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Liberaler Islam
"Für moderne Muslime hat die Scharia gar keine Bedeutung mehr"

Muslime müssten den Mut haben, über bestimmte Teile des Korans zu sagen, "diese Sure ist nicht mehr gültig", sagte die Ex-Bundestagsabgeordnete und Buchautorin Lale Akgün im DLF. Die überwiegend konservativen Islamverbände in Deutschland kritisierte sie scharf – an deutsche Richter stellte sie klare Forderungen.

Lale Akgün im Gespräch mit Susanne Fritz |
    Portrait von Lale Akgün
    Politikerin, Autorin und Schauspielerin: Lale Akgün (dpa / XAMAX)
    Susanne Fritz: Frau Akgün, liberale Muslime sind in Deutschland in der Minderheit. Aber ihre Zahl wächst. Die ersten muslimischen Gemeinden entstanden. Wer gibt den liberalen Muslimen in Deutschland eine Stimme?
    Lale Akgün:. Liberale Muslime können Sie eigentlich überall antreffen. In der Wissenschaft haben wir inzwischen einige Vertreter. Ich erinnere an Professor Khorchide an der Universität Münster, an Professor Toprakyaran, Universität Tübingen. Ich erinnere an Lamya Kaddor, die jetzt ja auch bekannt ist, oder Rabea Müller, eine weibliche Imamin, hinter der Männer beten. Das sind ja schon, denke ich, ganz interessante Stimmen. Also, nicht ein Gesicht, sondern viele Stimmen.
    Fritz: Warum ist es Ihrer Ansicht nach wichtig, dass sich in Deutschland ein liberaler, moderner Islam etabliert?
    Akgün: Nun, wir müssen einfach sehen, dass Religion und Alltag miteinander verbunden werden müssen, wenn Menschen nicht an einem der beiden scheitern sollen. Wir brauchen natürlich einen Islam, der nicht nur mit dem Alltag der Menschen vereinbar ist, sondern auch mit der Rechtsstaatlichkeit, mit Menschenrechten, mit der Demokratie. Deswegen, denke ich, ist es ganz wichtig, dass Menschen, die sagen, ich bin Muslimin und Demokratin und Menschenrechtlerin, eine Chance haben, religiös zu sein und gleichzeitig auch alle die anderen Dinge zu leben. Das Ausschließen – entweder ich bin Muslimin oder Demokratin – passt nicht mehr in die Gesellschaft.
    Fritz: Wenn wir uns die religiösen Vorstellungen moderner Muslime anschauen, wie interpretieren liberale Muslime den Koran?
    Akgün: Ich glaube, das ist der wichtigste Knackpunkt. Liberale Muslime sagen, dass der Koran zwar auch Gottes Wort ist, aber Gottes Menschenwort - wie Abu Zaid, der berühmte ägyptische Theologe, das ja mal vor Jahren formuliert hat, weswegen er auch damals in Ägypten verfolgt wurde und in die Niederlande flüchten musste. Es heißt, dass die Suren insgesamt historisch-zeitlich interpretiert werden müssen. Und letztendlich muss daraus folgen, dass bestimmte Suren heute keine Gültigkeit mehr haben können, weil sie zeitlich begrenzte Suren waren. Also wenn in einer Sure steht, wenn deine Frau dir nicht gehorcht, dann ermahne sie, und wenn sie immer noch nicht gehorcht, denn schlage sie, dann kann diese Sure für uns heute keine Gültigkeit mehr haben. Dann reicht es nicht, das Wort 'schlagen' anders zu interpretieren, wie eben ‚streicheln‘ oder ‚nicht so schlimm schlagen‘; sondern wir müssen den Mut haben zu sagen: Diese Sure mag vor 1500 Jahren vielleicht noch möglich gewesen sein. Heute mit unserem Verständnis der Frauengleichberechtigung ist diese Sure nicht mehr gültig.
