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Liberale Positionen in der Kultur

Kultur sei kein Orchideenthema. Es gebe einen zwingenden Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Erfolg eines Landes, seiner kulturellen Vielfalt und geistigen Freiheit. Mit solchen Aussagen versucht sich die FDP in letzter Zeit aus der Opposition heraus auch in kulturpolitischen Fragen stärker zu positionieren. Zu ihren wesentlichen Forderungen gehören: Ein Kulturminister auf Bundesebene und Kultur zum Staatsziel zu erheben.

Moderation: Peter Lange |
    Lange: Herr Westerwelle, welches Buch haben Sie zuletzt gelesen? Was können Sie uns empfehlen?

    Westerwelle: Ich kann Ihnen viele Bücher empfehlen. Aktuell lese ich von Ulrich Tukur, einem Schauspieler, der wie man so schön sagt ‚das Schreiben versucht hat’. Aber in meinen Augen ist es ihm unheimlich gut gelungen, also nicht einer derer, die sich gerade plötzlich als Literat entdeckt haben. Ein Buch über Venedig oder venezianische Geschichten, sehr schön. Das Buch ‚Drachenläufer’ ist ein sehr schönes Buch, aber das ist vermutlich sehr weit schon bekannt. Es hat mich deshalb sehr fasziniert, weil ich dieses Jahr in Afghanistan zum ersten Mal gewesen bin. Es ist im Roman aufgearbeitet, was wir dort jeden Tag in den Nachrichten sehen, also auch mit dem historischen, geschichtlichen Hintergrund. Sehr beeindruckend.

    Lange: Welche Musik hören Sie zur Zeit?

    Westerwelle: Das wechselt sehr. Also, ich mag sehr gerne, wenn man in die klassische Musik hineingeht, italienische Opern, Verdi-Opern. Die sind ja mal zum Mitsingen gemacht worden. Und deswegen gefallen sie mir wahrscheinlich auch so gut.

    Lange: Sie können gut singen?

    Westerwelle: Nein. Überhaupt nicht. Aber ich will es mal so sagen, ich meine, Richard Strauß, Metamorphosen, am zweiten Advent, das ist schon harter Stoff, kann man nicht anders sagen. Da muss man schon in der Seele stabil sein, wenn man hier nicht abrutschen möchte. Ganz hervorragende wunderschöne Darbietung, finde ich.

    Lange: Sie kennen sich besonders mit bildender Kunst aus. Was haben Sie sich zuletzt angesehen?

    Westerwelle: Was habe ich mir zuletzt angesehen? Eigentlich sehe ich mir regelmäßig Ausstellungen an, und da ich ja ein bisschen auch Kunst sammle in ganz bescheidenem Maße, bin ich eigentlich bei fast jeder größeren Kunstmesse mindestens interessiert, oft sogar auch zu Gast. Da verbringe ich sehr viel Zeit damit. Das ist so meine Leidenschaft, dass ich mir bildende Kunst, zeitgenössische gegenständliche figurative deutsche Malerei ansehe und auch ein wenig sammle. Das ist so meine Freude.

    Lange: Sie sind ja nicht den absolut klassischen Bildungsweg gegangen. Wenn ich richtig informiert bin, waren Sie zunächst mal Realschüler, haben Mittlere Reife gemacht, sind dann auf die gymnasiale Oberstufe gewechselt. Wie haben Sie sich den Zugang zu Musik, zu Literatur und zu Kunst erarbeitet?

