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Liberal vs. konservativ

US-Wahlkämpfe, besonders die um das Weiße Haus arten, fast immer in ideologische Auseinandersetzungen aus. Diese lassen sich als eine Diskussion zwischen den beiden politischen Philosophen Leo Strauss und John Rawls darstellen. Um den 1899 in Hessen geborenen und 1973 in Maryland gestorbenen Strauss, der vor den Nazis in die USA emigrierte, ranken sich dabei auch Verschwörungstheorien, er habe seine eigentliche Lehre nur mündlich seinen Schülern überliefert. So pflegt der in Chicago lehrende denn auch eine sehr indirekte Schreibweise, interpretiert häufig andere, anstatt selber sich offen zu äußern. Jedenfalls ist er bis heute einer der einflussreichsten konservativen Denker, auch ganz konkret auf die Bush-Administration. Auf der liberalen Seite steht der 1921 geboren und 2002 gestorbene, fast sein ganzes Leben in Harvard lehrende John Rawls, der 1971 mit seinem Hauptwerk "Eine Theorie der Gerechtigkeit" dem politischen Liberalismus ein soziales Fundament gibt, dessen Spuren sich in der Politik demokratischer US-Präsidenten oder solcher die es werden wollten abzeichnen. Seit seinem Tod erscheint jetzt ein zweiter Band mit Vorlesungen über die Geschichte der politischen Philosophie, die eine historische Grundlegung des Liberalismus darstellen, den Leo Strauss gerade historisch und besonders in seinen Schriften über Hobbes angegriffen hat. Daher eignen sie sich besonders gut für eine Gegenüberstellung und für aktuelle Bezüge.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 03.12.2008
    In Europa verlieren die Wahlkämpfe tendenziell an ideologischer Ausrichtung. Nicht so in den USA, selbst wenn die Kandidaten wie bei diesen Wahlen eher pragmatisch orientiert erscheinen. Doch mit der Berufung von Sarah Palin zur Vizepräsidentschaftskandidatin erhielt der Wahlkampf wiederum einen weltanschaulichen Zug. So heizte Sarah Palin die Auseinandersetzung mit den Worten über Barack Obama an: "Das ist kein Mann, der Amerika so sieht wie Sie oder ich. Wir begreifen Amerika als die größte Macht für das Gute in dieser Welt - als Fackel des Lichts und der Hoffnung für andere, die nach Freiheit und Demokratie trachten." (SZ 232, 7)

    In der Tat trennen konservative Republikaner und liberale Demokraten unterschiedliche ethische Konzeptionen. Ronald Reagan sprach vom Reich des Bösen, Georges Bush von dessen Achse, während Liberale wissen, dass für viele Menschen auf der Welt Amerika gerade nicht eine Fackel der Hoffnung verkörpert. Amerika hat vielmehr dieselben Probleme wie andere Länder auch, steht vor dringenden Reformen, weil vielerorts ungerechte Verhältnisse herrschen. Der liberale Vordenker John Rawls bemerkt in der Einleitung zu seiner Geschichte der politischen Philosophie:

    "Es seien hier zum Beispiel fünf Reformen genannt, die in den Vereinigten Staaten noch ausstehen: eine Reform des Gesetzes zur Wahlkampffinanzierung, um das derzeitige System zu überwinden, in dem Macht für Geld zu haben ist; faire Chancengleichheit im Bildungswesen; eine Form der allgemeinen Krankenversicherung; ein Recht auf sozial nützliche Arbeit; rechtliche und sonstige Gleichstellung der Frauen. Diese Reformen würden in hohem Maße dazu beitragen, die schlimmsten Aspekte der Diskriminierung und des Rassismus zu mildern, wenn nicht gar zu beseitigen."

    Hillary Clinton wie Barack Obama verkörpern eine solche emanzipatorische Tendenz zur Zivilgesellschaft, die in den USA wie in Europa nicht zuletzt durch die rebellischen Jugendbewegungen rings um 1968 beschleunigt wurde.