    "Für liberale Muslime sind Männer und Frauen gleichberechtigt, nicht nur gleichwertig"
    Fritz: Sie sagen, der liberale Islam interpretiert den Koran historisch-kritisch nach der historisch-kritischen Methode. Die wird ja bei der Auslegung der biblischen Texte schon seit dem 18. Jahrhundert angewendet und ist sehr verbreitet. Sie haben es gerade schon angedeutet. Welches Islamverständnis ist mit der historisch-kritischen Interpretation des Korans verbunden?
    Akgün: Ein Islamverständnis, das die spirituellen Gedanken stehen lässt, in den Vordergrund schiebt. Ein Islamverständnis, das die ethisch-moralischen Werte betont. Aber ein Islamverständnis, was von den Alltagsvorgaben und den gesetzlichen Vorgaben Abstand nimmt, weil – ich bin der Meinung – jede Religion, dazu zählt auch der Islam, hat die Aufgabe ethisch-moralische Maßstäbe zu setzen. Wie diese Maßstäbe ausgelegt werden, muss jede Zeit für sich entscheiden. Das, was vor 50 Jahren unmoralisch war, ist heute für uns moralisch. Was damals vielleicht moralisch war, ist heute für uns unmoralisch. Vor 1400 Jahren war es moralisch, Sklaven zu haben. Das ist heute für uns nicht mehr vorstellbar. Vor 50 Jahren hat man eine schwule Beziehung abgelehnt. Heute ist das für uns selbstverständlich. Und die ethisch-moralischen Maßstäbe sind eben in allen Religionen Gnade, Barmherzigkeit, den Schwachen zu helfen. All diese Dinge, die eigentlich jede Religion tragen sollte.
    Fritz: Im konservativen Islamverständnis ist die Frau dem Mann untergeordnet. Wie sieht der liberale Islam das Verhältnis der Geschlechter?
    Akgün: Da gibt es gar keine Diskussion – für liberale Muslime sind Männer und Frauen gleichberechtigt, nicht nur gleichwertig. Das ist die Aussage der Konservativen: Mann und Frau sind zwar gleichwert, aber nicht gleichberechtigt. Nein, da gibt es kein Vertun. Menschenrechte sind unteilbar, und sie gelten genauso für Frauen wie für Männer. Also ist natürlich eine völlige Gleichberechtigung von Männern und Frauen eine ganz wichtige Aussage, die den liberalen Islam prägt. Es kann nicht sein, dass die Frau einen Schritt hinter dem Mann her geht. Es kann nicht sein, dass die Frau sich verstecken muss, anders kleiden muss. Es kann doch nicht sein, dass ein Mann am Strand sich eine Badehose anzieht, sich ein Mann im Meer vergnügt, während die Frau sich in irgendwelche Anzüge reinzwängen muss, die dann vor den Augen strenger islamischer Gelehrter erst einmal bestehen müssen. Diese Ungleichberechtigung können wir gar nicht zulassen – das müssen wir nicht mehr diskutieren.
    Fritz: Bei vielen traditionell denkenden Muslimen spielt das islamische Recht – die Scharia – immer noch heute eine große Rolle. Welche Bedeutung hat die Scharia für moderne Muslime?
    Akgün: Gar keine mehr. Kann sie ja nicht haben. Schauen Sie, wir leben in einem Rechtsstaat. In einem Rechtsstaat setzt eben der Rechtsstaat den rechtlichen Rahmen. Das heißt, alle Bürger sind gleichberechtigt. Alle Bürger – egal welcher Religion, welcher ethnischer Herkunft, welcher Hautfarbe. Wenn Sie die Scharia nehmen als Grundlage irgendeiner rechtlichen Beurteilung, dann ist es natürlich immer so, dass das eine religiöse Beurteilung ist. Und nach der Scharia werden Muslime immer im Vorteil sein gegenüber "Nicht-Gläubigen", weil das letztendlich eine religiöse Geschichte ist. Und wir können heute keine religiösen Rechtsurteile mehr zulassen, schon gar nicht, weil unser Land immer pluraler wird. Also, in einem Land, in dem eben fast 40 Prozent sich zu gar keiner Konfession mehr bekennen – stellen Sie sich vor, jede Religionsgruppe würde nach ihrem Rechtsverständnis Recht sprechen wollen. Damit wäre der Rechtsstaat nicht mehr bindend für alle. Ich habe auch kein Verständnis dafür, wenn deutsche Richter Urteile fällen und sagen, ja – weil das ein Muslim ist, muss man das anders beurteilen. Das ist für mich eine Verletzung des rechtsstaatlichen Verständnisses. Man kann eben einen Muslim nicht anders beurteilen als einen Buddhisten, einen Juden oder einen Christen. Man muss die Menschen mit den gleichen Maßstäben messen. Deutsche Richter sollten erst gar nicht anfangen, sich als Pseudo-Scharia-Richter aufzuspielen, damit tun sie den Muslimen keinen Gefallen und führen den Rechtsstaat ad absurdum.