    Westerwelle: Erarbeitet beschreibt das sehr gut. Ich hatte das Glück, dass ich sehr gute Kunstlehrer gehabt habe. Ich habe erst auf der Realschule einen Künstler gehabt, der sich als Lehrer durchbrachte, weil er nicht – wie ich finde zu Unrecht – ausreichend anerkannt war. Er hat wunderschöne Kupferarbeiten gemacht. Und das hat er uns als Kindern weitergegeben. Auf der Realschule war ja Kunstunterricht, jedenfalls in den 70er Jahren, mehr eine Art Werkunterricht, weil man gesagt hat, also Jungs, die auf der Realschule sind, die sollen handwerklich da etwas hervorbringen, was bei mir meines Erachtens eine wirklich völlige Fehleinschätzung gewesen ist. Aber das künstlerische hat mich eben sehr begeistert. Und dieser Kunstlehrer hat das offensichtlich auch erkannt, dass mir das Handwerkliche fehlt, aber dass ich das Künstlerische doch sehe und auch mich dort versuchen kann. Und später in der Oberstufe auf dem Gymnasium, nachdem ich dann gewechselt bin nach der Mittleren Reife auf das Gymnasium, hatte ich einen Kunstlehrer – da war ich so 15, 16 Jahre alt –, der war ein Meisterschüler von Joseph Beuys. Und da kann man sich ungefähr vorstellen, für einen 15-, 16jährigen, da erschließt sich einem das Künstlerische bei Joseph Beuys nicht im ersten Augenblick. Heute wissen wir natürlich, dass das eine ganz große Person der Kunstgeschichte ist, der deutschen Kunstgeschichte, aber auch der internationalen Kunstgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ist. Und das ist etwas, was ich damit natürlich als Horizonterweiterung wirklich verstanden habe. Ich habe ein unglaubliches Glück gehabt mit meinen beiden Kunstlehrern. Eine Lateinlehrerin habe ich gehabt, der ich wirklich sehr viel zu verdanken habe. Nicht, dass ich jetzt wirklich Latein gelernt hätte, aber alles, was damit zusammenhängt, also die altsprachliche Bildung, das war bei mir erstes Abiturfach dann, weil ich so verrückt war, nach der Realschule Latein dann als Leistungskurs zum ersten Abiturfach zu machen – in meinen Augen eine Überreaktion auf die Tatsache, dass uns einiges an klassischer Bildung auf der Realschule nicht sofort vermittelt wurde. Und so habe ich eben, wenn wir über Metamorphosen reden, zum Beispiel Ovids Metamorphosen kennen gelernt, eines der tollsten Bücher meines Erachtens, das man überhaupt lesen kann. Ich habe es aber, gebe ich zu, in der lateinischen Fassung versucht und bin dann doch sehr schnell zu den Goldmann-Klassikern auf Deutsch gewechselt.

    Lange: Da werden Sie nicht der Einzige sein.

    Westerwelle: Nein, die Auflage von dem Buch ist ja auch hoch. Da kann man sich vorstellen, ich glaube, ganze Generationen von Lateinschülern haben die Goldmann-Klassiker zu Hause gelesen, um am nächsten Tag in der Prüfung nicht ganz abzustürzen.

    Lange: Wenn Sie das Schulwesen heute so insgesamt betrachten, ist es heute noch mehr Glücksache, dass man kulturelle Bildung vermittelt bekommt?

    Westerwelle: Ja, es ist einer der tragischen Defizite in unserem Land, dass wir meinen, bei allem Respekt vor naturwissenschaftlicher Bildung – das ist ja auch alles herausragend wichtig, damit wir uns da nicht missverstehen, auch gerade als Vorbereitung natürlich für den eigenen späteren Beruf. Aber Bildung ist ja, wie wir alle wissen, mehr als Broterwerb, sondern soll ja auch bilden. Es ist ja nicht nur das Ansammeln von Wissen, sondern soll ja bilden, also auch eine rundum gebildete Persönlichkeit hervorbringen. Und das wird meines Erachtens in Deutschland in den letzten Jahrzehnten, und das will ich gar nicht an einer politischen Richtung festmachen, um nicht missverstanden zu werden, das wird doch viel zu sehr vernachlässigt. Ein Beispiel: Wenn in manchen Bundesländern heute fast 80 Prozent des Musikunterrichts in der Grundschule ausfällt, ist das in meinen Augen für eine Kulturnation Deutschland eine schlichte Schande. Und ich glaube, wir hätten in der Bevölkerung einen Aufstand, würde Mathematik zu 80 Prozent ausfallen, oder Rechnen, Schreiben, Lesen ausfallen. Und ich glaube, wir müssen mal wieder begreifen, dass Kunst und Kultur eben zur Horizonterweiterung und damit auch zum gesamten Bestehen eines Lebens genau so dazu gehört, wie die klassischen Fertigkeiten, die man auf der Schule natürlich auch und zuerst lernen muss.

    Lange: Nun gibt es Stimmen, die sagen, dass dieser PISA-Prozess, dieses ewige Debattieren um Rankings rauf und runter, diesen Prozess vielleicht sogar noch verstärken könnte, die Fokussierung auf bestimmte Grundfähigkeiten, darauf, dass man eben diese Test besteht. Ist da was dran?

