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Lexikon der Völkermorde

Buchtitel dienen der Aufmerksamkeit. Manchmal stolpert man allerdings schon auf den ersten Buchstaben über ihre Unbeholfenheit. "Lexikon der Völkermorde" schmeichelt sich eine Publikation des Rowohlt Verlags in die Augen seiner potentiellen Leser, und irgendwie scheint da eine fröhliche Konnotation mitzuschwingen. Ist es die Nähe zum Reimwort "Rekorde" oder die Umgebung der massenhaft modisch gewordenen Unsinns-Enzyklopädien, die Daten und Fakten, Listen und Rankings versammeln, derer niemand bedarf? Auch Gunnar Heinsohn, ein hoch respektabler Bremer Sozialforscher, ist sich als Autor der Fragwürdigkeit seines Titels bewußt und bekennt, "Lexikon der menschengemachten Megatötungen jenseits des Krieges" sei die exakte Definition – doch leicht kann man sich die Einwände der Vertriebsleute vorstellen: Wer kauft denn sowas?

Florian Felix Weyh |
    Ja wirklich: Wer kauft sowas? Ganz ohne Häme spiegelt die Frage das Grunddilemma dieses wichtigen, aber heiklen Unternehmens wider. An wen wendet man sich mit einem "Lexikon der Völkermorde" und welche Sprache wählt man dafür? Gunnar Heinsohn hat es sich nicht leicht gemacht, wie das ausführliche, Anlage und Methoden des Buches erläuternde Vorwort belegt, aber das Sujet macht es auch ihm nicht leicht. Schreiben über das Entsetzliche, das Völker anderen Völkern antun, ist schon im Einzelfall ein schwieriges Unterfangen, in der Kompilation eine Sisyphusarbeit. Nicht nur, weil die Fakten aus politischen Gründen schwer auffindbar sind, sondern weil sich jedes Beschreibungssystem dem Vorwurf der Verharmlosung aussetzt. Per se erzeugt ein solches Buch Vergleichbarkeit, das ist ein Grundzug jeder lexikalischen Sammlung, und hier schon werden die Anhänger der Unvergleichbarkeits-These des Holocaust Protest einlegen. Da Heinsohn aus guten, humanitären Gründen sein Lexikon "opferorientiert" aufbaut – also bei Völkern, die Täter und Opfer waren, sie zuerst (und ausführlich) als Opfer würdigt, bevor er ihre Verbrechen aufzählt – gerät er in eine systematische Falle. Man wagt es kaum, das Stichwort "Deutsche" nachzuschlagen: als Opfer sind uns 14 Spalten gewidmet, als Täter gerade mal vier. Öl ins Feuer derjenigen, die den klammheimlichen Sieg des Historikerstreits auf der Seite der Verharmloser sehen, auch wenn Gunnar Heinsohn alles andere als in diese Kategorie paßt; er ist nur seiner eigenen Systematik erlegen. Um uns Deutsche ins rechte Licht zu setzen, muß man unter dem Stichwort "Juden" nachschlagen – was aber voraussetzt, daß man gewillt ist, aus der Opferperspektive zu denken. Nehmen wir den Fall, Heinsohns Lexikon stehe in einer öffentlichen Bibliothek, wo ein von Skinhead-Freunden verunsicherter Fünfzehnjähriger die Wahrheit erfahren will. Er schlägt unter seiner eigenen Nationalität nach und muß mit Erschrecken feststellen, daß die Skinheads tendenziell im Recht sind: Die Geschichte strotzt vor Genozidversuchen an der deutschen Bevölkerung, vom Dreißigjährigen Krieg über die Hungerblockaden im Ersten Weltkrieg bis zu den Toten an der innerdeutschen Grenze (und selbst die 3417 Werwolf-Jugendlichen, die von den Russen erschossen wurden, sind einen eigenen Absatz wert). Der Fünfzehnjährige klappt das Buch zu und schlägt natürlich nicht bei den Juden nach. Warum auch? Ihm reicht die verkürzte Information.

    Einspruch also gegen dieses System, denn ein Nachschlagewerk muß auch dann unmißverständlich sein, wenn man weder Vorwort, noch Gebrauchsanweisung gelesen hat. Nehmen wir noch einmal den Fünfzehnjährigen, der vielleicht etwas über Hitler erfahren will. "Dritter unter den Megamördern des 20. Jahrhunderts" liest er und ärgert sich, daß den Deutschen wieder nur die Bronzemedaille zusteht. Nominell korrekt, liegt hier ein durchgehender sprachlicher Mißgriff vor. Von "megageil" bis zum "Megagewinnspiel" ist dieses Zahlenwort ausschließlich positiv konnotiert und taugt überhaupt nicht, die Dimensionen eines Verbrechens zu beschwören, ganz im Gegenteil. Es wäre eine sprachwissenschaftliche Herausforderung, eine Bezeichnung für negative große Mengen zu finden, die nicht von der Alltags- und Werbesprache in emotionale Zustimmung umgemünzt werden kann. Übrig bleibt ein Buch für mündige Leser, also ein Produkt mit beschränkter Haftung. Wer sich mit seinen Fallstricken abgefunden hat, kann daraus einiges lernen, zum Beispiel eine Theorie der Hexenverfolgung aus "Repopulierungsgründen", als es nach den großen Pestepedemien galt, das Wissen um Schwangerschaft und Abtreibung gänzlich den Frauen wegzunehmen. Die Kampagne war so erfolgreich, daß es in ihrem Gefolge zur Überbevölkerung Mitteleuropas kam, was schließlich die Auswanderungswelle nach Übersee bewirkte – wo man seinerseits die Ureinwohner dezimierte. Genozide – oder Demozide, wie Heinsohn sie nennt – tragen die Tendenz zur unendlichen Fortsetzung in sich; nur wer Gleiches nicht mit Gleichem vergilt, unterbricht die schreckliche Kette.