Mittwoch, 24. April 2024

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Levitenlesen ohne erhobenem Zeigefinger

Der Kolumbianer Sergio Álvarez befasst sich in seinem ersten ins Deutsche übersetzten Roman wieder mit der oft brutalen Lebenswirklichkeit Kolumbiens. Eva Karnofsky hat mit Álvarez in Bogota über seinen Roman gesprochen.

Von Eva Karnofsky | 19.05.2011
    Kolumbien, 1965. Die Armee hat den zahlreichen marodierenden Banden den Kampf angesagt, die nach dem Ende des Bürgerkrieges zwischen Anhängern von Liberaler und Konservativer Partei entstanden sind. Botones, ein besonders schießwütiger Bandit, verpasst einem Soldaten eine tödliche Kugel. In ihrer Trauer flüchtet sich dessen Verlobte in die Arme eines Baustoffhändlers, der sie seit Langem verehrt. In dieser Nacht zeugen sie einen Sohn: den Ich-Erzähler des Romans 35 Tote.

    Botones verübte sein letztes Verbrechen neun Monate nach seinem Tod; zu Lebzeiten tötete dieser Bandit in Kolumbien gut dreihundert arglose Menschen, die den Mut oder das Pech hatten, sich seinem Unwillen, Ehrgeiz oder seinen Waffen auszusetzen. Doch wie jeder Mörder, der etwas auf sich hält, tötete Botones weiter, als er bereits auf dem Friedhof vermoderte. Und dazu brauchte er keine Kugel mehr zu verschwenden, niemanden mehr zu erstechen oder eigenhändig zu erwürgen. Es genügte ihm meine bescheidene Mitarbeit, denn ich, ein Trottel bereits vor der Geburt, zerriss meiner gebärenden Mutter das Fleisch und löste die Blutung aus, die der langen Liste der Morde dieses Ex-Armeegefreiten den letzten hinzufügte.

    Der Erzähler verdankt seine Existenz der Gewalt. Und in den folgenden 45 Jahren seines Lebens - er lässt sie chronologisch vor dem Leser Revue passieren - wird die Gewalt immer wieder dafür sorgen, dass er jäh ins Unglück stürzt, wenn er gerade glaubt, das Glück sei ihm gewogen. Mehrfach entgeht er knapp dem Tod, mehrfach landet er auf der Straße. Einen Vornamen hat der Erzähler nicht. Autor Sergio Álvarez begründet dies:

    "Der Protagonist hat keinen Namen, denn er ist eine Metapher für alle Kolumbianer. Er weiß nicht, wer er ist, und ist deshalb unserer anarchischen Geschichte ausgeliefert, wie einem Unwetter. Und weil der Erzähler nicht weiß, wer er ist, weiß er auch nicht, was er will. Die Gewalt kommt nicht nur von außen, sondern sie folgt auch daraus, dass wir Kolumbianer nicht wissen, wer wir sind. Wir haben die Tendenz, es uns leicht zu machen und uns auf das Erstbeste einzulassen, was man uns vorschlägt, und von dem wir glauben, dass es uns nützt. Und das macht auch der Erzähler. Und so wird er immer wieder in Gewalt verwickelt."

    Bereits der Vater lebt dies dem Erzähler vor. Er lässt sich auf der Suche nach kurzfristigen finanziellen Vorteilen mit einem korrupten Politiker ein, ruiniert sich und begeht schließlich Selbstmord. Die Schwester der Mutter adoptiert den Jungen und fortan - wir schreiben die Siebzigerjahre - wächst er im Schoße einer Kommune kommunistischer junger Leute auf, die den Umsturz predigen.

    "Der Roman greift das Thema der Linken in Kolumbien auf, denn die Linke hat ihren Anteil daran, dass die Geschichte Lateinamerikas gewalttätig verläuft. Ich selbst habe meine Kindheit im Chaos der lateinamerikanischen Linken verlebt, und das Buch berichtet aus der Perspektive eines Kindes, wie es innerhalb dieser Linken zuging."

    Ein autobiografischer Roman ist 35 Tote jedoch nicht. Álvarez' namenloser Protagonist bewegt sich, wie bereits der Clan der Buendías in Gabriel García Márquez´ Roman Hundert Jahre Einsamkeit, vor dem Hintergrund des Zeitgeistes und der gesellschaftlichen Entwicklungen der jeweiligen Epoche, und so ist ein Roman entstanden, der die Geschichte Kolumbiens der letzten fünf Jahrzehnte nachzeichnet. Dabei sind seine Figuren keineswegs Stereotypen, sondern plastisch und glaubwürdig. Dazu trägt bei, dass der Autor in der Umgangssprache schreibt. Er lässt seinen Erzähler die Dialoge so lebendig wiedergeben, dass sich der Leser gleich in das Milieu hineinversetzt fühlt, im dem sich der Erzähler gerade bewegt.

    Álvarez begegnet ihm ob seiner naiven Art, sich immer wieder neu in Schwierigkeiten zu bringen, mit unterschwelligem Humor, etwa, wenn der Erzähler in den Neunzigerjahren in eine Familie von Drogenhändlern einheiratet:

    Während der Pfarrer über das heilige Sakrament der Ehe sprach, dachte ich an meine Zeiten als Kommunist, Bandenmitglied, Yogi und Puppenspieler und überlegte mir, dass es nach allem, was ich bereits hinter mir hatte, auch nicht schlimm war, wenn ich jetzt an Jesus Christus, die heilige Jungfrau, die Familie, an Kinder und vor allem an die Treue in guten wie in schlechten Zeiten glaubte.

    Álvarez verehrt seinen Landsmann Gabriel García Márquez, und Hundert Jahre Einsamkeit hat bei der Konzeption seines Romans eine Rolle gespielt:

    "Mein Roman setzt gewissermaßen Hundert Jahre Einsamkeit fort, aber er antwortet auch darauf. Wir Lateinamerikaner identifizieren uns mit den Büchern von García Márquez und mit seinem Magischen Realismus, in dem die Natur alles verformt. Aber wir lassen ihn zu einem Übel verkommen. Wenn hier ein Politiker dreißig Millionen klaut, schreiben die Journalisten nicht etwa, dass dies schlecht sei, sondern entschuldigen es damit, dass dies dem Magischen Realismus zuzuschreiben sei, als ob der Magische Realismus jede Ungeheuerlichkeit rechtfertigte. Und darauf antworte ich, in dem ich von diesen Ungeheuerlichkeiten erzähle."

    Viele lateinamerikanische Autoren haben versucht, mit Familiengeschichten an den Erfolg von García Marquez' Roman anzuknüpfen und sind über Kopien selten hinausgekommen. Sergio Álvarez jedoch gelingt etwas Eigenes. Er bildet auf gut 500 Seiten sein Land mit all seinen Schwächen ab und liest den Kolumbianern ohne erhobenen Zeigefinger die Leviten. Und dies auch noch spannend, denn der Leser empfindet Empathie für den namenlosen Erzähler und hofft, dass es ihm irgendwann gelingen möge, sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken.

    Sergio Álvarez: 35 Tote. Aus dem Spanischen von Marianne Gareis. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 546 Seiten, 14,95 Euro.