    Westerwelle: Nein, das glaube ich nicht. Das hoffe ich auch nicht. Ich glaube, es ist sehr gut, dass wir uns auch mit anderen Ländern vergleichen wollen. Jeder weiß, dass auch ein Vergleich zwischen Schulsystemen und Schülern immer hinken muss. Das kennen wir alle. Das kennen wir schon innerhalb von Deutschland, das ist ja nichts wirklich Ungewöhnliches. Aber dass man es versuchen muss, das ist richtig. Sonst entsteht ja auch nicht ein Wettbewerb. Man muss sich ja auch messen können. Ich habe vielleicht auch durch meinen schulischen Weg nie zu denen gehört, die Leistung in der Schule als eine Art Körperverletzung definiert haben, sondern ich finde, dass Leistung und auch Benotung etwas Positives ist. Heute erleben wir ja doch so gewisse kuschelpädagogische Züge, wo man den Eindruck hat, nur einem Kind in jedem Fall die Frustration der schlechten Note zu ersparen. Ich habe aus eigener Erkenntnis festgestellt, wenn man einem Kind das Misserfolgserlebnis der schlechten Note ersparen will, nimmt man ihm auch das Erfolgserlebnis der guten Note. Und dann wird man eher eine totale Mittelmäßigkeit ernten. Und das ist meines Erachtens nicht gut. Wir dürfen keine Scheu davor haben, selber die Besten sein zu wollen in der Welt. Und da ja Bildung und Geist das einzige ist, was wir wirklich als nennenswerte Reserve in Deutschland haben, sollten wir das auch stärker fördern als wir das bisher tun.

    Lange: Aber sehr oft ist es doch so, dass wenn von Bildung die Rede ist, Ausbildung gemeint wird, Ausbildung im Sinne von Vorbereitung auf eben einen bestimmten Arbeitsmarkt, Marktfähigkeit der Fähigkeiten, wobei dann die kulturelle Bildung gerne als ein Ballast gesehen wird, den man auch bleiben lassen kann.

    Westerwelle: Ja, bei vielen wird das als Ballast gesehen. Ich halte das für einen Fehler. Dieser Fehler schleicht sich ja auch in unseren täglichen Sprachgebrauch hier in diesem hohen Hause ein. Nehmen Sie ein Beispiel. Wenn Sie Zeitung lesen, lesen Sie zum Beispiel von Kultursubventionen. Kultur wird subventioniert. Was für eine Fehlleistung. Seit wann subventionieren wir den Geist? Also wenn, dann ist es eine Investition, aber keine Subvention im Sinne eines verlorenen, vergeblichen Zuschusses. Das ist nicht nur Aufgabe der Politik, das ist ja von uns allen, von der ganzen Bürgergesellschaft die Aufgabe, unseren eigenen Verstand und unsere eigene Sprache so zu schärfen, dass eben diese Entwicklung der schiefen Ebene umgekehrt werden kann.

    Lange: Gut, dann bleiben wir bei der Begrifflichkeit. Investition ist nach gängigen Definitionen alles, was Beton ist. Alles, was nicht Beton ist, ist keine Investition. Also auch fragwürdig?

    Westerwelle: Das ist ja auch keine ernst zu nehmende Definition, denn beispielsweise ist natürlich das Geld, das die Steuerzahler über die Politik ausgeben für Schulen, für Hochschulen, für Kindergärten, das sind doch keine Subventionen, das sind doch Investitionen. Ich meine, wer kommt auf die Idee, zu sagen, in Deutschland werden die Schulen subventioniert? Natürlich werden Schulen finanziert, in Schulen wird investiert. Und wenn man weiß, dass wir in Deutschland ja nichts anderes wirklich nennenswert haben außer dem, was zwischen unseren Ohren sitzt, dann sollten wir damit auch sorgsam und wertvoll umgehen.

    Lange: Wir haben in den letzten Jahren eine widersprüchliche Entwicklung. Einerseits heben wir hervor, Deutschland – Kulturstaat, Kulturnation, andererseits kulturelle Bildung verliert an Stellenwert. Es gibt viele Einzelaktionen. Jedes Kind soll mal ein Instrument lernen, andererseits gibt es keine richtige Nachhaltigkeit, also die Musikschulen sind vielerorts gefährdet, die Bibliotheken stehen oft vor der Schließung. Was ist da in den letzten Jahren schief gelaufen?

