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"Letztlich ist das Bild Brasiliens erheblich angeschlagen"

Die Regierung in Brasilien wisse nicht, wie sie auf die Massenproteste der Mittelschicht reagieren solle, sagt Günther Maihold, Inhaber des Wilhelm und Alexander von Humboldt-Lehrstuhls in Mexiko. Anders als bei Armenprotesten könnten kurzfristige Sozialprogramme die Probleme nicht lösen.

Günther Maihold im Gespräch mit Jürgen Liminski | 22.06.2013
    Jürgen Liminski: Professor Günther Maihold ist Inhaber des Wilhelm und Alexander von Humboldt-Lehrstuhls in Mexiko und stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Morgen, Herr Maihold!

    Günther Maihold: Guten Morgen!

    Liminski: Herr Maihold, direkt an Sie die Frage, kann der brasilianische Funke auf andere Länder Lateinamerikas überspringen?

    Maihold: Nun, es hat immer Nachahmereffekte bei sozialen Bewegungen in der Region gegeben. Gleichwohl ist die spezifische Situation Brasiliens doch eine ganz besondere, insofern wir es hier doch mit einem Mittelklassenphänomen zu tun haben, das auch insbesondere durch soziale Medien befördert wird, und wir haben in vielen Ländern Lateinamerikas eine durchaus andere Konstellation, wo die sozialen Bewegungen sehr viel stärker aus der Armut herauskommen, aus den stark benachteiligten Schichten, die ums Überleben kämpfen.

    Liminski: Aber es gibt doch auch in anderen Ländern der Region Korruption, Misswirtschaft, autokratische Regime. Ist die Sehnsucht nach Demokratie in Lateinamerika verkümmert oder unterentwickelt?

    Maihold: Ich glaube, sie ist sehr breit vorhanden, nur ist der Glaube an die Demokratie als Weg zum sozialen Ausgleich, als weg zum Aufstieg innerhalb der Gesellschaft doch stark verkümmert, weil wir haben gesehen, dass nur wenige Demokratien es geschafft haben, hier den Benachteiligten bessere Chancen zu eröffnen. Anders sieht es mit dem Thema Korruption aus, das natürlich ein Mobilisierungselement ist, das wir immer wieder finden, das aber gleichzeitig in den Gesellschaften Lateinamerikas so stark verwurzelt ist, nicht nur im Sinne, dass die Reichen sich etwas in ihre Taschen scheffeln, sondern natürlich auch mit der Korruption, die jeder kleine Bürger anwenden muss, um an bestimmte staatliche Leistungen heranzukommen, sodass das immer eine zweiseitige Beziehung ist und insofern sich für die politische Mobilisierung eignet, aber für die konkrete Lösung oftmals schnell an ihre Grenzen gerät.

    Liminski: Die krassen sozialen Gegensätze und die große Lücke, der Abgrund sozusagen zwischen Volk und politischer Klasse haben auch zu diesen Unruhen geführt. Kann die Präsidentin mit einem nationalen Dialog Brücken über diesen Abgrund bauen? Wie kann so ein Dialog in einem so heterogenen Land überhaupt organisiert werden?

    Maihold: Da sehe ich das entscheidende Problem für die Lösung dieser aktuellen Unruhen, weil doch erkennbar ist, die Forderungen beziehen sich auf eine Vielzahl von Bereichen, die jenseits der Einwirkungsmöglichkeiten auch der Staatspräsidentin liegen. Das sind teilweise Fragen, die die kommunale Ebene betreffen, und zum anderen muss Brasilien erst lernen, mit diesen Meinungsäußerungen der Mittelschicht umzugehen. Traditionell sind die Gesellschaften und Regierungen Lateinamerikas darauf ausgelegt, auf Armenproteste zu reagieren mit Sozialprogrammen et cetera. Hier handelt es sich ja um Forderungen, die langfristige Investitionsvorhaben in Bildung, in Gesundheit, einen Umbau des Systems benötigen. Da wird es sehr schwierig sein, dass eine schnelle Antwort in einem nationalen Dialog, wenn er denn mehr als symbolischer Austausch sein soll, gefunden wird.

    Liminski: FIFA-Chef Blatter hat ziemlich überheblich bemerkt, wenn der Ball erst mal rollt, werde sich alles beruhigen – das zeigt doch eine gewisse Verachtung für das Volk. Wie sehen Sie das, lässt sich die Unruhe sozusagen fußballerisch überrollen?

    Maihold: Das ist so das Motto: Brot und Spiele können die Beruhigung der Gesellschaft gewährleisten. Dieser Dachverband der Weltfußballorganisationen guckt natürlich vor allem auf seine eigenen Interessen und Einnahmen. Letztlich ist das Bild Brasiliens erheblich angeschlagen. Wir haben eine Regierung, die nicht weiß, wie sie zwischen Dialog und Rezession agieren soll, das sind schon wichtige Brüche in einer Gesellschaft, auf die man nicht nur mit sozusagen Unterhaltungsprogramm reagieren kann. Hier ist erkennbar, dass das gesamte politische System sich neu aufstellen muss, wenn es mit dieser Herausforderung wirklich erfolgreich umgehen will.

    Liminski: Sie reden von Brüchen und vom politischen System. Sehen Sie hier den Funken einer Revolution?

    Maihold: Nein, ich sehe nur den Punkt, dass die politischen Kräfte des Landes nicht darauf vorbereitet sind, mit solchen Forderungen sich wirklich auseinanderzusetzen. Wir haben eine Konstellation, dass eine neue gesellschaftliche Schicht sich erstmals artikuliert – das ist eigentlich ein Phänomen, das in den entwickelten Gesellschaften an der Tagesordnung ist. Traditionell ist in Brasilien eben das Bild, es gibt eine soziale Bewegung, man tritt in den Dialog mit denen ein und versucht eine Lösung zu finden, bloß hier haben wir keine Struktur. Das sind junge Leute, die über die sozialen Medien sich organisiert haben und zunächst nicht mit einem führenden Kopf auftreten, und das wird in der klassischen Bearbeitung von Konflikten eben nicht widergespiegelt.

    Liminski: Die Krise in Brasilien ist hausgemacht. Das war Professor Günther Maihold, Inhaber des Wilhelm und Alexander von Humboldt-Lehrstuhls in Mexiko und stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Besten Dank fürs Gespräch, Herr Maihold!

    Maihold: Danke Ihnen!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.