    Vor allem die religiös inspirierten konservativen Kreise begreifen diese Dynamik als einen Angriff auf die von ihnen vertretenen konservativen Werte. Die Neokonservativen, zu denen ehemaliger Mitglieder der Bush-Administration wie Paul Wolfowitz und Richard Perle zählen, fordern seit den achtziger Jahren die verfassungsrechtliche Verankerung der Ehe, damit verbunden die Kontrolle der Schlafzimmer, folglich das Verbot homosexueller wie nichtehelicher Lebensgemeinschaften und natürlich ein Verbot der Abtreibung. Sie inspirierte der konservative Philosoph Leo Strauss, der in diesem Sinne denn auch bemerkt:

    "Es ist für Aristoteles wie für Moses offensichtlich, dass Mord, Diebstahl, Ehebruch etc. unbedingt schlecht sind. Griechische Philosophie und die Bibel stimmen insoweit überein, dass der richtige Rahmen der Moral die patriarchalische Familie ist, die monogam ist oder dazu tendiert und die die Zelle der Gesellschaft formt, in der die freien erwachsenen Männer, und besonders die alten, vorherrschen. Was immer die Bibel und die Philosophie uns über die Vornehmheit gewisser Frauen erzählen mag, im Prinzip beruht beides auf der Dominanz des männlichen Geschlechts."

    Wenn ethische Werte unveränderbar, ewig, ja göttlich sind, dann kann man über sie auch nicht diskutieren. Man darf sie vielmehr sogar anderen oktroyieren, diese auch mit Zwang auf den Pfad der einzig gültigen Tugend bringen, eben die Schlafzimmer kontrollieren.

    Dagegen ist für Liberale der Bürger mündig, der seine ethischen wie religiösen Orientierungen selber wählt. Daher kann man höchstens versuchen, ihn vernünftig zu überzeugen. Rawls bemerkt:

    "Ein legitimes Regierungssystem ist so beschaffen, dass sich seine politischen und sozialen Institutionen gegenüber allen Bürgern - gegenüber jedem einzelnen - rechtfertigen lassen, indem man die theoretische und die praktische Vernunft der Bürger anspricht."

    Die Religion tritt somit gemäß der US-amerikanischen Verfassungstradition, die Staat und Religion strikt trennt, für John Rawls in den Hintergrund.

    Die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung spricht indes auch vom Menschen als Geschöpf Gottes und von gottgegebenen Rechten. Daher klagt Leo Strauss 1953:

    "Huldigt diese Nation in ihrer Reife noch dem Glauben, in dem sie entstanden und groß geworden ist? (. .) Ein amerikanischer Diplomat konnte noch vor ungefähr einer Generation sagen, dass 'die göttlich-natürliche Begründung der Menschenrechte für den Amerikaner selbstverständlich' ist."

    Für den Liberalismus gibt es dagegen keine allgemeinen letzten oder höchsten Autoritäten, die über das entscheiden könnten, was wahr oder gut ist. Das müssen die Bürger vielmehr selber feststellen. Darüber diskutieren sie und ändern auch immer mal wieder ihre Auffassungen. So stellt Rawls fest:

    "Bei 'Physikern' gibt es keine institutionelle Körperschaft mit der Autorität zu verkünden, dass etwa die allgemeine Relativitätstheorie richtig oder unrichtig sei. Was die politische Gerechtigkeit in einer Demokratie betrifft, besteht in dieser Hinsicht eine Ähnlichkeit zwischen der Gesamtheit der Bürger und der Gesamtheit der Physiker. Dieses Faktum ist ein charakteristisches Merkmal der modernen demokratischen Welt und wurzelt in ihren Vorstellungen von politischer Freiheit und Gleichheit."

    Für Leo Strauss überschätzt der Liberalismus damit die Kompetenz des Bürgers, wenn er ihn als einsichtig und vernünftig begreift, wenn er von einem tendenziell guten, anstatt von einem bösen Charakter ausgeht. Strauss bemerkt im neu edierten Band 3 der Gesamtausgabe:

    "Der Liberalismus geborgen und befangen in einer Welt der Kultur, vergisst das Fundament der Kultur, den Naturstand, d.h. die menschliche Natur in ihrer Gefährlichkeit und Gefährdetheit."