    Westerwelle: Die Wertigkeit. Das soll man nicht an einer bestimmten Konstellation oder einem bestimmten Abschnitt unserer Geschichte sehen, es ist einfach eine Wertigkeit. Man muss sich immer selber vor Augen führen, Politik gibt dafür Geld aus, was auch in der Breite unserer Bevölkerung mehr oder weniger als Priorität gesehen wird. Das mag nicht immer auf den ersten Blick so sein, aber über die Jahre ist das schon so. Und wenn über Jahre hinweg wir eine Phase erleben, dass Bildung nicht ernst genug genommen wird, drückt sich das im Haushaltsbuch der Politik aus. Umgekehrt, wenn andere Sachen besonders wichtig genommen werden, findet man das dann auch als Priorität in den Finanzen wieder. Die gesamte Finanzpolitik, alles, was mit Staatsfinanzen zu tun hat, ist nichts anderes als das Setzen von Prioritäten.

    Lange: Das heißt, die Kultur hat nicht die richtige Lobby? Nicht groß genug?

    Westerwelle: Hat in meinen Augen zu wenig Lobby, hat zu wenig Verbündete in der Gesellschaft gehabt, zu viel Geringschätzung. Es ist doch ganz selten, dass mal ein wirklich kulturelles Spitzenereignis es auf die Titelseiten unserer Zeitungen schafft. Das ist doch eher die Ausnahme. Das ist übrigens gar keine Kritik an den Medien, denn Medien drucken das auf die Titelseite, was sie glauben, was sich gut verkauft, was die Leser gerne haben und was die Leser gerne sehen möchten. Aber so richtige kulturelle Spitzenereignisse sind eher die Ausnahme. Es sei denn, Angela Merkel geht nach Bayreuth und hat ein neues Kleid an. Das finden wir dann auf den Titelseiten wieder. Aber das ist ja nicht das, was ich meine mit Priorität für Kunst und Kultur. Das ist ein nettes gesellschaftliches Ereignis, und das Kleid war bestimmt auch toll.

    Lange: Man sieht sie so selten im Kleid.

    Westerwelle: Meinen Sie mich oder Frau Merkel?

    Lange: Frau Merkel.

    Westerwelle: Das beruhigt mich ja.

    Westerwelle: Es geht mir nicht um die Ballrobe der Bundeskanzlerin, sondern es geht mir einfach darum, dass wir, glaube ich, anders als andere Länder der Kultur nicht genügend Stellenwert geben. Wir versuchen das ja als Liberale nun seit einiger Zeit auch zu einem Thema zu machen, immer wieder zu einem Thema zu machen, weil wir ja finden, dass auch Kultur keine Verschwendung von Zeit oder von Geld ist, sondern ganz im Gegenteil, eine ganz hervorragende Investition in sehr Wertvolles. Nehmen Sie beispielsweise die Diskussion – die natürlichen Lebensgrundlagen sind zu recht von unserer Verfassung geschützt, sie sind in unserer Verfassung als Staatsziel verankert. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen – übrigens im Zuge des Verfassungsprozesses nach der deutschen Einheit – ist von unserer Verfassung geschützt. Die kulturellen Lebensgrundlagen unseres Landes fehlen dort.

    Lange: Das heißt, Sie sind dafür, das auch ins Grundgesetz reinzuschreiben?

    Westerwelle: Ich bin sehr dafür, wir haben das ja als Initiative auch gestartet, unterstützen das auch. Wir wollen, dass der Schutz unserer Kultur, also Kultur als Staatsziel, genau so in der Verfassung verankert ist, wie wir andere Staatsziele in unserer Verfassung haben. Das heißt nicht, dass das von heute auf morgen alles gleich anders und besser wird, aber das heißt zumindestens mal, dass die Gewichte sich verschieben, dass, wenn Verfassungsgüter in der Politik oder vor Gericht miteinander in Konflikt geraten, dass dann eben die Kultur nicht immer den Kürzeren zieht, sondern dass sie eben auch wichtig genommen wird – auf gleicher Augenhöhe mit anderen Verfassungsgütern dann im Streit steht.

    Lange: Ein Versuch, die Kultur höher anzusiedeln, war ja, dass man einen Staatsminister im Kanzleramt installiert hat. Wir haben jetzt, glaube ich, inzwischen den vierten innerhalb von acht Jahren, Bernd Neumann. Finden Sie, dass der seine Aufgabe gut macht?

