Der profilierteste Liberale im Europaparlament ist schwer zu finden. Mit dem Fahrstuhl sechs Etagen hinauf, dann wieder eine halbe Treppe hinunter. Guy Verhofstadt, der Chef der liberalen ALDE-Fraktion, residiert im fünfeinhalbten Stock. Das Harry-Potter-Geschoss nennen es seine Mitarbeiter.
Ein EU-Kritiker, der mehr EU will
Verhofstadt würde seine Liberalen gern aus dem Zwischengeschoss hinausführen, zumindest, wenn man das Bild auf die Politik überträgt: aufschließen mit den dominanten Konservativen der EVP und den Sozialdemokraten, die in Europa unter dem Kürzel S&D firmieren.
"Wir sind die Alternative zu Nationalismus und Populismus, aber auch die Alternative zur veralteten Politik von EVP sowie S&D. Das sind im Moment die beiden großen Parteien. Und wenn es nicht gut läuft in Europa, nun, dann sind ja wohl sie dafür verantwortlich."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Leeres Label? Liberale Parteien in Europa.
Verhofstadt hat sich im EU-Parlament als einer der schärfsten Ankläger von Politikern wie Ungarns Regierungschef Viktor Orbán hervorgetan, die die EU angreifen und sich von der liberalen Demokratie abwenden. Der Belgier kriegt das Kunststück hin, die EU zu kritisieren und gleichzeitig mehr EU zu wollen, eine föderale Union, die Vereinigten Staaten von Europa.
"Wir wollen nicht die heutige EU, die sehen wir sehr kritisch, unserer Ansicht nach funktioniert sie nicht. Wir glauben, dass eine föderale Lösung die beste Antwort auf Europas Probleme ist, das ist für mich Teil liberalen Denkens im heutigen Europa."
Bündnis von "Progressiven und Proeuropäern" als Ziel
Verhofstadt schwebt ein möglichst breiter Zusammenschluss von "Progressiven und Proeuropäern" vor, wie ALDE-Politiker es heute gern sagen. Von Liberalen sprechen sie kaum noch. Das hängt auch damit zusammen, dass sie sich mit La République en Marche von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zusammenschließen wollen. Und in Frankreich steht der Begriff Liberalismus eher für entfesselten Kapitalismus als für Bürgerrechte und Freiheit.
Wie allerdings das Bündnis aussehen soll, weiß niemand so genau. Die Proteste der Gelbwesten in Frankreich haben die anfängliche Euphorie getrübt.
"Alles, was bislang klar ist: Wir werden nicht mehr den Namen ALDE verwenden. Wenn wir eine neue Gruppe schaffen, wird sie einen neuen Namen tragen."
Was bedeutet das für den Liberalismus in Europa?
"Ich bin ein Liberaler, der nicht an diese Idee glaubt, dass wir rechten und linken Liberalismus haben, klassischen und sozialen Liberalismus, für mich gibt es nur Liberalismus."
Mit einem alten Hasen gegen alten EU-Stil?
Verhofstadt sitzt zurückgelehnt auf einem roten Sofa vor einem Bücherregal. An der Wand vor seinem Schreibtisch hängt eine gerahmte Fotografie von Maurice Garin, dem Gewinner der ersten Tour de France von 1903.
"Yeah, that's a hero, he's the first winner."
Ein Held, sagt Verhofstadt, der selbst Rennrad fährt. Der nächste Sieg im Jahr darauf wurde Garin hingegen aberkannt. Es kam heraus, das er Abkürzungen genommen hatte und streckenweise sogar mit dem Zug gefahren war. Er war bekannt dafür, dass er gern Wein trank und viel rauchte. Ein Sportler alter Schule, wie er heute nicht mehr vorstellbar wäre.
Wie auch manch politisches Gebahren heute veraltet wirkt. Wenn Verhofstadt von der Politik des alten Stils in Europa spricht, die er nun ändern möchte, klingt es ein wenig kokett. Schließlich zählt er selbst zur Riege von EU-Granden wie etwa Kommissionschef Jean-Claude Juncker, die seit Jahrzehnten europäische Politik mitbestimmen. Einen Aufbruch stellt sich mancher in der ALDE-Fraktion zumindest personell anders vor.
Die neue Hoffnungsträgerin der EU-Liberalen
Ein paar Tage später auf dem Gendarmenmarkt in Berlin. Die proeuropäische Kampagne "Pulse of Europe" hat zur Demonstration gerufen und Verhofstadt soll ein paar Worte sprechen.
"All for the European cause", alles für die europäische Sache, sagt er. Vor ihm ist allerdings eine andere Rednerin dran: Margrethe Vestager, die EU-Kommissarin für Wettbewerb — und neue Hoffnungsträgerin der europäischen Liberalen. "Und nun die Frau, vor der sich Apple, Google und Co. fürchten."
Von der Treppe des Konzerthauses aus, flankiert vom französischen und deutschen Dom, schwört Vestager das Publikum darauf ein, Bürger Europas zu sein: "We take upon us the identity as citizens to make this Europe work."
Nach der Rede wird Vestager in der Menge immer wieder angesprochen. Menschen danken ihr fürs Kommen, beglückwünschen sie, zwei junge Frauen wollen ein Selfie machen. Die Dänin ist über die Grenzen ihres Landes hinaus bekannt und beliebt. Das haben bisher wenige EU-Politiker geschafft. Ihr Vorgehen und die Milliardenstrafen gegen Konzerne wie Google oder Apple etwa wegen Marktmissbrauchs und unerlaubter Steuerdeals sind populär.
"Ich würde immer eine Sozialliberale bleiben"
Viele Liberale würden Vestager gern zur nächsten Kommissionspräsidentin machen – auch ohne Mehrheit im Parlament. Vestager selbst sagt dazu nur, dass sie gern Kommissarin bliebe. In ihrer Position lasse sie Parteipolitik beiseite, sagt sie. Aber liberal zu sein, sei für sie ohnehin nicht zuerst die Parteizugehörigkeit.
"Für mich ist es eher eine Lebensweise als die Frage, ist es diese oder die andere Partei. Denn egal, wo sich meine Partei hinbewegt, ich würde immer eine Sozialliberale bleiben. Wenn man sieht, dass die Gegensätze in der Gesellschaft größer werden, dass die Reichen reicher werden und dass die Ärmeren davon nicht profitieren, dann haben wir eine Aufgabe, denn so sollte es nicht sein."
Wer künftig etwas zu sagen hat bei Europas Liberalen, dürfte auch einen Einfluss darauf haben, in welche Richtung sie sich bewegen.