Gewiß erklärt sich die Unsterblichkeit griechischer Mythen auch daraus, daß sie die vitalen Grunderfahrungen des Menscheng die trotz dessen, was wir "Fortschritt" nennen, damals wie heute ihre Gültigkeit haben, in Worten und Bildern eindringlich zum Ausdruck bringen.Es geht um erzählendes Wisse'ne nicht um Begriffe. Appelliert wird an die Einbildungskraft des Menschen, seine Imagination und an seine Erlebnisfähigkeit. Ein vertrauter Wirklichkeitshorizont wird geschaffen, der Orientierung liefert für die Erfahrung von Welt und für das Selbstverständnis.
Heute freilich kann immer weniger mit einem Vorwissen gerechnet werden, das noch im vorigen Jahrhundert dem Bildungsbürgertum selbstverständlich war. Darum brauat es Hilfen, meist in Lexikonform, um den Reichtum der antiken Mythen zu erschließen. Denn wer hat die Epen Homers und Vergils präsent, wer hat die Dramen von Sophokles wirklich gelesen, wer kennt, selbst in der Übersetzung, die Werke Hesiods oder die "Metamorphosen" Ovids ? Ihre - poetischen Darstellungen sind die wichtigsten Quellen und bilden den Kanon für die schriftliche und die bildnerische Überlieferung der antiken Mythen. Zugang zu ihrer bunten Gestal)tenfülle gewähren in unserer vorwiegend visuell bestimmten Gegenwart am direktesten Plastik und Malerei. Denn sie greifen entscheidende Szenen der Mythenerzählungen heraus, spitzen sie zu, verdichten sie zu unmittelbarer Evidenz. Oder sie modellieren die charakteristischen Züge der Götter, Helden und Fabelwesen in ihrer Einmaligkeit, verleihen ihren Taten, Kämpfen und Begierden menschlich-übermenschlichen Ausdruck.Daß das erotische Element nie zu kurz kommt, steigert die Faszination.
Dem trägt das soeben bei Reclam erschienene "Lexikon der antiken Götter und Heroen in der Kunst" entschieden Rechnung. Auf dem Einband ist Tiepolos farbenprächtiges Gemälde "Apoll und Daphne" abgebildet; es geht um die Dramatik der Verfolgung einer flüchtigen Spröden durch einen stürmischen jungen Gott. Doch der kleine Eros wendet sich ab: es soll zum Letzten nicht kommen. Wie Tiepolo die keusche Schönheit mit allen Attributen des Verführerischen malt, in der Mitte des galanten 18. Jahrhunderts, das illustriert zugleich die Liebesspiele seiner Epoche - der zwischen Spätbarock und Rokoko in der die mythologische Verkleidung den Reiz erhöht. Was erfahren über die Nymphe Daphne und Apollon im erläuternden Text des Lexikons?
"Weil sich Apollon über den Erosknaben lustig gemacht hatte (der Kleine solle das Bogenschießen ihm und Oberhaupt den Männern überlassen), rächte sich der Liebesgett mit einem goldenen Pfeil, der Apollon in Daphne glühend verliebt machte. Daphne aber traf er mit einem Pfeil aus Blei, der alle Liebesgefühle vertreibt. Als Apollon nun in seiner Verliebtheit sich Daphne zu nähern suchte, floh sie davon und rief ihren Vater um Hilfe. Im gleichen Augenblick, da Apollon sie einholte, wurde sie in einen Lorbeerbaum (griechisch: daphne) verwandelt, mit dessen Zweigen sich Apollon fortan bekränzte.- Für die Künstler war der Augenblick der Ergreifung und Verwandlung der Daphne das interessanteste Motiv: wenn sie mit erhobenen Armen die Form eines Baumes anzunehmen beginnt, ihre Finger schon zu Zweigen ausgewachsen sind, ihr Haar zu dichtem Laub wird."
Das ist, in äußerster Verknappung, der "Stoff" dieser mythischen Szene. Es folgen Hinweise auf ihre Darstellung bei weiteren bedetenden Künstlern wie Bernini oder Poussin und - sehr nützlich für Museumsbesucher - der heutige Standort dieser Meisterwerke.
Nicht wenige sind dem Text - auch in Kleinformat - zwecks erster Orientierung beigefügt. Damit sind die Stärken und Schwächen dieses Reclam-Lexikons zugleich angesprochen: den Reichtum der Illustrationen - mit vielen ganzseitigen Farbtafeln - begleiten vielfach allzu verkürzt wiedergegebene, auf das Stofflich-Faktische reduzierte Texte, die auf die Vielfalt der Auslegungsmöglichkeiten weithin verzichten. Sicher sind hierfür Platzgründe ausschlaggebend; und doch wären weiterführende Hinweise - die durchaus keinen großen Umfang beanspruchen - wünschenswert gewesen. Durch Namen- und Sachregister allein ist dieses Manko nicht wettzumachen. Gleichwohl ist der Band mehr als eine Einstiegshilfe und ein attraktives Bilderbuch. Er enthält lesenswerte Sachartikel, ein Verzeichnis der wichtigsten europäischen Museen und eine Übersicht über die einschlägige Literatur zum Thema, die auch Handbücher und Lexika umfaßt. Darin findet sich übrigens ein im Vorjahr erschienenes Handbuch, das - in umgekehrter Proportion wie das vorgestellte Lexikon -ein Minimum an Illustrationen mit einem Maximum an Text und philologischen wie kunstgeschichtlichen Quellen verbindet. Hans-Karl und Susanne Lücke haben mit "Antike Mythologie. Der Mythos und seine Überlieferung in Literatur und bildender Kunst" ein detailliertes und im besten Sinn gelehrtes Werk vorgelegt, das all jene befriedigen wird, die tiefer schärfen wollen.