    Westerwelle: Ich habe nicht die Absicht, über einen amtierenden Kollegen heute an einem so schönen Vormittag hier Noten zu verteilen. Ich bin in der Opposition, Sie können sich vorstellen, dass ich mit der Regierung strukturell eher nicht einverstanden bin.

    Lange: Was würden Sie denn anders machen bei diesen Staatsministern?

    Westerwelle: Ich will gar nicht über ihn reden, sondern ich würde die ganze Konstruktion der Kultur auf Bundesebene verändern. Auch da wieder ein einfaches Beispiel: Natürlich haben wir einen Sportminister, das ist nämlich der Innenminister, der ist der Sportminister. Und der sitzt am Kabinettstisch. Und wenn es um Sport geht, dann hat dieser Mann, nämlich Wolfgang Schäuble, definitiv auch Autorität. Wenn der sich zu Wort meldet, können wir sicher sein: Der wird gehört. Das heißt nicht, dass man mit ihm einverstanden sein muss. Soll es ja auch sein, dass man auch unterschiedliche Meinungen hat. Aber wenn sich ein Innenminister zu Wort meldet und sagt: "Meine Damen und Herren, Kabinettskolleginnen und Kabinettskollegen – oder hier im Deutschen Bundestag –, das ist ja alles ganz richtig, was Sie sagen, aber Sie vergessen dabei die Belange des Sports." Da ist ein Anwalt des Sports mit höchster Autorität dabei. Jemand, der den Rang eines Staatssekretärs hat, der nur anders genannt wird, weil er im Kanzleramt sitzt, also aus der zweiten Reihe kommt, kann eine solche Autorität nicht entfalten. Ich bedaure es sehr, dass wir in Deutschland zwar einen Sportminister haben, aber keinen Kulturminister auf Bundesebene. Und ich weiß, dass wir föderalistisch organisiert sind, und ich habe auch gar nicht die Absicht, den Ländern da was wegzunehmen, ich möchte nur darauf aufmerksam machen: Die Kompetenz für Kultur ist auf Bundesebene ungefähr auf ein halbes Dutzend Ministerien verteilt. Wenn wir hier über Kulturpolitik sprechen, jedenfalls die, die sich für Kultur interessieren, wenn wir unsere Gedanken schweifen lassen in Europa: Uns allen fällt sofort Jacques Lang ein, der als französischer Kulturminister für den Film einfach Großartiges bewirkt hat. Der hat in Brüssel für den französischen Film und für die französische Kultur das Wort ergriffen. Da wusste man, der hatte einen unmittelbaren Zugang zum Staatspräsidenten, da wusste man, der ist auch in der Lage, ein Thema in der französischen Öffentlichkeit zu einem zentralen Thema zu machen – die französische Sprache, die französische Kultur, der französische Film. Und wir? Und das hat gar nichts mit unserem amtierenden Staatsminister zu tun, das ist ein bestimmt kompetenter Kollege. Aber ich glaube, wir sind uns einig: Wenn Herr Schäuble und Herr Neumann gemeinsam über einen Marktplatz gehen würden, dann würde jeder fragen: Wer ist der Mann neben Herrn Schäuble? Und das zeigt eigentlich die Unterbewertung von Kunst und Kultur.

    Lange: Sind wir da jetzt einen Schritt weiter, wird der nächste Staatsminister dann ein "richtiger" Minister werden? Die Ängste der Länder sind ja möglicherweise doch etwas abgebaut inzwischen.

    Westerwelle: Ich weiß nicht, ob die Länder Ängste haben, ich finde sie unangemessen. Ich meine, die Länder wollen ja von uns Geld haben. Sie können ja nichts dagegen haben, dass der Bund seine Kompetenzen auch bündeln möchte. Wir haben auswärtige Kulturpolitik, wir haben, wie wir alle wissen, die großen nationalen Stiftungen. Denken Sie auch an die Denkmäler, die großen historischen Bauten. Wir haben die Filmförderung, da geben wir ja Bundesmittel aus. Und in verschiedensten Ministerien – wir haben kulturelle Zuständigkeiten bis hin ins Entwicklungshilfeministerium. Und das, was ich als Ansatz richtig fände, ist, dass man das bündelt, dass die Kultur bei uns in Deutschland Ministerrang bekommt. Nicht, dass ich ein neues Ministerium schaffen möchte – ich möchte nur, dass ein Bundesminister die natürliche geborene Zuständigkeit hat für Kunst und Kultur. Und das wollen wir ändern, und ich glaube auch, dass so allmählich ein großer Teil in der Bevölkerung sieht, dass das notwendig ist. Und ich stelle fest, wir haben da immer mehr Verbündete.