    "Ich kann doch sagen, ich halte das Zölibat für eine überholte Geschichte"
    Fritz: Wie wichtig ist Ihrer Ansicht nach grundsätzlich eine kritische Auseinandersetzung mit dem Islam?
    Akgün: Ich finde es ganz wichtig. Ich finde, wir müssen damit anfangen – gerade innermuslimisch – miteinander ganz stark zu diskutieren. Es kann nicht sein, dass eine Gruppe – in Deutschland leider im Moment die Konservativen – die Deutungshoheit über den Islam an sich reißt. Also, sie können nicht bestimmen, das ist der wahre Islam. Das hören oft die liberalen Muslime, dass ihnen gesagt wird, ah – ihr wollt einen 'Islam light', ihr wollt den Islam verändern, wir haben Deutungshoheit, wir sprechen für alle Muslime. Nein, das tun sie nicht. Die islamischen Verbände in Deutschland sprechen vielleicht für 10 Prozent der Muslime. Und da die meisten von ihnen, die auf den Funktionärsposten sitzen, nicht einmal Theologen sind, können sie eigentlich nur für sich selber sprechen – und gar nicht für andere Menschen. Wir brauchen erst einmal einen inner-islamischen Diskurs. Wir sollten uns da nicht mundtot machen lassen von bestimmten konservativen Vorstellungen. Und – was ich wichtig finde – auch Politik sollte sich nicht einmischen. Indem Politik den konservativen Verbänden jetzt bestimmte Rechte einräumt, mischt sich ja Politik in diesen inner-islamischen Diskurs ein und wird parteilich für den konservativen Islam. Die Folgen – die Folgen werden sein, dass der konservative Islam für die nächsten 100 Jahre in Deutschland festgeschrieben wird. Das möchte ich aber nicht. Ich möchte, dass wir miteinander trefflich streiten und auch eine Pluralität der Landschaft bekommen. Also, es gibt nicht den einen Islam in Deutschland, dessen Deutungshoheit bei den konservativen Verbandsfunktionären liegt. Wir haben eine plurale Landschaft, die muss auch plural abgebildet werden. Und dann muss ich auch das Recht haben, solche Verbände zu kritisieren. Auch andere haben das Recht, mich zu kritisieren. Und auch Nicht-Muslime haben das Recht, die Muslime zu kritisieren, genau wie ich das Recht habe, Katholiken zu kritisieren. Ich kann doch sagen, ich halte das Zölibat für eine überholte Geschichte.
    Fritz: Konservative Muslime reagieren oft mit Empörung auf Islamkritik, fühlen sich schnell in ihren religiösen Gefühlen verletzt. Ist der Großteil der Muslime zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Religion denn bereit?
    Akgün: Ich glaube: ja. Also, ich kann ja jetzt nicht für alle sprechen. Aber wenn ich die Empörung der Islamverbände bei bestimmten Fragen sehe und dann rede ich mit ganz normalen Menschen auf der Straße, da sehe ich, dass sie eigentlich viel gelassener sind und sich ganz anders mit den Dingen auseinandersetzen. Sie es der Karikaturenstreit, sei es eben, dass man den Muezzin-Ruf kritisiert – der Otto-Normal-Moslem, der geht damit viel lockerer um als die Verbände. Bei den Verbänden habe ich das Gefühl, die konservativen Verbände haben etwas von einem verbeamteten Denken: Das haben wir immer schon so gemacht. Aber das geht bei Religion nicht, Religion kann man nicht verbeamten.
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