtet worden sein - höchst fasziniert, denn:

    "Die Liebe ist schon ein merkwürdiges Phänomen. Merkwürdig, wunderbar, kompliziert und im Grunde genommen ganz simpel!"

    schreibt Emma Hamberg in der "Love, Love, Love" überschriebenen Einleitung. Man spürt der Autorin ihre Begeisterung für ihr Thema und ihren innigen Wunsch an, junge Mädchen möchten dieses wunderbar einfache und zugleich schwierige Thema Liebe von ganzem Herzen genießen lernen. Denn dass man Liebe und Sex üben muss und lernen kann, das ist nach Meinung der Autorin gewiss. Verhinderten früher gesellschaftliche Tabus eine ungezwungene Entwicklung der Sexualität, so sind es heute die Medien, die ganz falsche Vorstellungen wecken - ine Beobachtung, die auch Christine Wolfrum immer wieder gemacht hat:

    "Es ist so, dass, wenn wir Filme anschauen, einer auf dem anderen liegt und es wird Sex gemacht und es wird gestöhnt und sonst wie gemacht. Aber wie kommen die überhaupt ins Bett und was passiert danach? Und wie haben die es überhaupt geschafft, ein Gefühl zu entwickeln?"

    Genau diesen Fragen geht Emma Hamberg nach: Wie entwickeln sich Gefühle, welchen Gefühlen darf ich trauen, welche verschiedenen Gefühle gibt es zwischen den ersten Schmetterlingen im Bauch und der intensiven Liebe, und vor allem: welche traurigen oder negativen Gefühle gibt es auch - und ebenso stark? Um dann in der Mitte des Buches zum Sex und da auch schonungslos offen ans so genannte Eingemachte zu kommen. Ihre - für manche Eltern oder auch Leserinnen sicherlich provozierende - Hauptthese:

    "Ich behaupte mal ganz dreist, dass Onanie der goldene Schlüssel zu einem befriedigenden, knisternden, herrlichen Sexleben ist. Wie sonst sollst Du rauskriegen, was du magst? Verlass dich nicht darauf, dass ein Junge dir die Kniffe beibringt. Er weiß mit Sicherheit weniger über dein kleines Schatzkästlein als du."

    Eine nicht ganz neue, für das Jugendbuch allerdings ungewöhnlich offen und deutlich vorgetragene Behauptung! Aber wie viele provozierende Thesen hat sie einen wahren Kern, auch wenn die folgenden Anleitungen zur Selbstbefriedigung nicht unbedingt "jedermädchens" Sache sind. Um was es der Autorin dabei geht ist, ist, Mädchen zu einem ungezwungenen Genuss von Lust und Liebe zu führen und ihnen einen sicheren Weg vom Küssen über Fummeln und Petting bis zum erfüllten sexuellen Erlebnis zu zeigen. Das tut sie auf sehr persönliche Weise, wie eine Freundin oder große Schwester, scherzhaft, liebevoll und spielerisch, voller Witz und Wärme, und vor allem voller Fürsorge: Nichts - das zeigen die vielen Zitate von Mädchen, die wunderbar witzigen Illustrationen von Birgit Schössow und auch die Erinnerungen der Autorin - nichts ist wichtiger, als sich Zeit zu lassen in der Liebe. Dies Bedürfnis haben wohl auch - entgegen unserer Vorstellung - viele Jugendliche selbst, wie Christine Wolfrum festgestellt hat.

    "Wenn sie sich wirklich verlieben, dann möchten sie diese Gefühle mit dem anderen langsam ausleben."

    Den Weg dahin zeigen beide Bücher den Jugendlichen auf unterschiedliche Weise. Nicht nur, weil ein langsamer Genuss immer größer ist als ein schneller, sondern auch, weil jeder Mensch - wie Emma Hamberg schreibt - ja "ein ganzes Leben lang Zeit" hat, um alle Varianten der körperlichen Lust zu erleben.

    Christine Wolfrun/Peter Süß: "Liebe, Sex und mehr"
    dtv

    Emma Hamberg: "Liebe und Sex"
    Rowohlt-Verlag Reinbek