    Lange: Die öffentliche Hand gibt pro Jahr ungefähr acht Milliarden Euro für Kulturförderung aus. Die Zahl hat der frühere Staatsminister Nida-Rümelin neulich genannt. Diese Summe ist über die Jahre nicht großartig erhöht worden, es ist eher durch Inflation leise ausgezehrt worden. Statt dessen kommen jetzt immer mehr private Geldgeber dazu. Wie ist da, wie sehr sollte sich die Wirtschaft in Kulturfragen engagieren? Wo ist da für Sie eine Möglichkeit und wo gibt’s eine Grenze?

    Westerwelle: Unbedingt, möglichst viel, immer mehr! Ich bin ein unbedingter Anhänger von Kulturstiftungen, von der Stiftungskultur in Deutschland. Wir haben eine unterentwickelte Stiftungskultur. Sobald man sich ins europäische Ausland begibt, weiß man, dass man dort richtige Stiftungen hat, und zwar ohne, dass man neidvoll darauf schaut. Welche Anfänge es bei uns in Deutschland gegeben hat – diese Schwierigkeiten. Ich komme selber aus dem Rheinland, bin aus Bonn. Also kenne ich natürlich als Bonner und als Rheinländer von Anfang an die Entstehungsgeschichte des berühmten Museums Ludwig. Und was war das für eine Diskussion, wie eitel! Der Mann hat zwar eine Kunstsammlung von ungefähr einer Milliarde seiner Stadt gestiftet, aber wollte dann eben, weil er dachte, das ist ein Stück Ewigkeit auch für mich und meine Familie – seine Frau und er haben ja als Schokoladenproduzenten sehr erfolgreich nach dem Krieg gearbeitet, haben eine riesige Kunstsammlung aufgebaut, und die wollten, dass das Museum ihren Namen trägt. Und sofort hieß es: Na, das ist ja furchtbar, das Kapital greift nach der Freiheit der Kunst. Da habe ich persönlich immer nur gedacht: Ja Mensch, wenn eine solche Kunstsammlung nicht mehr bei denen jetzt zu Hause im Keller aufbewahrt wird, sondern plötzlich für jeden Interessierten zu sehen ist, dann ist das doch etwas Wunderbares, etwas Herrliches. Ich bin der Meinung, wir sollten Stiftungskultur ausweiten und sollten gar nicht neidisch reagieren, wenn jemand ein großes Vermögen angesammelt hat, das er jetzt der Allgemeinheit zur Verfügung stellt, indem zum Beispiel seine Kunst gezeigt wird oder jemand einen Lehrstuhl persönlich bezahlt. Die Stiftungslehrstühle, das wissen wir aus anderen Ländern, sind oft die geistig unabhängigsten, weil sie nämlich nicht von irgendeiner Bürokratie abhängig sind, sondern weil sie richtig querdenken können. Die frechsten Ideen kommen oft von Stiftungslehrstühlen. Und so sind die ja auch angelehnt von ihren Stiftungen, dass quergedacht werden soll. Also ich finde, da sind wir in Deutschland noch sehr hinterher.

    Lange: Aber Sie sprechen jetzt ja im Grunde von einer Art von Mäzenatentum.

    Westerwelle: Aber das Mäzenatentum, Herr Lange, ist ja eine Sache, die eigentlich eine großartige Tradition hat.

    Lange: Was ist mit Sponsoring?

    Westerwelle: Ich bin dafür.

    Lange: In jeder Beziehung?

    Westerwelle: Ja, ich sage Ihnen das ganz offen. Wenn für das Deutsche Sinfonieorchester richtig etwas dabei herumspringt, dass die zum Beispiel in der Jugendförderung was machen können – von mir aus können sie eine Banderole hinhängen . . .

    Lange: Aber das Auto muss nicht hier stehen? . . .

    Westerwelle: . . . wo drauf steht: Kauft dieses Auto. Das ist mir persönlich völlig egal.

    Lange: Aber das Auto muss nicht auch noch hier stehen?