    Daraus folgt nach Leo Strauss die Herrschaftsbedürftigkeit des Menschen. Ohne einen starken Staat, dem sich die Bürger unterordnen, lässt sich kein Friedenszustand zwischen den Menschen herstellen. Doch es ist nicht der Zweck des Staates, liberal das Leben der Bürger zu sichern, wie es der Begründer des modernen Staates Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert formulierte. So bemerkt Leo Strauss ebenfalls im 3. Band der Gesamtausgabe, der seine Texte über Hobbes zusammenfasst:

    "Das Recht auf Sicherung des nackten Lebens, in dem das Naturrecht des Hobbes beschlossen ist, hat vollständig den Charakter eines unveräußerlichen Menschenrechts, d.h. eines dem Staat vorangehenden, seinen Zweck und seine Grenzen bestimmenden Anspruchs des einzelnen; (. .)."

    Für Hobbes folgt daraus allerdings die Unterordnung des einzelnen unter den Staat, damit dieser ihn auch wirklich beschützen kann. Das interpretiert John Rawls, der in seiner Geschichte der politischen Philosophie auf Hobbes ebenfalls ausführlich eingeht, indes als Bemühung, die Bürger rational zu überzeugen:

    "Ich glaube, 'Hobbes' wollte ein überzeugendes philosophisches Argument vorbringen, aus dem sich ergibt, dass ein starker und durchsetzungsfähiger Souverän mit allen Machtbefugnissen, die einem Souverän nach Hobbes zustehen, das einzige Gegenmittel gegen das große Übel des Bürgerkriegs ist, das alle Personen verhüten wollen müssen, da es ihren Grundinteressen zuwiderläuft. Hobbes möchte uns davon überzeugen, dass die Existenz eines solchen Souveräns die einzige Möglichkeit darstellt, zu bürgerlichem Frieden zu gelangen."

    Hobbes schreibt aus der Erfahrung der verheerenden religiösen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts und legt damit das Fundament für den modernen Staat, in dem in der Tat der Schutz des Individuums im Vordergrund stehen wird.
    Für Leo Strauss dagegen dient der Staat einem höheren Zweck, ist er deswegen nicht mal Selbstzweck. Er hat vielmehr dem Guten, Gott, dem Seelenheil zu dienen. Daher konnten Ronald Reagan und Georges Bush im Kampf gegen das Böse problemlos den Staatshaushalt ruinieren. Den Irak-Krieg bezeichnete Sara Palin denn auch als gottgewollt. Leo Strauss schreibt vor einem halben Jahrhundert dazu die Legitimation:

    "Eine wohlgesittete Gemeinschaft wird nicht in den Krieg ziehen, es sei denn, es handele sich um eine gerechte Sache. Was sie aber während eines Krieges tun wird, das hängt bis zu einem gewissen Grad von dem ab, was ihr der Feind - möglicherweise ein absolut gewissenloser und barbarischer Feind - zu tun aufzwingt. Es gibt keine im voraus definierbaren Beschränkungen, es gibt keine bestimmbaren Grenzen für das, was zur gerechten Repressalie werden kann."

    Während für die Konservativen der Staat ein Mittel im Kampf gegen das Böse ist, stellt er für die Liberalen den Ort dar, wo demokratische Politik gemacht wird, wo sich die Bürger in gemeinsamer Verantwortung begegnen. Ihn gilt es daher stabil zu erhalten - ein ethischer und weltanschaulicher Gegensatz, den man nicht unterschätzen sollte.

    Bibliografische Angaben:

    John Rawls: Geschichte der politischen Philosophie,
    übers. v. Joachim Schulte, hg. v. Samuel Freeman,
    671 S. gebunden, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2008, 38 Euro

    Leo Strauss: Hobbes' politische Wissenschaft und zugehörige Schriften, Briefe, Gesammelte Schriften Bd. 3, hrsg. von Heinrich u. Wiebke Maier,
    799 S. gebunden, 2. überarb. Aufl. Metzler 2008, 49,90 Euro.