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Lew Besymenski: Stalin und Hitler - Das Pokerspiel der Diktatoren

Der Historiker Lew Besymenski, Jahrgang 1920, war im Krieg Dolmetscher und Aufklärungsoffizier u.a. im Stab des Sowjetmarschalls Shukow. Zuerst nahm er an zahlreichen Schlachten, auch in Stalingrad, teil, später an den Vernehmungen der Kriegsverbrecher der deutschen Wehrmachtsgeneralität. Seit 1985 gehört er dem Beirat des Zentrums für Studien zur deutschen Geschichte in Moskau an. Das alles und zudem sein Zugang zu russischen Staatsarchiven prädestinierte ihn, ein weiteres Buch über das Verhältnis der beiden so unterschiedlichen Diktatoren Stalin und Hitler zu schreiben. Wilhelm von Sternburg hat Besymenskis Studie für uns gelesen.

Wilhelm von Sternburg |
    Auf der politischen Bühne der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts waren beide Staaten die Parias in der europäischen Völkergemeinschaft. Der Sturm auf das Petersburger Winterpalais im November 1917 entsetzte die bürgerlich regierten Westmächte und ließ die junge bolschewistische Sowjetunion zum internationalen Außenseiter werden. Die Deutschen wiederum hatten den Ersten Weltkrieg verloren, für dessen Ausbruch sie aus der Sicht der Sieger alleine verantwortlich waren. Sie galten ihren Nachbarn als die modernen Hunnen. Am Ende dann gründeten Stalin im Osten und Hitler in Mitteleuropa die beiden totalitären Systeme, denen Millionen Menschen zum Opfer fallen sollten. Die beiden Diktatoren prägten die Weltgeschichte ihrer Zeit auf schreckliche Weise.

    Die Außenseiterrolle aber verband sie trotz der tiefen ideologischen Gräben, die sie ihren unterdrückten Völkern mit großem propagandistischem Aufwand suggerierten. Wenn es um die Macht ging, kannten weder Stalin noch Hitler irgendwelche ideologische oder gar moralische Bedenken. Sie schlossen um des eigenen Vorteils willen Verträge und feilschten habgierig um Länder und Völker. Der russische Militärhistoriker Lew Besymenski, während der Kriegsjahre Dolmetscher im Stab von Marschall Schukow, hat das Pokerspiel dieser beiden Diktatoren nachgezeichnet. Das Besondere an seinem jetzt auch in Deutschland veröffentlichten Buch sind die zahlreichen Dokumente, die er in den russischen Geheimarchiven entdeckte und nun breit zitiert. Im Zentrum stehen die Jahre 1938 bis 1941, die Zeit also, in der Stalin und Hitler von tiefem gegenseitigen Misstrauen begleitet, glaubten, die Welt untereinander aufteilen zu können. Der Pakt, den sie im August 1939 schlossen erleichterte Hitler die Auslösung des Weltkrieges, dessen erstes Opfer Polen wurde. Am Ende verschlang er den 'Führer’ und sein 'Drittes Reich’, und Stalin schob die Grenzen des sowjetischen Imperiums für ein halbes Jahrhundert bis in die Mitte Europas vor.

    Schon 1935 – immerhin waren die von Moskau verdammten Faschisten schon zwei Jahre an der Macht – ließ Stalin erkennen, dass er einem Arrangement mit Deutschland keineswegs abgeneigt war. In einer Weisung an seine Diplomaten erklärte er:

    Die Sowjetregierung mischt sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ein, und deren inneres Regime hat keinen Einfluss darauf, welche Haltung die Sowjetregierung zu ihnen einnimmt. Daher war sie bereit, mit Deutschland weiterhin bestmögliche Beziehungen zu unterhalten, besonders wirtschaftliche, die sie sehr schätzt.

    Die Sowjets hatten zweifellos Hitlers "Mein Kampf" gelesen, in dem der "Führer" vom "Volk ohne Raum" sprach und den "Kampf gegen Bolschewisten und Juden" bereits offen angekündigt hatte. Aber zumindest Stalin überschätzte die eigenen Kräfte. 1937/38 liquidierte er trotz der zunehmenden Gefahr die Europa durch das Vorgehen des nationalsozialistischen Deutschland in Österreich und im Sudetenland drohte, nicht nur die alte bolschewistische Garde, sondern auch nahezu die gesamte Führung der Roten Armee. Wie falsch Stalin die Lage einschätzte, zeigen seine politischen Schachzüge, die ihn bis zum Tag des Überfalls der Wehrmacht auf sein Land, auf weitere Beute hoffen ließen. Anastas Mikojan, der schon Ende der dreißiger Jahren in Stalins engster Umgebung wirkte, erklärte nach dem Tod des Diktators:

    Stalin hat sich den Überraschungseffekt der Aggression der Faschisten mit allen seinen schwerwiegenden Folgen faktisch selber zuzuschreiben. Im Frühjahr und besonders Anfang 1941 mit ihm darüber zu sprechen, dass Deutschland die UdSSR jederzeit überfallen konnte, war ein hoffnungsloses Unterfangen. Stalin glaubte fest daran, dass der Krieg gegen die Deutschen irgendwann gegen Ende 1942, frühestens Mitte des Jahres beginnen werde, wenn Hitler England in die Knie gezwungen hatte. Er meinte, der Führer werde sich nie dazu entschließen, an zwei Fronten zu kämpfen.

    Vielfache Hinweise auf den Plan Barbarossa, den Befehl Hitlers zur Ausarbeitung des Feldzugs gegen die Sowjetunion, erreichten Stalin, selbst den Zeitpunkt des Angriffs, den 18. Juni 1941, hatten seine Geheimdienste ihm gemeldet. Er schob alle diese Warnungen beiseite und den Preis zahlten bald die Bürger seines Staates, deren Dörfer und Städte im Sommer und Herbst von der Wehrmacht überrollt wurden. Schon 1939, im Vorfeld des Vertrages mit Deutschland, hatte Stalin die Lage falsch beurteilt und die Aussicht auf große Landgewinne, ließen ihn den Pakt mit dem anderen Teufel schließen. Besymenski schreibt über diese Zeit:

    … bereits seit April 1939 hatte sich die Stalinsche Außenpolitik einem neuen Imperativ zu beugen – der absoluten Notwendigkeit, Zeit zu gewinnen. Es ist nicht zu gewagt, wenn man behauptet, dass Stalin mit seinem neuen Kurs ausgerechnet bei Sir Neville Chamberlain in die Lehre ging. Warum sollte man nicht versuchen, diesen Zeitgewinn durch 'Beschwichtigung’ Hitlers – allerdings auf Stalinsche Art – zu erreichen? Chamberlain hatte dafür die Tschechoslowakei geopfert, warum sollte Stalin nicht dasselbe mit Polen machen, das ihm seit langem verhasst war?

    Wie sein Gegenpart in Berlin war auch der russische Diktator ein skrupelloser Machtmensch, der rücksichtslos über Völker und Menschen hinwegschritt. So heißt es in dem Geheimprotokoll über die Zukunft Polens:

    Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklungen geklärt werden. In jedem Falle werden die beiden Regierungen diese Frage im Wege einer freundschaftlichen Verständigung lösen.

    Neu einschätzen muss nach den von Besymenski präsentierten Dokumenten auch der deutsche Leser die Reise Molotows im November 1940 nach Berlin. Allgemein wird dieser Besuch als ein Dialog beschrieben, in dem Molotow und Hitler von völlig unterschiedlichen Positionen aus argumentierten und aneinander vorbei redeten. Aber es war viel mehr. Denn es wird in den Dokumenten deutlich, dass Stalin noch Ende 1940 mit dem Gedanken spielte, dem Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan beizutreten. Das haben in dieser Deutlichkeit bislang selbst die schärfsten Kritiker der stalinschen Außenpolitiker nicht für möglich gehalten. Besymenski schreibt über ein Treffen Stalins mit Molotow am Vortag seiner Berlin-Reise:

    Man kann sagen, dass in dem Gespräch Stalins mit Molotow vom 9. November 1940 die geheimsten, bestgehüteten Absichten beider zur Sprache kamen, nämlich einen ersten Entwurf der Interessensphären der UdSSR in Europa, im Nahen und Mittleren Asien auszuarbeiten. Molotow sollte bei den Verhandlungen in Berlin mit Hitler die Möglichkeiten sondieren, ob man darüber mit Deutschland und Italien übereinkommen könnte.

    Ein bemerkenswertes Buch der aktuellen russischen Zeitgeschichtsschreibung ist Besymenski gelungen. Es schließt viele Lücken in der Beurteilung der Politik Stalins gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland. Der Autor hat nicht das Psychogramm zweier Diktatoren vorgelegt, sondern eine durch Dokumente belegte Darstellung dessen, was einst Europa in Blut und Asche verwandelte.

    Wilhelm von Sternburg besprach: Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktatoren von Lew Besymenski, erschienen im Aufbau Verlag, übersetzt aus dem Russischen von Hilde und Helmut Ettinger. Das Buch hat 488 Seiten und kostet 25 Euro.