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"Letztlich war er überhaupt kein Ökonom"

Nein, sie ist noch lange nicht vorbei, die Finanzkrise. Staaten schlittern dem Bankrott entgegen während Banker wieder Bonuszahlungen kassieren. Wie die nächste Krise verhindern? Der fragende Blick der Politiker fällt immer öfter auf die Theorien eines Wirtschaftswissenschaftlers, dessen Werk eigentlich als längst erledigt galt: John Maynard Keynes.

Von Klemens Kindermann | 01.03.2010
    Schon wieder ein Buch über Keynes. Seit der Finanzkrise 2008/2009 ist der Ökonom John Maynard Keynes so lebendig wie kaum. Wer glaubte, der 1946 gestorbene Keynes habe sich mit seiner Wirkung in den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts erledigt, hat sich wirklich getäuscht. Nach der Finanzkrise um Subprime-Kredite und der Lage auf dem amerikanischen Häusermarkt, die sich zur größten Bedrohung der Weltwirtschaft nach der Depression vor 80 Jahren herausbildete, ist Keynes wieder gefragt. Er ist derjenige, der die Große Depression damals seziert und maßgeblich an der Neuformierung des Wirtschaftssystems nach dem Zweiten Weltkrieg gearbeitet hat. Nach allen Keynes-Büchern der letzten Zeit hat nun sein bedeutendster Biograph Robert Skidelsky, ein Werk vorgelegt mit dem Titel: "Die Rückkehr des Meisters. Keynes für das 21. Jahrhundert."

    "Keynes' Bedeutung liegt darin, eine 'allgemeine Theorie' entwickelt zu haben, die erklärt, wie Volkswirtschaften in solche Krisen geraten, und die Maßnahmen und Institutionen benennt, die uns vor ihnen schützen. In der aktuellen Situation ist es besser, keine Theorie zu haben, als einer schlechten Theorie zu folgen, aber eine gute Theorie ist immer besser als keine Theorie."

    Der "Theoretiker" Keynes. Skidelsky gelingt es, ihn freizulegen, auf eine ganz und gar neue Weise. John Maynard Keynes ist nicht nur der "Aufschwungtheoretiker", als der er über viele Jahre herhalten musste. Er ist, wie es die französische Zeitung "Le Figaro" unlängst formulierte, in der Tat der "lebendigste Ökonom des Planeten". Derzeit wird er von nahezu allen Regierungen, die Ausgabenprogramme gegen die Krise beschließen, indirekt als Kronzeuge benannt. Seine These, dass über die Nachfrage die Produktion angetrieben werden solle und so Arbeitsplätze geschaffen werden könnten, ist die Grundidee aller derzeit geschnürten Konjunkturpakete. Dabei ist die Theorie des möglicherweise bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts wesentlich komplexer. Die beiden wichtigsten Kernthesen aus seiner Hauptschrift, der "Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" scheinen durch die im Jahr 2007 ausgebrochene und noch immer andauernde Weltwirtschaftskrise bestätigt worden zu sein. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, sozusagen aus eigener Kraft heraus Vollbeschäftigung zu erreichen. Der Staat indes kann es schaffen, ohne Verzicht auf die Marktwirtschaft, dieses Unvermögen zu korrigieren. Nachdem Keynes nach dem zweiten Weltkrieg mit diesen Thesen zum Leitbild der Wirtschaftspolitiker vieler Länder wurde, stellte sich irgendwann auch die Verkürzung darauf ein. Neoliberale Markttheorien hatten es in den 70er-Jahren nicht schwer, Keynes mit dem Veto gegen die Einmischung des Staates in die Wirtschaft zu verdrängen. Doch Keynes ist mehr als ein Kritiker der Doktrin, wonach Marktwirtschaften sich selbst korrigieren. Dies zu zeigen, tritt der derzeit wohl renommierteste Keynes-Kenner Skidelsky, Professor und Mitglied des britischen House of Lords, mit Leidenschaft an. Und er kommt dabei zu einem überraschenden Ergebnis:

    "In meiner Keynes-Biographie nannte ich ihn einen 'ungewöhnlichen Ökonomen'. Heute würde ich weiter gehen. Letztlich war er überhaupt kein Ökonom. Natürlich konnte er - auf höchstem Niveau - Ökonomie betreiben. Doch Keynes zog sich die Maske des Ökonomen nur über, um Autorität zu gewinnen, nicht anders, wie er für das Leben in der City dunkle Anzüge und Hut trug. Er glaubte nicht an das Ideensystem, das den Ökonomen als Denkgerüst diente und immer noch dient; betete nicht ihren Gott an, er war ein Häretiker, der das Spiel zu spielen gelernt hatte."

    Hierin liegt das Besondere des Skidelsky'schen Buches. Es zeigt Keynes ganz neu, als ständig Getriebenen, der selbst an der Börse persönliche Totalverluste erlitt, der neue Finanzmarktinstrumente auch in der Praxis ausprobierte, der ständig darüber nachdachte, wie die Triebkräfte des Homo oeconomicus funktionieren, - und der dies alles schließlich in ein komplexes Theoriegefüge überführte, welches heute noch von unschätzbarem Wert und höchster Aktualität ist. Vor allem deshalb, weil er nicht an die Ideale der ökonomischen Wissenschaft glaubte, nach denen komplexe Rechenmodelle eine Vorhersagbarkeit der wirtschaftlichen Entwicklung suggerieren:

    "Vor allem die Innovation - eine menschliche Errungenschaft - macht Regelmäßigkeiten hinfällig. Keynes hätte gesagt, es sei absurd, sich auf Risikomodelle zu stützen, die auf Zahlen aus der Vergangenheit aufgebaut sind, wenn die Banker jede Woche komplexe neue Finanzprodukte hervorzaubern. Keynes' Betonung der Unsicherheit prägt seine gesamte Sicht auf das Dilemma des Menschen. Die Unsicherheit zwingt den Menschen zu einer Art permanenter Furcht vor der Zukunft, die den wirtschaftlichen Fortschritt bremst. Wirtschaftliches Handeln braucht den Stimulus aufregender Ereignisse, die es aus den gewohnten Gleisen werfen."

    Skidelskys Analyse des Keynes'schen Denkens könnte aktueller nicht sein. Schon schnüren Goldman Sachs und andere Investmentbanken erneut undurchsichtige Pakete aus Kreditforderungen, um ihre Bilanzen zu entlasten. Wieder wird durch die Verbriefungen Sicherheit suggeriert, die es aber in Wahrheit nicht gibt. Skidelskys Buch holt John Maynard Keynes aus der Ecke des bloßen Nachfrage-Theoretikers. Es zeigt den Ökonomen als tiefen Skeptiker fälschlicher Gewissheiten, die Gesellschaften verführen und in tiefe, existenzbedrohende Krisen stürzen können. Nach diesem Buch fällt es nicht nur schwerer, den finanzmathematischen Gaukeleien mancher Geldhäuser aufzusitzen. Keynes, so scheint es, ist viel besser als manche mit riesigem Computerspeicherraum hochgerüsteten Volkswirte heutzutage in der Lage, die Ursachen und Folgen der derzeitigen Krise zu beschreiben. Oder, um es mit dem leicht fernöstlich angehauchten Titel des Skidelsky-Buches zu sagen, es ist Zeit für "Die Rückkehr des Meisters".

    Robert Skidelsky: Die Rückkehr des Meisters - Keynes für das 21. Jahrhundert. Kunstmann Verlag, 304 Seiten, 19,90 Euro. ISBN: 978-3-88897-647-6.