    Westerwelle: Nun, wir kriegen es ja hier nicht rein. Aber was sind Sie denn so empfindlich? Ich meine, glauben Sie wirklich, einer von den anwesenden Gästen hier – einige hundert Gäste, wenn die jetzt ein Auto stehen sehen würden, würden die in ihrer geistigen Wahlfreiheit, was Autos angeht, sich massiv bevormundet fühlen? Aber wenn dafür Geld zusammenkommt, zum Beispiel für die Ausbildung von ein paar Kindern für Violine, das wäre herrlich. Ich wäre dafür. Da sollten wir mal ein bisschen mehr Phantasie an den Tag legen. Ich meine, das ist nämlich das Problem dabei, also ich vermute, hier sind ganz viele dabei, die sind zum Beispiel im Freundeskreis eines Theaters oder eines Museums oder unterstützen dies in ihrem kleinen Bereich, wie das jeder irgendwo macht. Wissen Sie, was mich dann ärgert? Wenn dieser Freundeskreis für das Theater dann beispielsweise wirklich privat das Geld gesammelt hat, damit die Aufführung des Stückes so und so gelingen kann – und dann als nächste Antwort kommt dann der Finanzkämmerer und sagt: "Na ja, wenn Ihr privat so viel Geld gesammelt habt, dann braucht Ihr es ja nicht mehr aus dem Kulturhaushalt". Da möchte ich dann eher wegrennen. Das ist ja dann eher eine Bestrafung derjenigen, die Kultur fördern wollen.

    Lange: Aber das könnte ja auch ein Effekt von Sponsoring sein, dass das als Vorwand der öffentlichen Hand genommen wird, sich aus ihrer Verantwortung für Kultur herauszuziehen.

    Westerwelle: Ja, dann würde ich als Bürger und als Souverän den Politikern, die das dann tun, auf die Finger klopfen. Ich meine, Politiker können nur das, was der Wähler zulässt, wenn ich mal dezent darauf aufmerksam machen darf.

    Lange: Eine andere Gefahr, die häufig besprochen wird, ist, dass dann die Kultur sich verengt auf das absolut Marktgängige und die Randbereiche, die weniger interessanten, wegbleiben.

    Westerwelle: Oder wir kriegen vielleicht gerade Mittel frei für die schrägsten der schrägen Inszenierungen. Oder es wird genau so sein, wer sagt das denn? Ich meine, wir haben hier in Berlin eine Kulturlandschaft, die ist ja einmalig in der Welt. Und am Kurfürstendamm finden Sie private Theater. Ja gut, da wird jetzt nicht gerade . . .

    Lange: . . . Manna vom Himmel regnen . . .

    Westerwelle: . . . doch, da schon. Ich meine, die haben natürlich auch dann Stücke, die unterhaltsam sind. Das ist das kleine Boulevardtheater, da bin ich schon als Kind gewesen und habe Edith Hanke gehört, gesehen, und wie sie da ein tolles Stück aufgeführt hat. Aber ich glaube, nicht mal Edith Hanke ist sehr böse, wenn ich sage, dass das Stück "Scherenschnitt" in den siebziger Jahren, was sie da zur Freude aller Zuschauer aufgeführt hat, nicht jetzt im engsten Sinne klassischste so genannte Hochkultur gewesen ist, sondern es war unterhaltsam, es war schön. Und solche Theater braucht man genau so wie die schwierigen Inszenierungen. Wenn wir hier von der Kulturnation Deutschland sprechen, verwechseln viele das mit der Idee, es muss automatisch eine elitäre Hochkulturnation sein. Im Gegenteil: Kulturnation heißt nichts anderes als kulturelle Vielfalt. Und wenn wir Politiker anfangen, uns zum Geschmacksrichter zu erklären für irgendwelche Inszenierungen, dann sieht es übel aus für die Kunst und die Kultur.

    Lange: Herr Westerwelle, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.

    Westerwelle: Ihnen auch herzlichen Dank.


    Zu diesem Thema führte der Chefredakteur von Deutschlandradio Kultur, Peter Lange, mit dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden der FDP, Guido Westerwelle, in der gläsernen Kuppel des Berliner Reichstags ein Gespräch. In den Pausen einer Kammermusikreihe mit Mitgliedern des Deutschen Symphonie-Orchesters geht es dort regelmäßig um die Erörterung kulturpolitischer Perspektiven. Heute kamen im ersten Teil des Konzerts: Richard Strauss' "Metamorphosen" zur Darbietung.

    Das vollständige Gespräch mit Guido Westerwelle können Sie mindestens bis zum 9. April 2008 in unserem Audio-On-Demand-Player hören.